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deutsch artikel (Interpretation und charakterisierung)

Hier liegen - elftausendneunhundertdreiundsiebzig tote erschlagen von den eingeborenen dieses landes willkommen in moor


1. Drama
2. Liebe

Außerdem ist das Buch eine Anprangerung der USA als Weltmacht und Weltpolizei. Der Weltkrieg ist nämlich erst zu Ende, als Amerika die ganze Welt unterworfen hat, zuletzt Japan mit Hilfe der Atombombe: \"... Nagoya, (...) plötzlich verschwanden die festliche Stadt und ihr Hafen unter einer Sonne, die auf- und in einer Wolkensäule gleich wieder unterging, in einem ungeheuren Pilz unterging, der sich aus der Tiefe der Erde in den Himmel entrollte, den Himmel zerriss und hinauszuragen schien bis in die Schwärze des Alls ... Die Wand verdunkelte sich und zeigte, als sie wieder aufflackerte, das Meer in Flammen, eine Küste aus Kohle: schwarze Baumstrünke, dahinter keine Ruinen, nur Grundmauern, Fundamente bis an den Horizont. Schwarze Kranarme, die verlorenen Schaufeln eines Windrades oder einer Turbine, eine Statue - metallener Gott oder Feldherr - halb in den schwarzen Schutt geschmolzen, zerronnen. Nirgendwo Menschen.(...) Der Sprecher verlas Namen und Zahlen(...): die Sprengkraft der Bombe in Megatonnen. Die geschätzte Zahl der Toten. Die Zahl der zersträubten Häuser. Die Temperatur der verkohlten Erde. (Seiten 326 - 328.) Nagoya werde von nun an der Name für den größten Feuersturm der Kriegsgeschichte sein. Der Kaiser von Japan habe seinen Palast verlassen. Begleitet von seinen geschlagenen Generälen sei er an Bord des Schlachtschiffes USS Missouri gekommen. Dort habe er sich lange und stumm verbeugt und dann die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet. Nach mehr als zwanzig Kriegsjahren die bedingungslose Kapitulation!...\" (Seite 321) \"... Sie haben alle geschlagen. (...) Sie haben gesiegt!...\"(Seite 328)

