Gerhart Hauptmanns Werk und Persönlichkeit sind über die seelen- und geistesgeschichtlichen Zusammenhänge zu verstehen, in denen Europa und Deutschland seit 1770 und neuerdings seit der technischen Revolution von 1870 stehen.
Schon um 1770 hatte Herder den Darwinschen Gedanken gedacht. Goethe hat ihn wiedergedacht. Seine Entdeckungen, Arbeiten und Experimente haben naturwissenschaftliche Theorien dann gesellschaftsfähig und spruchreif gemacht. An der Geburtsstätte der ästhetischen Wissenschaften, im Jena der Romantiker, bildeten später vielbelächelte naturwissenschaftliche Versuche die entscheidende Diskussionsgrundlage für Geisteswissenschaftler und Philosophen. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein hieß Naturwissenschaft immer auch Geisteswissenschaft und bedeutete einen Fortschritt in ihren Disziplinen zugleich eine Steigerung der schöpferischen, künstlerischen Leistungen. Der allgemeine Prozeß des Sich-Einfühlens, Sich-Eindenkens in die Natur ging Hand in Hand mit der technischen Entwicklung der Zeit.
Die technische Revolution um 1870 setzte über die natürlich gesteuerte, von schöpferischen Impulsen maßgeblich beeinflußte Welt eine ausschließlich von wissenschaftlichen Denken bestimmte technische Welt. In ihr zu leben erforderte jenes Sehen, gegen das sich Goethe so beharrlich gewehrt hatte, mit ihr zu leben jedoch, das hieß: "naturalistisch" denken lernen. Für den Dichter allerdings konnte "naturalistisch" nie etwas anderes sein, als: die zergliedernde wissenschaftliche Denkart kompositorisch zu verwerten. Für den traditionsbewußten deutschen Bürger, den geistigen Europäer allgemein aber bedeutete "naturalistisch": Auseinandersetzung mit den sozialen, den allgemeinmenschlichen Problemen, wie sie die technische Revolution mit sich gebracht hatte.
Die literarische Revolution um 1890 kennzeichnet die erste Phase dieser Auseinandersetzung. Einer ihrer Wortführer war Gerhart Hauptmann. Der fünfundzwanzigjährige, sehr schmächtige "Revolutionär" hatte die Welt mit neuen Augen sehen gelernt. Eine harte Lebensschule hatte ihn "sehend" gemacht. Das Ereignis Maschine mußte für den religiös, ja weltreformatorisch gesinnten jungen Menschen Verwirtschaftlichung, Entmythisierung bedeuten. Für den Dichter jedoch war das Ereignis ein Aufruf zur seelischen Tat: im Zeichen der Technik das Menschliche, menschliche Urbilder, das Mythische in der Welt zu erneuern. Mit utopischen Weltverbesserungsplänen in der Tasche beobachtete der junge Hauptmann deshalb wissenschaftlich genau, sah er "naturalistisch", durchdachte er "real" und verbot sich gegenstandsloses Schwärmen. Das war Hauptmann der Naturalist.
So sehr sich der angehende Weltreformator bemühte, möglichst schonungslos "naturalistisch" zu sehen und zu denken, hatte er die Welt vom ersten Augenblick an dichterisch empfunden. Er hatte sie über das Bild des Volkes und der Religion und sein leicht empfindsames Gemüt erlebt. Gerhart Hauptmann war ein genialer Träumer mit einer fast unbegrenzten Vorstellungsgabe und einem ebensolchen Einfühlungsvermögen.
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