a) Zu diesem Buch
Hannah Arendt hat dieses Buch mit dem englischen Originaltitel "On Violence", das 1970 erstmals erschien, im Angesicht des Vietnamkrieges und unter dem Eindruck weltweiter Studentenunruhen geschrieben. In diesem Essay zeigt sie die Abgrenzungen und Überschneidungen der politischen Schlüsselbegriffe Macht und Gewalt.
b) Über Macht und Gewalt
Zu den entscheidenden Unterschieden zwischen Macht und Gewalt gehört, dass Macht immer von Zahlen abhängt, während die Gewalt bis zu einem gewissen Grade von Zahlen unabhängig ist, weil sie sich auf Werkzeuge verlässt.
Der Extremfall der Macht ist gegeben in der Konstellation: Alle gegen Einen, der Extremfall der Gewalt in der Konstellation: Einer gegen Alle. Und das letztere ist ohne Werkzeuge, d.h. ohne Gewaltmittel, niemals möglich.
c) Macht, Stärke, Kraft, Autorität, Gewalt
Es spricht gegen den gegenwärtigen Stand der politischen Wissenschaft dass unsere Fachsprache nicht zwischen Schlüsselbegriffen wie Macht, Stärke, Autorität und schließlich Gewalt unterscheidet. Sie synonym zu gebrauchen entspricht der Unfähigkeit, die Wirklichkeit zu sehen und zu erfassen, auf die die Worte ursprünglich hinweisen.
· Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur so lange existent, als die Gruppe zusammenhält. Wenn wir von jemand sagen, er "habe die Macht", heißt das in Wirklichkeit, dass er von einer bestimmten Anzahl von Menschen ermächtigt ist, in ihrem Namen zu handeln. In dem Augenblick, in dem die Gruppe, die dem Machthaber die Macht verlieh, auseinander geht, vergeht auch "seine Macht".
(potestas in populo - Im Volk liegt die Macht)
· Stärke, im Gegensatz zu Macht, kommt immer einem Einzelnen, sei es Ding oder Person zu, Sie ist eine individuelle Eigenschaft, welche sich mit der gleichen Qualität in anderen Dingen oder Personen messen kann, aber als solche von ihnen unabhängig ist. Stärke hält der Macht der Vielen nie stand. Wo der Starke mit der Macht der Vielen zusammenstößt, wird er immer durch die schiere Zahl überwältigt.
· Kraft ist ein Wort, das im deutschen Sprachgebrauch meist synonym mit Stärke gebraucht wird, und sollte in der Begriffsprache für Naturkräfte vorbehalten bleiben (z.B. "Wasserkraft").
· Autorität, das begrifflich am schwersten zu fassende Phänomen und daher am meisten missbrauchte Wort, kann sowohl eine Eigenschaft einer einzelnen Person sein (z.B. in der Beziehung von Eltern und Kindern oder Lehrern und Schülern), als auch einem Amt zugehörig, wie etwa dem Senat in Rom (auctoritas in senatu - Die Autotät im Senat). Ihr Kennzeichen ist die fraglose Anerkennung seitens derer, denen Gehorsam abverlangt wird; sie bedarf weder des Zwanges, noch der Überredung. So kann ein Vater seine Autorität zum Beispiel dadurch verlieren, dass er sein Kind durch Schläge zwingt.
Autorität bedarf zu ihrer Erhaltung und Sicherung des Respekts entweder vor der Person oder dem Amt. Ihr gefährlichster Gegner ist nicht die Feindschaft sondern die Verachtung.
· Gewalt schließlich ist durch ihren instrumentalen Charakter gekennzeichnet. Sie steht dem Phänomen der Stärke am nächsten. Da Gewalt (im Unterschied zu Macht, Kraft, oder Stärke) Werkzeuge erfordert, hatte die technische Revolution, eine Revolution in der Herstellung von Geräten, besonders weitreichende Folgen auf dem Gebiet der Gewaltbetätigung, also vor allem der Kriegsführung. Die technische Entwicklung der Gewaltmittel (z.B. Atombombe) hat in den letzten Jahrzehnten den Punkt erreicht, an dem sich kein politisches Ziel mehr vorstellen lässt, das ihrem Vernichtungspotential entspräche oder ihren Einsatz in einem bewaffneten Konflikt rechtfertigen könnte.
Wenn wir uns solcher begrifflichen Unterscheidungen bedienen, dürfen wir nicht vergessen, dass sie zwar keineswegs willkürlich sind und den Phänomenen in der Wirklichkeit durchaus entsprechen, dass sie in dieser Wirklichkeit in begrifflicher Reinheit aber nur selten anzutreffen sind.
d) Über die Revolution
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat man immer behauptet, die Chancen für Revolutionen hätten sich wegen der ständig anwachsenden Zerstörungskapazität von Waffen, die ihrem Wesen nach nur der Staatsmacht zur Verfügung stehen, entscheidend verringert. Trotzdem gab es in diesen Jahren einen Rekord an erfolgreichen wie gescheiterten Revolutionen. Des Rätsels Lösung ist einfach.
