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deutsch artikel (Interpretation und charakterisierung)

Kritik wedekinds an der schulischen erziehung


1. Drama
2. Liebe

Die Situation der Jugendlichen ist geprägt durch ein immenses Arbeitspensum. In den Gesprächen der Jungen kommt an einigen Stellen der Tragödie die Unmenge der zu erledigenden Hausaufgaben zur Sprache. So wird zum Beispiel gleich in der 2.Szene des Stückes die erdrückende Arbeitsfülle deutlich:
Ernst. Zentralamerika! - Ludwig der Fünfzehnte! - Sechzig Verse Homer! - Sieben Gleichungen!
Melchior. Verdammte Arbeiten!
Georg. Wenn nur wenigstens der lateinische Aufsatz nicht auf morgen wäre!
Moritz. An nichts kann man denken, ohne dass einem Arbeiten dazwischenkommen! (6/33 ff)
Man achte auf die vielen Ausrufezeichen, mit denen Wedekind die Last der Arbeiten aufzeigt, die die Jungen tragen. Auf Moritz' Beerdigung sagt Otto, er "muss auch büffeln die Nächte durch" (50/25), um sein schulisches Fortkommen zu gewährleisten und selbst Moritz hatte vergeblich versucht, seinen Erfolg herbeizuführen, indem er bis "kurz nach drei" (23/14f) oder gar "die ganze Nacht" (25/16) (durch-)arbeitet. Am oberen Zitat fällt auch auf, dass die Lerninhalte in ihrer Vielfalt und Bandbreite an Fachthemen zerstückelnd und aufgrund ihrer jugendfremden Thematik entfremdend auf die Jungen wirken. Wedekind zeigt als Folge der unumgänglichen Stoffmengen den Mangel an Freizeit auf. Die Jungen müssen ihr Spiel beenden, u.a. hinsichtlich der noch zu erledigenden Arbeiten (vgl. I/2). Es soll keine Zeit für Dummheiten bleiben; nur messbare Leistung ist gefragt. Themen und Fragen, die Jugendlichen unter den Nägeln brennen, erhalten keinen Platz im Lehrplan. Fragen zur Sexualität, Probleme der pubertären Psyche oder auch lebensnahe Aspekte der Adoleszenz kommen nicht zur Sprache, weil gesellschaftliche Tabus, die Lehrer, aber auch nicht zuletzt die große Klassenstärken es unmöglich machen. "Für Moritz reduziert sich schulisches Lernen auf das Prüfungsritual zum Zweck der Auslese." Die überfordernde Menge an zeitraubender Arbeit wird den Schülern jedoch nicht unüberlegt oder gar grundlos auferlegt: ihnen soll keine Zeit gelassen werden, über Themen nachzusinnen oder Aktivitäten nachzugehen, die ihrer Entwicklung zum korrekten Staatsbürger im Wege stünden. So auch umgekehrt ist es gar nicht möglich, sich Aspekten der erwachenden Sexualität zu widmen, denn, so fasst es Moritz zusammen: "um mit Erfolg büffeln zu können, muss [man] stumpfsinnig wie ein Ochse sein." (11/23f) Damit bezeichnet er "sehr genau die für die bürgerliche Persönlichkeitsstruktur charakteristische Dissoziation von Lust und Leistung." Die Fixiertheit auf die alten, lebensfremden Lerninhalte des humanistischen Gymnasiums prägen die Entwicklung und das Leben der Heranwachsenden derart, dass sogar ihre Gedanken und die Gespräche in ihrer Freizeit von metaphernreicher Sprache mit mythologischen Bildern untermalt sind.
Die Lehrer und insbesondere Rektor Sonnenstich erweisen sich in "Frühlings Erwachen" als brutal, gefühl- und herzlos. Eine kurze Erzählung Melchiors über eine Begegnung Hänschen Rilows mit dem Rektor verdeutlicht dies:
Heute Mittag kommt Hänschen Rilow von Trenks Totenbett zu Rektor Sonnenstich, um anzuzeigen, dass Trenk soeben in seiner Gegenwart gestorben sei. - "So?" sagt Sonnenstich, "hast du von letzter Woche her nicht noch zwei Stunden nachzusitzen? - Hier ist der Zettel an den Pedell. Mach, dass die Sache endlich ins reine kommt! Die ganze Klasse soll an der Beerdigung teilnehmen." (25/30 ff)