Fabel:
Kurz bevor der Weltkrieg wenigstens in Europa durch den Frieden von Oranienburg beendet wird, greift eine Bombenflotte den Bade- und Kurort Moor an. Die Schmiedin rettet sich in einen Weinkeller und gebiert um mehrere Wochen zu früh ihren zweiten Sohn: Bering. Seltsamerweise ahmt er die Laute der drei aus dem Keller geretteten Hennen nach. Er scheint über ein außergewöhnliches Gehör zu verfügen. Nach dem Krieg kommen verschiedene Befreiungssoldaten aus allen Herren Länder in das Gebiet von Moor. Die letzten sind die Amerikaner rund um den Major Elliot aus Oklahoma, der rigoros den im Friedensplan des Richters und Gelehrten Porter Stellamour vorgesehenen Demontagen durchführt. Viermal im Jahr veranstaltet Major Elliot im Steinbruch von Moor eine sogenannte \"Stellamour Party\"! \"Niemals vergessen\" und \"Du sollst nicht töten\" mahnen Transparente. Nachdem die Gegend immer mehr zurück in die Steinzeit verfällt, suchen Banden, die Schutzgelder erpressen und Brände legen, Moor heim. Während Berings Vater säuft und nur noch in der Erinnerung an den Wüstenkrieg in Libyen lebt, kümmert sich die Mutter nicht mehr um irdische Angelegenheiten, sondern betet unaufhörlich zu Maria, von der sie glaubt, dass sie ihr erschienen sei. Der junge Schmied, und letztlich der einzige Erbe, schleppt allen Schrott, den er kriegen kann, auf den Schmiedhügel.
Eines Tages sieht er, wie Ambras, der Verwalter des Steinbruchs, das Auto, welches ihm der in die USA zurückgekehrte Major Elliott hinterlassen hat, kaputt fährt und repariert es. Bering, der keine passenden Ersatzteile findet, schmiedet welche zurecht, sodass er dem Auto am Ende das Aussehen eines Vogels, einer \"Krähe\" verleiht.
Ambras war früher Fotograf. Er verliebt sich in eine junge Frau. Eines Tages kommen Schergen des Regimes, finden das Paar nackt im Bett, schlagen mit Knüppeln zu und schreien ihn an: \"Herr Ambras liegt neben einer Judenhure!\" und \"Du Arschloch fickst mit einer Judensau!\" Das Mädchen darf noch eines der herumliegenden Kleider, jedoch keine Schuhe, anziehen, bevor sie abtransportiert wird. \"Judenhuren gehen barfuß!\", heißt es. Ambras hört niemals mehr etwas von diesem Mädchen. Er selbst wird zur Zwangsarbeit im Steinbruch von Moor verdonnert. Und erlebt dort schlimmste Peinigungen!
Neun Jahre nach der Befreiung kehrt Ambras nach Moor zurück und wird von Major Elliot als Verwalter des Granitbruchs eingesetzt. Er bewohnt die Villa Flora. Den Park der Villa beherrscht ein Rudel wilder Hunde, und niemand wagt sich dorthin, bis auf Ambras, der zwei Hunde, die ihn anfallen, mit seinen bloßen Händen tötet und sich auf diese Weise unter den anderen Tieren Respekt verschafft. Deshalb nennen ihn die Leute von Moor auch \"Hundekönig\". Neben einen Fischer war auch Bering zufällig in der Nähe, als Ambras die Hunde bezwingt.
Hin und wieder taucht Lily, die \"Brasilianerin\" in der Villa Flora auf. Sie kommt als fünfjähriges Mädchen von Wien nach Moor. Ehemalige Zwangsarbeiter erkennen ihren Vater als einen Schergen des Regimes, als einen, der in schwarzen Uniformen an den Bahnsteigen des Lagers stand. Sie schlagen ihn zusammen und hängen ihn an den Füßen nach oben auf. Jetzt wohnt sie alleine im Wetterturm des zerstörten Strandbades. Sie wandert als Schmugglerin und einzige Grenzgängerin der Region über einsame Bergpfade bis ins benachbarte Tiefland. Wenn sie bei ihren Wanderungen Veteranen oder Glatzköpfe trifft, legt sie ihr Scharfschützengewehr an, und macht sich auf die Jagd nach ihnen.
Während eines Rockkonzertes geraten Lily und Bering in einen Begeisterungstaumel und küssen sich. Später findet Lily in den Gebirgen Berings völlig zerstörten Vater. Er glaubt im Wüstenkrieg zu sein. Mit Hilfe seines Sohnes bringt sie ihn ins Tiefland, in das große Lazarett der Stadt Brand. Als sie unterwegs auf zwei Hühnerdiebe treffen, die sich die lebend gefesselten Tiere wie eine Stola umgebunden haben, damit das Fleisch frisch bleibt, rastet der \"Leibwächter\" aus, entnimmt der Brasilianerin das Gewehr und erschießt einen von ihnen. Damit ist die Beziehung zwischen Lily und Bering entgültig zu Ende. In Brand angekommen, erfahren sie, dass die Amerikaner über Nagoya eine Atombombe gezündet haben und der Weltkrieg jetzt endlich, im 3. Jahrzehnt, zu Ende ist. \"Amerika hat gesiegt.\"
Weil der Vogelmensch Lily erklärt hat, dass er befürchte blind zu werden, begleitet sie ihn auch in ein Lazarett.
Als sich der weitere Abbau des Steinbruchs nicht mehr lohnt, beschließt die Besatzungsmacht am See ein Truppenübungsgelände anzulegen. Die technischen Anlagen vom Steinbruch werden abgetragen und nach Brasilien verschifft. Ambras, Lily und Bering begleiten den Transport. In Brasilien werden sie von einer Frau namens Muyra empfangen. Bering verliebt sich sofort ihn sie. Die einzige Erkenntnis die sie in Brasilien haben ist die, dass der Steinbruch genauso wie in Moor aussieht. Als sie über der verlassenen Hundeinsel Rauch sehen, werden sie auf die ehemalige Gefangeneninsel hinüber geschifft. Lily fährt mit dem Fischerboot zurück ans Festland während Ambras, Bering und Muyra auf der Insel umkommen.

