Im Oktober 1907, ein Jahr nach der Promotion und wenige Tage nach der endgültigen Berufsentscheidung, schreibt der vierundzwanzigjährige Franz Kafka:
Mein Leben ist jetzt ganz ungeordnet. Ich habe allerdings einen Posten mit winzigen 80 Kronen Gehalt und unermeßlichen 8-9 Arbeitsstunden, aber die Stunden außerhalb des Bureaus fresse ich wie ein wildes Tier. ....Über die Arbeit klage ich nicht so, wie über die Faulheit der sumpfigen Zeit. Die Bureauzeit nämlich läßt sich nicht zerteilen, noch in der letzten halben Stunde spürt man den Druck der 8 Stunden wie in der ersten. Es ist oft wie bei einer Eisenbahnfahrt durch Nacht und Tag, wenn man schließlich, ganz furchtsam geworden, weder an die Arbeit der Maschine des Zugführers, noch an das hügelige oder flache Land mehr denkt, sondern alle Wirkung nur de Uhr zuschreibt, die man immer vor sich in der Handfläche hält .... Alle Menschen, die einen ähnlichen Beruf haben, sind so. Das Sprungbrett ihrer Lustigkeit ist die letzte Arbeitsminute. ....Aber es ist nicht nur Faulheit, auch Furcht, allgemeine Furcht vor dem Schreiben, dieser entsetzlichen Beschäftigung, die jetzt entbehren zu müssen mein ganzes Unglück ist. 19
Kafka arbeitete bei der "Assicurazioni-Generali", einer privaten Versicherungsgesellschaft mit besonders strengen Arbeitsvorschriften. Nach dem Scheitern der Freundschaft mit Oskar Pollak, übernahm in den ersten Berufsjahren in immer stärkerem Maße Max Brod die Aufgabe des Fensters der Freundschaft. Durch ihn lernte Kafka die nähere Umgebung Prags kennen, die Ferienreisen nach Oberitalien, Weimar, Paris oder in die Schweiz unternahmen sie gemeinsam. Brod führte Kafka in das Prager Literatenleben ein. Er machte ihn mit dem Philosophen und Zionisten Felix Weltsch und dem blinden Schriftsteller Oskar Baum bekannt, welche bis zu seinem Lebensende Kafkas Freunde blieben.
Während des anstrengenden Dienstes in der "Assicurazioni Generali" setzte das Schreiben vollständig aus. Dies war auch der Grund für Kafkas Bemühungen um eine andere Stellung, die bereits wenige Monate nach dem Eintritt beginnen. Nach einem Dreivierteljahr verläßt Kafka die "Generali" und tritt zwei Wochen später, im August 1908, in die "Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen" ein , in der er bis zu seiner Pensionierung (1922) arbeitet. Die Arbeitsbedingungen waren hier wesentlich günstiger, vor allem dauerten die Bürostunden nur bis zwei Uhr nachmittags. Vorerst wurde Kafka als "Aushilfsbeamter" angestellt, ab 1910 als "Concipist" im Beamtenverhältnis. Kafkas "Dienst-Tabelle" vermerkt dann, daß er 1913 zum "Vizesekretär", 1920 zum "Anstaltssekretär" und 1922 zum "Obersekretär" ernannt wurde. Kurz darauf, am 1. Juli 1922, folgte die vorzeitige Pensionierung. Bei den Beamten der Anstalt, überwiegend Tschechen, war Kafka - das "Amtskind" - sehr beliebt, "er hatte überhaupt keinen Feind".
Kafka besuchte um 1918 regelmäßig die Vorträge und Abende im Hause Fanta, die die betreibsame Apothekersgattin Berta Fanta veranstaltete und zu denen sie die führenden Intellektuellen Prags einlud: den Mathematiker Kowalewski, den Physiker Frank, den Philosophen Ehrenfels und den jungen Albert Einstein. Kafka hörte hier Referate über die Relativitätstheorie, die Plancksche Quantentheorie und die Grundlagen der Psychoanalyse. Er lernte also, kurz vor der Niederschrift seiner Hauptwerke, die bedeutendsten Fragestellungen des neuen Zeitalters kennen.
Kafka beschäftigte sich neuerlich mit den religiösen Problemen. Kafka fand seine Neigung für die "lebendigere" Religion der Ostjuden, mit der er zum erstenmal in den Jahren 1910 und 1911 durch Gastspiele einer jidischen Schauspieltruppe aus Lemberg in Berührung kommt, die das offiziöse Prager Judentum selbstverständlich nicht zur Kenntnis nahm. Die Schauspieler wurden als Hungerleider, Herumfahrende, Mitjuden verachtet 20 , die jidischen Theaterstücke galten als Schmiere, das Lokal als zweifelhaft. Kafka besuchte regelmäßig die Aufführungen und befreundete sich, sehr zum Ärger seines Vaters, mit einem der Schauspieler, Jizchak Löwy, und korrespondierte in den nächsten Jahren mit ihm.
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