Der Roman "Die Blechtrommel" von Günter Grass ist ein sogenannter intellektueller Spaß, in welchem sich Realität und Fiktion vermischen. Daraus resultieren verschiedene Wirkungsweisen, wie zeitkritisch oder historisches literarisches Werk.
Betrachtet man den Roman seiner Zeit, kann man feststellen das man sich mit der erlebten Geschichte auseinander setzte und eine Kritik übte. Die Kritik geht vor allem an die Gesellschaft, das nicht selbst nachdenken (Unmündigkeit), in den Tag hineinleben, das absinken moralischer Vorstellungen und an die Kirche. Ein gutes Beispiel hierfür ist das "Wachstumseinstellen" in Verbindung mit dem Treppensturz Oskars um dem gesellschaftlichen Korsett entfliehen zu können. Dieser findet im Kapitel "Glas, Glas, Gläschen" auf Seite 73 des Romans statt. Weiterhin enthalten die auf einander folgenden Kapitel "Die Nachfolge Christi", " Die Stäuber" und "Das Krippenspiel" einen sehr zeitkritischen Inhalt auf die Gesellschaft. In diesen Kapiteln wird Oskar im gewissem Sinne als geistiger Führer dargestellt. Oskars Rolle als Anführer der "Stäuberbande" trägt eine zukunftsvorausdeutende Symbolik, wenn man Oskar als Führerperson und Hitler in der selben Rolle vergleicht. Somit wird in diesen Kapiteln die Uneinsichtigkeit und totale Gedankenmanipulation durch eine starke Persönlichkeit thematisiert. Diese Kapitel wurden bei der filmischen Umsetzung des Romans leider nicht beachtet, so dass Oskar im Film von Volker Schlöndorff einige Charakterzüge fehlen.
Andererseits ist der Roman ein historisches Werk, welches sich schon anhand der Gliederung voraussagen lässt. Die Einteilung in 3 Bücher, erstes Buch - vor dem 2. Weltkrieg, zweites Buch - während des 2. Weltkrieg und das dritte Buch nach dem 2. Weltkrieg. An vielen Stellen des literarischen Werks stehen Zeitgeschehnisse eng im Verbund zu der Romanhandlung. So wird die Judenverfolgung und "Judenrationalisierung" anhand der Ermordung des Spielwarenhändlers Sigismund Markus, bei dem Oskar regelmäßig seine Trommel kaufte, und der Zerstörung des Ladens dargestellt. Hier ist ein Zusammenhang mit den von Nationalsozialisten in Deutschland organisierten Pogromen gegen Juden in der Nacht vom 9. zum 10. 11. 1938 (Reichskristallnacht, Novemberpogrom, Reichspogromnacht) erkennbar. Die ersten Kriegsereignisse werden kurz vor dem Ausbruch des 2. Weltkrieges dargestellt. Oskar besucht seinen "Onkel" Jan in Danzig, welcher dadurch gezwungen wird in die Polnische Post zurück zukehren. Diese wird von der Heimwehr angegriffen und schließlich eingenommen. In der Realität sollte es sich hier um den 1.9.1939 handeln. An diesem Tag sind die Deutschen in Polen einmarschiert, besser gesagt haben sie Polen überfallen. Des weiteren werden geschichtliche Ereignisse in Form von Sondermeldung übermittelt. "Dann wurden die Walzerklänge [...] unterbrochen und eine Sondermeldung angekündigt. [...] Mehreren U-Booten war es gelungen [...] sieben oder acht Schiffe [...] zu versenken." (Kapitel "Sondermeldungen" Seite 376)
Man erkennt das es nicht einfach ist eine klare Trennlinie zwischen zeitlichen und historischen Roman zu ziehen. Beide Seiten sind eng miteinander verbunden und ergänzen sich in ihrer Wirkung. Der Roman war seiner Zeit bestimmt mehr zeitkritisch zu sehen, da sich nach dem Zerfall des 3. Reiches eine völlig neue Denkweise entwickelte.
Heutzutage sehe ich "Die Blechtrommel" nicht völlig als historischen Roman, sondern es ist vielmehr ein Gleichgewicht zwischen Historie und Kritik entstanden. Einige, damals zeitkritische Punkte, wie das in den Tag hinein leben, sind heute immer noch aktuell.