7. Tektonik:

7.1. Äußerer Aufbau
Morbus Kitahara ist gegliedert in 34 Kapitel. Die Geschichte beginnt mit dem Tod dreier Personen auf einer unbewohnten Inseln (Kapitel 1). Ist dann jedoch fast ausschließlich ein raffender Bericht über das Leben unseres Helden Bering - von der Geburt in den letzten Kriegstagen bis hin zum Tod in Brasilien.
Die szenischen Darstellungen sind dabei die wichtigsten Teile und bilden das Grundgerüst. Sie weisen im Hinblick auf die Figuren, den Schauplatz und die Zeitgestaltung eine deutliche Einheitlichkeit auf. Abgegrenzt in allen Fällen durch den Beginn eines neuen Kapitels. (Das Leben und Sterben Berings wird also in 34 Kapitel/Szenen dargestellt.) So stellt jedes Kapitel eine eigene szenische Darstellung dar, manchmal zeitlich und örtlich direkt am vorhergehendem anknüpfend, manchmal mit einem Wechsel des Schauplatzes oder gar mit einem Zeitsprung von mehreren Jahren einher gehend.


7.2. Innerer Aufbau
Die geistige und moralische Entwicklung, bzw. der Grund des Handelns bleibt manchmal dem Leser unbekannt (Beispiel: Warum wird Ambras, Gefangener im KZ, gefoltert im Steinbruch, nach dem Krieg dessen Verwalter?). Anderseits ist die seelische Entwicklung der Figuren untereinander völlig offen. So weiß zB. Lily nicht, warum Bering auf die Hühnerdiebe schießt, es weiß nur der Leser: \"... Bering will - er kann die Hühnerdiebe nicht entkommen lassen (...) Er will die Hühner flattern sehen und ihre Stimmen hören (...) (Seite 310) \"... Bering ein fliegender unter gefangenen Vögeln, schien die Hühner zu lieben - und hielt sogar manchmal in seinen verzweifelten Schreien inne, wenn eines der Tiere plötzlich zuckend und blinzend seine Stimmer erhob ... (Seite 19)
Auch wenn unter den Akteuren viel geredet wird, so geben sie selten etwas über ihr Innenleben oder über ihre Gefühle kund. Und dadurch spitzt sich die äußere Handlung immer weiter zu, die schlussendlich für die Hauptakteure mit dem Tod endet.


8. Sprachliche Realisierung
Nicht umsonst wird Ransmayrs sprachliches Geschick von allen Seiten in höchsten Tönen gelobt. Geschickt versteht er es Rückblick, Tempuswechsel, Verwendung von Metaphern und Symbolen, Eröffnung einer Multiperspektivität auf ein und denselben Tatbestand zu einem kunstvoll geformten Ganzen zu vereinen. Die Geschichte wird erzählt von einem neutralen Erzähler der alles weiß.
Als Beispiel jene Begebenheit als Moor auf ein neues Schiff wartet, aber nur Vermutungen auftauchen, woher es kommt:
\"... In den (...) Dörfern hieße es, dieser Dampfer sei das Geschenk einer Werft in Istrien\" (Seite 62)
\"... Der Sekretär von Moor (...) wusste es freilich besser, (...) dass dieses Schiff kein Geschenk, (...) sondern bloß Schrott war, (...) dem Meer entzogener Schrott der adriatischen Küstenschifffahrt.\"(Seite 62 f)
\"... Am Ende (...) umständlicher Verhandlungen hatte das Oberkommando (...) eine Lieferung grünen Granits an die Adria bewilligt - und von dort schaukelte nun dieser Dampfer als das Kernstück des ausgehandelten Gegenwerts nach Moor zurück. ...\" (Seite 64)
Bilder und Symbole weisen auf Kommendes hin. Ereignisse werden sinnbildlich dargestellt. Es scheint fast, der Autor steht oben auf dem Himalaja und beobachtet die Welt und der Leser steht daneben und schaut zu. Und manchmal, wenn der Erzähler glaubt, der Leser könnte etwas nicht verstehen oder über eine wichtige Textpassage darüber lesen, so schreibt er sie kursiv. Es ist fast so, dass der Leser darüber stolpern muss.
Christoph Ransmayr beherrscht die mythisierende Sprache, der Text ist eine \"sprachliche Verwunderung\"! Ein gutes Beispiel dafür ist jener Absatz, wo Bering seine ersten Schüsse abfeuert: \"... Obwohl sein Fluchtweg vom Appellplatz hinauf zur Schmiede Hunderte Meter lang, von Schlaglöchern übersät und dunkel war, erinnerte sich Bering später an diese Strecke wie an einen einzigen Sprung aus der Wehrlosigkeit in die Allmacht eines Bewaffneten. Das Gestrüpp des Appellplatzes fliegt unter ihm dahin, über die Fallen der Schlaglöcher setzt er so sicher wie ein flüchtendes Tier hinweg. Aber er stürzt nicht auf die Schmiede, nicht auf ein Versteck, einen Bau zu, sondern allein auf die Waffe.
Als Bering den Hof, das Stiegenhaus, die Treppe zum Dachboden erreicht, hört er auf den Bohlen schon das Trampeln seines Verfolgers, das Keuchen, die schweren Schuhe der Kumpane. Weiter! Die Treppe hinauf! Und endlich, nach Luft ringend, nach Luft schreiend, Lichtbögen tanzen ihm vor den Augen, hat er die eiserne Kamintür erreicht, schlägt den Riegel zurück, schnappt nach dem Pendel des Leinensacks. Dann fällt ein Öltuch in die Finsternis.
Jetzt hält er die Pistole in der Hand. Wie seltsam leicht, federleicht sie in diesem Augenblick ist. Bei seinen geheimen Spielen mit ihrer Mechanik war sie ihm stets schwer wie ein Hammer in der Faust gelegen.(...) Der erste Schuss schlägt Bering den Arm hoch, als hätte ihn die Kette, sie klirrt in der Nacht davon, tatsächlich getroffen. Das Krachen reißt an seinem Trommelfell, dringt ihm tief in den Kopf und schmerzt, wie noch kein Laut geschmerzt hat. Der Blitz des Mündungsfeuers erlischt, ist schon vor einer Ewigkeit erloschen, und immer noch sieht er das nachleuchtende Gesicht seines Feindes, den aufgerissenen Mund, eine sprachlose Verwunderung.\" (Seite 56 f)
Bei Christoph Ransmayr stinkt jede Zeile nach Verwesung, Verderben, Niedergang, Korrosion, Dunkelheit. Es ist nicht nur die Fabel, die beeindruckt, sondern die neuartigen Wort- und die eigenwilligen Satzkonstruktionen sowie die aus dem Rahmen fallenden Umschreibungen.


