Interpretation
Der \"Prolog im Himmel\" (1798 entstanden) ist nicht nur - wie die \"Zueignung\" und das \"Vorspiel auf dem Theater\" - der Handlung vorangestellt, sondern er gehört unmittelbar zum Werk und bildet den gedankenreichen Auftakt der Welt-Dichtung. Im Dialog zwischen Gott und Mephisto treten sich zwei verschiedenartige Anschauungen über die Welt und den Menschen gegenüber: Mephisto meint, der Mensch sei mißraten, während Gott glaubt, der Mensch sei ein vernunftbegabtes Wesen, das sich zwar irren könne, aber doch nach dem Guten strebe. Da sie sich nicht einigen können, schließen sie, um ihre Ansicht zu beweisen, eine Wette ab, deren Gegenstand der Wissenschaftler und Lehrer Faust ist.
Teil 1: Zu Beginn seiner Dichtung hat Goethe die Erkenntnis-Tragödie des modernen Menschen gestaltet, der bohrend nach Sinn und Zweck des Lebens und der Welt forscht. Mit Hilfe dämonischer Mächte und zuletzt des Teufels, dessen Beschwörung Faust mit den Mitteln der Magie gelingt, versucht er Antwort auf seine Fragen zu erlangen. - In Faust und Mephisto hat der Dichter die Dialektik des Guten und des Bösen symbolisiert, das fortwährende Ringen beider Prinzipien, die den Weg des einzelnen wie auch der Menschheitsgeschichte bestimmen. Faust schließt mit Mephisto einen Wettpakt, der ihm die Erkenntnisse vermitteln, aber auch alle Wünsche erfüllen soll, nach denen er so giert. Faust geht bei Abschluß des Paktes, der mit Blut besiegelt wird, von der Meinung aus, daß sein Streben nicht nachlassen werde, während Mephisto glaubt, wenn Faust sein Ziel erreicht habe, dann werde er sich \"auf das Faulbett\" legen und seinen höchsten Augenblick genießen. Da Faust ein Ruhe- und Rastloser ist, der immer vorwärts strebt, hat Mephisto keine leichte Aufgabe. Mit den Worten \"Wir sehn die kleine, dann die große Welt\" beginnt die Weltfahrt und der Kampf zwischen den beiden Prinzipien. Zunächst führt Mephisto den Gelehrten Faust in die Niederungen des Sinnengenusses, in die Welt der Studentenulks, wie die bekannte Szene in \"Auerbachs Keller\" zeigt. Doch angewidert verläßt Faust nur zu bald das banale Vergnügen, und nun hält Mephisto ein Liebesabenteuer für ihn bereit.
Die nun folgende \"Gretchen-Tragödie\", in der Goethe das uralte Thema eines verführten und dann verlassenen jungen Mädchens ergreifend gestaltet, ist, trotz ihres Umfanges, kein selbständiges Drama, sondern nur eine, wenn auch wichtige Etappe in Fausts Entwicklung. Faust ist, um das unschuldige Gretchen für sich gewinnen zu können, auf die teuflische Hilfe angewiesen. Doch er erliegt nicht, wie es Mephisto erhoffte, der Atmosphäre des kleinstädtisch-behaglichen Lebens und dem Zauber der Liebe, Faust stürmt weiter, wenn nun auch ein zerbrochenes Menschenschicksal an seinem Wege liegt und er von Schuld gequält wird.
Teil 2: Faust und Mephisto - sie sind nun in der \"großen Welt\" - verweilen am Hofe des Kaisers, wo man sich dem Lebensgenuß ergibt, obwohl Krieg das Land bedrückt und Geldmangel herrscht. Faust wird von der gelangweilten Hofgesellschaft gebeten, das schönste menschliche Paar, nämlich Paris und Helena, herbeizuzaubern. Da ihn selbst bei ihrem Anblick die Sehnsucht nach der Schönheit überwältigt, begibt er sich mit Mephisto und dem in der Retorte hergestellten Kunst-Menschlein Homunkulus nach Griechenland zur \"klassischen Walpurgisnacht\" - dem Gegenbild zur düsteren Walpurgisnacht des Harzes im 1. Teil der Dichtung. Eine Unzahl von Fabelwesen und Gottheiten kreuzen den Weg der drei Reisenden, die in den Felsbuchten des Ägäischen Meeres eine Apotheose des Eros miterleben, die Geburt der Diana aus dem Wasser.
Der Helena-Akt (3. Akt) ist das kühnste an dichterischer Phantasie. Hier begegnen sich nun Faust und Helena, und in ihrer Vermählung symbolisiert sich die Verbindung zweier verwandter, aber durch Jahrtausende getrennter Kulturen, der griechisch-antiken und der mittelalterlich-abendländischen Kultur. Beider Sohn Euphorion, zugleich ein Sinnbild der Poesie, fliegt zu den Sternen und veranschaulicht mit seinem plötzlichen Tode die Unmöglichkeit des Bundes. Mit dem Tode Euphorions löst sich Faust von Helena, um sich neuen Aufgaben zuzuwenden.
Nachdem ihn Mephisto in die Wirren eines Bürgerkrieges in Deutschland hineingezogen hat, beginnt er seine eigentliche Aufgabe zu sehen. Das vom Kaiser zum Lehen erhaltene Land, nun gegen die Sturmfluten des Meeres geschützt, hat Faust mit Hilfe des Teufels in fruchtbares Land verwandelt. Immer stärker beherrscht Faust das Werk, die Tat, die sumpfigen Stellen am Gebirge zu entwässern. Er hofft, hier für die Mitmenschen und die Enkel ein Gebiet zu schaffen, in dem sie \"nicht sicher zwar, doch tätig-frei\" wohnen können. Faust beherrscht die Vision eines kommenden Menschenglückes, dabei vermag er nicht zu sehen, daß Mephisto und seine Diener auf sein Ende warten; denn seine Worte \"im Vorgefühl von solchem hohen Glück genieß ich jetzt den höchsten Augenblick\" sind für den Teufel die Einlösung des Wettpaktes, so daß er berechtigt ist, Faust zu töten.
In der letzten Szene der Dichtung, \"Bergschluchten\", die als ein großer weltumspannender Hymnus auf die Liebe verstanden sein will, wird Faustens Seele stufenweise nach oben, der Mater gloriosa, zugetragen. Zu dem Chor der Engel \"Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen\", sagte Goethe: \"In diesen Versen ist der Schlüssel zu Fausts Rettung enthalten.\"
Zusammenfassung
Die Faust-Dichtung ist eine optimistische Tragödie, die Parallelen zur gleichzeitig entstandenen, idealistischen Philosophie Hegels aufweist. Goethe hat immer wieder betont, daß er keine Philosophie hat geben wollen, sondern eine Dichtung, die Anschaulichkeit und Schönheit vereinigt. Einmalig ist die Sprachkunst, die sich in jeder Verszeile offenbart, und Goethe, ein Meister des Wortes, hat das Schwer-Deutbare in großartigen Vergleichen und Bildern anschaulich gemacht. Daß die Dichtung nicht leicht verständlich ist (und sich im II. Teil der Realisierung im Theater fast entzieht), liegt darin begründet, daß das Werk, fast wie ein Schwamm, alles aufsog, womit sich sein Verfasser beschäftigte: sein universales Wissen, die große Kenntnis der Antike, seine Stellung zu literarischen Fragen, seine Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften, die Stellung zur französischen Revolution und zur Politik allgemein, - dies alles, und noch vieles mehr, ist im Faust offen oder versteckt zu finden.
|