Als ausführliches Beispiel für die zeitkritische Wirkung des Romans wähle ich die Szene des Stockturms im Kapitel "Fernwirkender Gesang vom Stockturm aus gesungen". Oskar treibt es grundlos aus dem Spielzeugladen des Sigismund Markus, er landet hier eher zufällig und aus Langeweile am und schließlich auf dem Stockturm: \"Ich stand vor dem steil gegen den Himmel gestützten Backstein des Stockturms und klemmte eigentlich nur zufällig, aus aufkommender Langeweile meine Trommelstöcke zwischen das Mauerwerk [...]\" (S.128)
Im Film hingegen schleicht sich Oskar bewusst aus dem Laden, um seine Mutter zu verfolgen. Er beschattet sie regelrecht und versteckt sich deshalb immer wieder hinter Ecken und in Hauseingängen. Angelangt vor der Pension Flora, in der sich Agnes und Jan lieben, scheint es, als könne Oskar die Liebenden beobachten. Oskars Gesichtsausdruck erweckt den Eindruck, als werde er sich erst jetzt über das zwiespältige Verhältnis seiner Mutter bewusst. In Folge dessen läuft er geistesabwesend über die Straße. Im Roman steht Oskar hingegen mehr über den Dingen, hier weiß er bereits seit langem über die Tatsachen Bescheid:
\"Sie sprachen vor mir ganz ungeniert, und ihre Reden bestätigten, was ich
schon lange wusste: Mama und Onkel Jan trafen sich fast jeden Donnerstag in einem auf Jans Kosten gemieteten Zimmer der Pension in der Tischlergasse, um es eine Dreiviertelstunde lang miteinander zu treiben.\" (S.126)
Sein Gang auf den Stockturm und der anschließende zerstörerische Gesang hat so im Roman auch keine besonderen Ursachen: \"[...] ich [wurde], der ich bislang nur aus zwingenden Gründen geschrien hatte, zu einem Schreier ohne Grund und Zwang.\" (S.130)
Im Film hingegen erscheint das Besteigen des Stockturms und der anschließende "fernwirkende Gesang" als unmittelbare Reaktion auf seine Erkenntnis. Somit ist diese Szene im Film anschaulicher und nachvollziehbarer umgesetzt. Jedoch verliert Oskar dadurch ein Stück seiner starken Persönlichkeit. Dies hat für den Filmverlauf keinen sonderlichen Einfluss, da bei der Umsetzung, wie bereits erwähnt, einige Kapitel gekürzt bzw. komplett weggelassen wurden und somit die "Führerpersönlichkeit" Oskars nicht so stark im Film zum Ausdruck kommt.
Dieses Beispiel soll noch ein wenig erweitert werden, bis zum Tod von Agnes Matzerath. Es handelt sich jetzt um die Kapitel "Kein Wunder", "Karfreitagskost" und "Die Verjüngung zum Fußende". Interessant ist, dass Volker Schlöndorff die Reihenfolge in der filmischen Umsetzung geändert hat. Im Film gehen Jan, Agnes, Matzerath und Oskar zu dem Stauer (siehe "Karfreitagskost"). Danach entfacht sich ein Streit zwischen Agnes und Matzerath, welchen Jan schlichten muss. Erst dann geht Agnes mit Oskar in die Herz - Jesu - Kirche. Ich konzentriere die Betrachtungen jetzt nur auf den Tod von Agnes und der Umgebung. Im Roman wird dies alles sehr kühl, fast schon alltäglich beschrieben.
"Der Krankenwagen kam, Mama wurde hinausgetragen. [...] Dr. Hollatz sprach von Gelbsucht und Fischvergiftung." (S. 206f) Außerdem stellte man fest, dass sich Frau Matzerath im dritten Schwangerschaftsmonat befand. Als Agnes dann schließlich gestorben ist, zeigen alle Emotionen, nur Oskar bleibt ganz gefasst.