9. Intention des Autors
In den nachgestellten Bildern der Stellamour - Parties wird uns der Schrecken des 2. Weltkrieges und insbesondere der Schrecken von Mauthausen bzw. seinem Nebenlager Ebensee vor Augen geführt. Und auch wenn uns die Besatzer, die Friedensbringer, die Aufarbeitung des Geschehen vor Augen führen wollen, so bleiben wir blind vor dem was war. Und vermeintlich nur die Zeit heilt alle Wunden. Mit der Zeit verschwinden die schwarzen Flecken die unser Bild, unsere schöne heile Welt trüben.
Es ist kein Versuch, einen Strich unter die Vergangenheit zu ziehen, sondern Ransmayr will uns aufwecken, er will uns Zeigen, dass die Zeit eben nicht alle Wunden heilt, sondern dass man für Buße und Versöhnung etwas tun muss. Die Kritik am Morgenthau - Plan, ist die Kritik an der Willkür die wir den Amerikanern ausgeliefert sind. Stellen Sie sich vor, den Marshall - Plan hätte es nicht gegeben ... So gesehen ist der Anti-Amerikanismus - neben dem Grund des Abwerfens einer Atombombe - durchaus legitim. Im Buch kommt unter den US-Soldaten Jubel über den Abwurf der Atombombe und seiner Zerstörungsmacht auf ...
Was war die Intention des Autors 1988 diesen Roman schreiben zu beginnen und ihn 1995 zu veröffentlichen? Man könnte hier nur Vermutungen anstrengen. Aber wir müssen uns nur die aktuelle politische Situation im Jahre 2003 ansehen:
*) Die USA hat die Welt immer noch nicht erobert, und spielt daher immer noch ganz
fleißig \"Weltpolizei\"
*) Stimmenzuwächse in ganz Europa für die extremen Rechten
*) Stimmenzuwächse und Regierungsbeteiligung einer Partei, der NS-Wiederbetätigung
vorgeworfen wird und die die Beschäftigungspolitik im 3. Reich lobt.
*) In Österreich sind Juden immer noch Menschen, die einen in Geldgeschäften nur

betrügen wollen, usw.