Sonnenstich lässt sich weder Mitleid noch Betroffenheit anmerken. Er reagiert mit einem beiläufigen "So?" absolut desinteressiert und betont seine unantastbare Machtstellung, indem er Hänschen seine noch offene Strafe anordnet. Er ist gar nicht im Stande adäquat zu reagieren. Mit seiner Reaktion weist Sonnenstich jede eventuell aufkommende Vermutung, er sei mitschuldig an dem durch "Nervenfieber" (25/30) herbeigeführten Tod des Schülers von sich. "Der Hinweis auf die Wegbereiter einer humanistischen, freien Erziehung, ,Pestalozzi und J.J. Rousseau' (43/3f), soll weiterhin auf die Verlogenheit dieser Lehranstalt hindeuten." Die verlogene Realität des Rektors stellt Wedekind in der Vernehmung des als am Tod Moritz' schuldig angesehenen Melchior Gabors bloß. Denn die Beweggründe des Rektors, in der Relegation eine harte Strafe zu verhängen, beruhen nicht auf der Überzeugung, Melchiors Aufklärungsschrift hätte Moritz in den Tod getrieben. Er vertritt diese Meinung zwar äußerlich, innerlich weiß er aber sehr wohl, dass diese These nicht beweisbar ist. Melchiors Rechtfertigungsansatz "Ich habe ..." (46/13, 25, 34; 47/23, 32, 35) wird sechs mal übergangen. Wäre er sich der Rechtschaffenheit seines Handelns sicher, könnte sich Sonnenstich Melchiors Erklärungsversuche durchaus anhören. Der wahre Grund für die Verweisung Melchiors von der Anstalt liegt allerdings ganz wo anders: Sonnenstich fürchtet sich vor dem "erschütternsten Schlage" (44/39f), dass seine Anstalt "von einem hohen Kultusministerium suspendiert" (44/38f) werden könnte, da es für das "hereingebrochene Unglück verantwortlich" (44/34f) zu machen sei. Frau Gabor erkennt ganz richtig die Perfidie, dass ein "Sündenbock" (51/31) gefunden werden musste, um die "überall lautwerdenden Anschuldigungen" (51/32) zum Schweigen zu bringen. Den Gipfel erreicht das Plädoyer Sonnenstichs für eine Verweisung Gabors darin, dass er sich und die Lehrerkonferenz als "die Schuldlosen" (45/10) bezeichnet, und sie damit von jedem Verdacht einer Mitschuld am geschehenen Selbstmord zu befreien sucht.
"Der Streit um das Öffnen eines Fensters im Lehrerzimmer ist nicht allein von situationskomischer Bedeutung, sondern zeigt das verstaubte Klima einer bürokratischen Institution und die Realitätsblindheit der Gymnasialprofessoren."

Ohne die Lehrer sprechen zu lassen, deklariert Wedekind auch sie für mitschuldig an der ungerechten Strafe, eben gerade weil er keinen Einzigen dem Rektor widersprechen lässt. Zum Ausdruck gebracht wird hier am Beispiel der Lehrer die Hörigkeit, mit der sie sich dem Vorgesetzten fügen. Die Tugend absoluten Gehorsams wurde als entscheidende für den Erhalt des Staates erachtet, und insofern ist es nicht verwunderlich, dass Untertänigkeit und Anpassungsfähigkeit auch den Schülern auferlegt wurden. Die Szene, in der Melchior der Lehrerkonferenz vorgeführt wird, beweist, dass die Meinung des Schülers, kein Gehör findet. Er wird dazu genötigt, sich unterzuordnen, und seine Schuld kritiklos anzuerkennen. Dieses Erziehungsziel war ein Instrument autoritärer Selbsterhaltung, denn Offenheit und Achtung gegenüber der Meinung des Schülers hätte die Gefahr herauf beschworen, in all der Verlogenheit entlarvt zu werden.
Fasst man die Kritikpunkte des Autors an den Erziehungsnormen der Bildungsstätten zusammen - Überforderung durch lebensfremde Stofffülle, Erziehung zum blinden Gehorsam, herzlose Strenge im Umgang mit den Schülern - und vergleicht sie mit den erklärten obersten Zielen der Gymnasien jener Zeit - "wahres Menschentum, Kraft des Geistes, Sinn für Wahrheit, allseitige Ausbildung der menschlichen Kräfte" - ist festzuhalten, dass eine große Kluft zwischen Wirklichkeit und Wunschzustand bestand. Im Bild der Lehranstalten des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wie es Wedekind kritisch zeichnet, brechen unversöhnliche Widersprüche auf: "Wahres Menschentum" ist nicht erreichbar, wenn die Sexualität als entscheidender Teil des Menschseins ausgeklammert bleibt; die "Kraft des Geistes" wo man die Schüler zu stumpfsinnigem Rezipieren anstatt zu selbstständigem Denken anhält; den "Sinn für Wahrheit" korrumpiert eine verlogenen Gesellschaft, die ihre heimlichen Schandtaten verschleiert; die "allseitige Ausbildung der menschlichen Kräfte" muss ohne Zeit für sportliche Betätigungen reines Wunschdenken bleiben:

 
 

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