Einmal ist die Kluft zwischen staatlichen Gewaltmittel und dem, womit das Volk sich zur Not bewaffnen kann - von Bierflaschen bis Pflastersteinen - schon immer so enorm gewesen, dass die modernen technischen Errungenschaften kaum ins Gewicht fallen.
Zum anderen werden Revolutionen nicht gemacht. Wo Gewalt der Gewalt gegenübersteht, hat sich noch immer die Staatsgewalt als Sieger erwiesen. Aber diese absolute Überlegenheit währt nur so lange, als die Machtstruktur des Staates intakt ist, das heißt, solange Befehle befolgt werden und Polizei und Armee bereit sind, von ihren Waffen Gebrauch zu machen. Ist dies nicht der Fall, so ändert sich die Situation. Doch selbst wenn die Macht schon auf der Straße liegt, bedarf es immer noch einer Gruppe, die vorbereitet ist und daher bereit ist, die Macht zu ergreifen und die Verantwortung zu übernehmen.
e) Rechtfertigung und Legitimation von Macht und Gewalt
Macht gehört zum Wesen aller staatlichen Gemeinwesen, ja aller irgendwie organisierten Gruppen. Gewalt jedoch nicht. Gewalt ist von Natur aus instrumental; wie alle Mittel und Werkzeuge bedarf sie immer eines Zwecks, der sie dirigiert und ihren Gebrauch rechtfertigt. Zum Beispiel ist der Zweck des Krieges der Friede.
Macht bedarf keiner Rechtfertigung, da sie schon immer zu allen menschlichen Gemeinschaften gehört. Hingegen bedarf sie der Legitimität. Macht entsteht, wann immer Menschen sich zusammentun und gemeinsam handeln. Ihre Legitimität beruht nicht auf den Zielen und Zwecken, die eine Gruppe sich jeweils setzt; sie stammt aus dem Machtursprung, der mit der Gründung der Gruppe zusammenfällt. Ein Machtanspruch legitimiert sich durch Berufung auf die Vergangenheit.
Gewalt kann gerechtfertigt, aber sie kann niemals legitim sein. Ihre Rechtfertigung wird umso einleuchtender, je näher das zu erreichende Ziel liegt.
f) Gewalt als animalischer Trieb?
Konrad Lorenz untersuchte in seinem Buch "Das sogenannte Böse" im Jahre 1963 Aggression und Gewalt naturgeschichtlich. Das Endresultat seiner Untersuchungen ist, dass die Gewalttätigkeit bzw. der Aggressionstrieb noch natürlicher erscheinen, als wir ohne sie anzunehmen bereit waren. Er steht nun auf der gleichen Stufe wie die Nahrungs- und Fortpflanzungstriebe.
Triebe sind spontan: Fallen die Anreize (z.B. wirkliche Gefahren, Angriffe) fort, wird der Trieb unterdrückt, der nun kein Objekt mehr findet, und das führt zu einer Triebstauung, deren schließliche Entladung umso gefährlicher wird. In dieser Interpretation ist unprovozierte Gewalttätigkeit nur "natürlich."
Im Gegensatz zu dieser Theorie ist Hannah Arendt der Meinung, dass Gewalttätigkeit ein menschliches Phänomen und weder tierisch noch irrational ist.
Die Versuchung, angesichts empörender Umstände zur Gewalt zu greifen, ist wegen der ihr innewohnenden Unmittelbarkeit sehr groß. Es liegt im Wesen der Empörung, nicht langsam und mit Bedacht zu reagieren. Das heißt aber noch lange nicht, dass Empörung und der Gewaltakt, der möglicher Weise auf sie folgt, irrational sind. Es gibt Situationen, denen nur die Schnelligkeit eines Gewaltaktes angemessen zu scheint (z. B. bei der Selbstverteidigung). Das entscheidende dabei ist, dass unter gewissen Umständen nur der Gewaltakt der Situation gerecht werden kann. In diesem Sinne gehören Zorn, Empörung und die Gewalttätigkeit, die diese Affekte manchmal begleitet, zu den spezifisch menschlichen Regungen.
g) Wozu Gewalt?
Da Gewalt ihrem Wesen nach instrumental ist, ist sie in dem Maße rational, als sie wirklich dazu dient, den Zweck, der sie rechtfertigen muss, zu erreichen.
Mit Gewalt heizt man weder die Lokomotive des Fortschritts noch der Geschichte oder der Revolution, aber sie kann durchaus dazu dienen, Missstände zu dramatisieren und die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Gelegentlich kann Gewaltsamkeit vonnöten sein, um der Stimme der Mäßigung Gehör zu verschaffen. Gewalt nämlich ist erheblich geeigneter Reformen zu erzwingen, als Revolutionen auszulösen. Da Gewalttätigkeit und Krawalle nur für kurzfristige Ziele sinnvoll eingesetzt werden können, ist es immer noch wahrscheinlicher, dass sich die Obrigkeit zur Erfüllung offensichtlich unsinniger und auf die Dauer sehr gefährlicher Forderungen entschließen wird, nur weil sie sich leichter und schneller durchführen lassen.
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