Christoph Ransmayr verpackt das alles geschickt in seinen utopischen Roman über das Dörfchen Moor, einen verwüsteten \"... Kaff im Schatten des Hochgebirges. Zwischen Ruinen, Geröll und Eis begegnen sich (ja nur) drei Menschen. Bering, der Schmied, Ambras, der Hundekönig und Lily, die Brasilianerin.\" (Klappentext)


10 Interpretation und Wertung
Ransmayr hat in seinen Figuren drei Formen des Überlebens typisiert: Den Lagerüberlebenden, das Kriegskind und das Kriegsverbrecherkind. Die Hauptakteure sind also auf verschiedene Art und Weise unschuldige Opfer der Vergangenheit, die die verschiedensten Überlebensstrategien entwickeln, aber die letzten Endes doch scheitern. Der Roman unterstreicht die Hoffnungslosigkeit der \"Überlebenden vom Krieg\". Freiheit gibt es schließlich nur noch im Tod.
Der Tod bildet auch Anfang und das Ende des Romans!
Moor ist keine fiktive Stadt, und doch erinnert sie deutlich dem Ebensee einer Außenstelle des KZs Mauthausen. Allein in Ebensee kamen rund 12.000 Häftlinge zu Tode! Auch die Parole \"Zurück in die Steinzeit\" des Amerikaners Lyndon Porter Stellamour sind keine Fiktion, sondern entspringt den Ideen des ehemaligen amerikanischen Finanzministers Henry Morgenthau aus dem Jahre 1944: Jener nie verwirklichte Plan, der aus dem besiegten Deutschland ein Agrarland machen sollte. Der Roman spielt diese Ideen durch: Er zeichnet das Bild eines besetzten Landes, das nicht wieder aus den Ruinen aufsteht. \"Morbus Kitahara umfasst ein Vierteljahrhundert. Der Krieg endet erst nach 25 Jahren außerhalb Europas. Die Atombombe fällt - nicht auf Hiroschima - sondern auf Nagoya. Nagoya war einst tatsächlich als alternatives Ziel der Amerikaner im Gespräch. (Vgl.: Volker Hage, Spiegel Verlag, 18. September 1995 im Spiegelmagazin Nr. 38)
Werder der Name Hiroschima, noch Mauthausen oder Ebensee fällt im Roman. Aber das, was sich damit verbindet ist in kaum einem Werk der deutschen Nachkriegsliteratur so präsent wie in Ransmayrs Morbus Kitahara. Er getraut sich als einer der wenigen über Gräueltaten in österreichischen KZs zu schreiben: ... \"Weißt du, was im Lager mit einem geschah, der dabei gefasst wurde, wie er unter dem Strohsack nach Beute suchte, (...) bloß suchte (...) nach Brot, nach Zigaretten, nach einer Kartoffel, nach irgend etwas, das man fressen oder wenigsten gegen etwas zu fressen eintauschen konnte? - Dem wurde eine Decke über den Kopf geworfen. (...) Und dann durfte jeder Häftling so lange auf das Bündel einschlagen, bis seine Wut oder seine Kraft erschöpft war. (...) In meiner Baracke konnte das die Wut von mehr als hundert Männern sein, mein Lieber. (...) Keiner hat in solchen Fällen die Wache gerufen. (...) Die Wache kam nur, wenn ein Brotdieb so zerschlagen war, dass er beim Zählappell nicht mehr auf die Beine kam. Erst dann kam die Wache. Ich habe gesehen, wie die Wache kam, mein Lieber. Ich habe gesehen, wie die Wache einen Geprügelten an den Füßen auf den Appellplatz schleifte. Wir standen dort im Schnee. Wir standen dort in einer langen Reihe stramm im Schnee, und der Brotdieb musste an unserer Reihe entlang zum Krematorium kriechen. (...) Gehen konnte er nicht mehr. Und die Wache immer neben ihm, immer über ihm, immer hinter ihm mit Stiefelschritten und mit Kolbenschlägen; einer hatte auch eine Peitsche. Aber was dann am Krematorium knallte, war nicht die Peitsche. (...) Das letzte, was ich von ihm sah, waren seine weißen Fußsohlen. Er kroch barfuß an uns vorüber. ...\" (Seiten 206 bis 208)
Am Beispiel der Sühnegesellschaft von Moor und ihrer eifrigen Büßer zeigt Ransmayr, wie das Prinzip verordneter Reue am Ende zu inhaltsleeren Ritualen und Floskeln (\"Niemals vergessen\") verkommen kann. Es gibt keine Milde und keine Vergebung für die Kriegsverbrecher. Die Bevölkerung verarmt, aber Stellamour bzw. Morgenthau treibt die Bevölkerung keineswegs zur Reue und Widergutmachung oder gar Versöhnung.
Angesichts der düsteren Vergangenheit Österreichs lehrt uns das Buch auch acht zu geben auf unseren Wortschatz: Müssen wir zu den Alliierten wirklich Besatzungsarmee oder Besatzer sagen und soll es nicht vielmehr Befreiungsarmee und Befreier heißen? Es scheint nämlich fast so, dass Adolf Hitler unser \"Befreier\", Befreier von den Juden, war, und die Alliierten (-Mächte) unser FREIES Land besetzten!
Brasilien ist in jeder Hinsicht ein konsequenter Fluchtpunkt des Romans: Dorthin retten sich Nazis ebenso wie manche, die von ihnen verjagt worden sind. Und dennoch: Brasilien, der Traum eines neuen Lebens, entpuppt sich als böse Falle. Wir kennen alle die Lebensgeschichte Stefan Zweigs: Auch er flüchtet nach Brasilien und nimmt sich dort, von Hoffnungslosigkeit getrieben, selbst das Leben.
Eine kleine Kritik nur: Die Geschichte wirkt etwas langatmig, ein Ende nach Kapitel 27, als Bering von seiner Krankheit erfährt, wäre vorstellbar. Und man muss das Buch auf alle Fälle zwei mal lesen. Nur eines muss ich empfehlen: Lest es ganz unbefangen, fragt nicht nach etwaigen Synonymen oder Metaphern, die Ransmayr gerne verwendet. Lest dieses Buch, als wäre es das \"Parfüm\" von Patrik Süßkind, oder \"Schlafes Bruder\" von Robert Schneider ...oder eben \"Morbus Kitahara\" von Christoph Ransmayr!