"[...] Matzerath und Jan Bronski weinten [...] Ich konnte nicht weinen, da alle anderen [...] weinten. Auch überraschte mich der Tod meiner Mutter kaum." (S. 207)
Die Umsetzung dieser Szene von Volker Schlöndorff unterscheidet sich ebenfalls sehr stark von der literarischen Vorgabe. Dadurch, dass sie erst kurz vor ihrem "Freitod" in der Kirche war, scheint es so, als ob niemand ihr helfen kann, auch nicht die Kirche. Im Film stellt die Mutter von Agnes fest das ihre Tochter schwanger ist und Agnes rennt als Reaktion darauf in den Flur und schließt sich in der Toilette ein. Oskar nimmt eine aktive Rolle ein und hämmert an der Tür herum, man könnte dieses auch als trommeln sehen, somit würde Oskar seine Mutter in den Tod trommeln. Dies passt auch zur familiären Geschichte, in der das Trommeln eine gewisse Distanz Oskars zu der gesamten Gesellschaft symbolisiert.
Kurz gesagt, Oskars Persönlichkeit wirkt im Film nicht so stark ausgeprägt, er ist viel emotionaler als im Roman. Dies ist zu Gunsten der Zuschauer, da so ein Kontext zwischen den einzelnen Mitglieder der Familie hergestellt werden kann.
Zusammenfassend gesagt, wird in den hier beschriebenen Abschnitten vor allem Kritik an der Unmündigkeit und der Distanzierten Haltung der Kirche geübt. Die filmische Umsetzung unterscheidet sich zwar an einigen Stellen gravierend von der literarischen Vorgabe durch Günter Grass, die Kritikpunkte verlieren jedoch nicht an Wirkung. Im allgemeinen wirkt Oskar nicht so abnormal (betrachtet man den Roman dazu), so ist es für den Zuschauer wesentlich einfacher den Überblick zu bewahren.
Den Zusammenhang mit der historischen Wirkung beschreibe ich anhand des Kapitels "Die Ameisenstraße". Diese wird sehr stark durch die genaue Beschreibung des Kriegsgeschehens in Danzig verdeutlicht. "[...] die Stadt [lag] schon unter Artilleriebeschuss [...] Panzerspitzen der Armee des Marshalls Rokossowski drangen bis Elbing vor. Die zweite Armee, von Weiß, bezog Stellung auf den Höhen um Danzig." (S. 507) Es wird mehrfach der Feuersturm und die Salven der Armeen beschrieben, welche immer wieder Danzig durchdringen. Des weiteren wird die Zerstörung Danzigs in einer historischen Reihenfolge genannt. "Das war aber nicht der erste Brand der Stadt Danzig. Pommerellen, Brandenburger, [...] [hatten] alle paar Jahre die Stadt verbrennenswert gefunden [...] (S. 512)
Hier ist eine klare Verbindung zur Realität zu sehen, denn Marschall K. K. Rokossowski ist tatsächlich in Danzig einmarschiert und hat diese Stadt schließlich eingenommen. Das war am 30.03.1945.
Als besonders erwähnenswert halte ich den Tod von Matzerath. Dieser muss notgedrungen sein Parteiabzeichen verschlucken, als die Russen den Keller stürmen. "Er [...] wollte es loswerden und fand [...] kein anderes Versteck als seine Mundhöhle." (S. 518)
Diese Stelle halte ich für den Höhepunkt im Roman, da sich hier die ganze Geschichte in eine andere Richtung wendet. Man kann sagen, dass Matzerath an "seiner" Party erstickt ist. Dies steht symbolisch und zukunftsweisend für den Untergang der Nationalsozialisten und des gesamten 3. Reiches.
Im Film wird der Krieg nicht so ausführlich dargestellt wie im Buch, er konzentriert sich kurzzeitig auf die Stelle, als die Russen in den Keller eindringen. Der Knackpunkt bleibt jedoch vorhanden und wird meines Erachtens nach durch das Weglassen des "Vorspiels" so hingehend verstärkt, dass Matzerath auf Grund des Parteiabzeichens stirbt und somit das Ende des 3. Reiches einläutet.
Sieht man den Film "Die Blechtrommel" von Volker Schlöndorff ist die Umsetzung des Romans durchaus gelungen. Zu bemängeln ist nur, dass die Figur des Oskars wichtige Charaktereigenschaften und somit einiges von der Vielfalt seines Wesens einbüßt (Verführer, Jesuserscheinung). Oskars Distanziertheit und seine Art die Situation zu beschreiben geht in dem Film verloren. Diese Streichungen wurden zu Gunsten der Zuschauer gemacht, so dass der Film einen bestimmten Erzählfluss bekommt. Dadurch ist natürlich auch die interessante Darstellung bzw. die Erzählung der Geschichte als Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt nicht mehr möglich.
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