11. Schluss (... und doch kein Ende)
Was bedeutet eigentlich der Titel \"Morbus Kitahara\"? Christoph Ransmayr beschreibt damit die Augenkrankheit an der Bering, Schmied, Leibwächter und Vogelmensch, erkranken wird. Zunächst bemerkt er nur ein paar kleine schwarze Flecken in den Augen, die jedoch immer größer werden. Die Krankheit ist jedoch sinnbildhaft zu verstehen, sie ist Metapher: Wir leben in einem Land, in dem wir blind sind, zu den Ereignissen die vor unserer Zeit waren. Unser Blick ist verschleiert, wie unsere Erinnerung. Das Kapitel Nazis, Völkermord, Judenvernichtung, Blutvergießen und Feigheit ist aus unserem Gedächtnis gelöscht - ein schwarzes, unbekanntes Loch
in der Geschichte Österreichs. Oder wenn ich Pepi Windegger zitieren darf \"Die \"Pepi\" Windegger am Donnerstag, 16. Jänner 2003 um 18:20 Uhr in der PA Stams.)
\"... \"Blind? Ach was. Keiner wird blind. Sie sehen ein paar Flecken, kriechen alle aus ihrer Deckung, aus ihren Gräben und kommen dann mir ihrer Angst vor der Dunkelheit angerannt. Zu mir. Wie du. Dann sitzen sie dort, wo du jetzt sitzt. Und dann begreifen sie, dass sie überlebt haben, verstehst du? Und dann beruhigen sie sich. Und was geschieht? Die Wolken verziehen sich. Nicht sofort. Aber im Lauf der Zeit. Im Lauf von Wochen, manchmal von Monaten. Die Wolken lösen sich auf, der Blick wir heller, und schließlich bleiben nicht mehr als zwei, drei hauchzarte Spuren ihrer Angst auf der Netzhaut zurück. Das ist alles. Ich habe das erlebt. In dreißig Lazarettjahren habe ich das erlebet. Und du (Pepi) wirst es auch erleben. (....) denk an einen japanischen Augenarzt, er hieß Kitahara. Der hat deine Blickverfinsterung (oder wie du sagst: deine Blindheit am rechten Auge) schon lang (...) beschreiben. Trink ein Glas auf sein Wohl, beruhige dich, und nenn deine Flecken einfach Kitahara, mein Junge. Morbus Kitahara.\" (Seite 350)

 
 

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