Komödie in drei Akten von Ödön von Horváth, Uraufführung: Prag, 2. 4. 1937, Kleine Bühne des Deutschen Theaters. - Als eine "Art Fortsetzung" (F. Th. Csokor) der Komödie von Beaumarchais, die 1784 erstmals öffentlich unter dem Titel La folle journée ou Le mariage de Figaro (Figaros Hochzeit) uraufgeführt wurde und in ihrer Gesellschaftskritik Aspekte der Französischen Revolution vorweg¬nahm, verbindet Horváth in seiner Komödie Figa¬ro lässt sich scheiden Revolutionsproblematik und Emigrantenschicksal. Dabei geht es dem Autor nicht um eine zeitgeschichtliche Verknüpfung mit der Französischen Revolution von 1789, gemeint ist "schlicht nur eine jegliche Revolution, denn jeder gewaltsame Umsturz lässt sich in seinem Verhältnis zu dem Begriff, den wir als Menschlichkeit achten, auf den gleichen Nenner bringen".
Die Handlung zeigt vier Menschen auf der Flucht vor der Revolution. Es sind Graf Almaviva mit sei¬ner Frau sowie sein Kammerdiener Figaro und des¬sen Frau Susanne, Zofe der Gräfin. Der Graf findet sich mit seinem neuen Status als Emigrant nicht zu¬recht: obwohl ohne Einkünfte, erlaubt er sich jeden Luxus, "für dessen Genuss er sich durch seine Geburt ein Recht erworben hat". Der finanzielle Ruin, der ihn zum Betrüger werden lässt, und der soziale Ab¬stieg bleiben nicht aus. Im Gegensatz zum Grafen, der sich einer realistischen Einschätzung seiner Si¬tuation nicht stellen kann, fasst Figaro eine "unab¬hängige Zukunft" ins Auge. Gegen den Willen von Susanne, die ihrer Herrschaft die Treue halten will, übernimmt er ein Friseurgeschäft. Figaro ist damit selbständig, doch seine Geschäftserfolge basieren weniger auf handwerklichem Können als auf seinem Geschick, sich der Kundschaft anzubiedern und ihr nach dem Mund zu reden. In Susannes Au¬gen ist aus Figaro ein heuchlerischer Spießer ge¬worden. Das Kind, das sie sich so sehnlichst wünscht, verweigert er ihr mit Ausflüchten einer ungewissen Zukunft. Susanne kommt mit einem anderen Mann ins Gerede, mit dem sie Figaro be¬trogen hat, und die Ehe zerbricht. Sie kehrt zurück zu den Almavivas, Figaro muss sein Geschäft wegen des Geredes aufgeben. Als Kellnerin in einem "Emigrantencafé" findet Susanne vorübergehend Arbeit. Als ihre Arbeitserlaubnis abläuft, kehrt sie zusammen mit dem Grafen - die Gräfin ist gestor¬ben - zurück in die Heimat und zurück zu Figaro. Der ist inzwischen Verwalter auf dem ehemaligen Besitz des Grafen geworden, in dem nun ein Kin¬derheim untergebracht ist. Die beiden Eheleute finden wieder zueinander, und der Graf wird reha¬bilitiert; nicht, dass die Revolution beendet ist, sie hat menschenfreundlichere Züge angenommen, wie Figaro sagt: "Jetzt erst hat die Revolution ge¬siegt, indem sie es nicht mehr nötig hat, Menschen in den Keller zu sperren, die nichts dafür können, ihre Feinde zu sein."
Die versöhnliche Geste, mit der ein durch Wand¬lungen hindurchgegangener, am Ende geläuterter Figaro seinen von der Revolution zunächst zum Feind erklärten Herrn rehabilitiert, scheint nicht nur alle Ziele der Revolution mit einem Hand¬streich fortzuwischen, sie beschwört zugleich jenen Operetteneffekt aufgehobener Handlungskonflik¬te. Aber der von Horváth "keineswegs ironisch" (B. v. Wiese) gemeinte Schlusssatz zielt ohnehin nicht auf die Ebene revolutionärer Gesinnung, sondern auf die Behauptung einer Menschlichkeit, der Horváth Vorrang vor revolutionären Überzeu¬gungen zuerkennt. Mit der Aussage Figaros, der den Sieg der Revolution als Sieg der Menschlich¬keit feiert, macht sich Horváth - in seinen späten Jahren zunehmend von Skepsis in jedwede Ideolo¬gie gezeichnet - zum Fürsprecher einer humanitä¬ren Gesinnung, die ohne ideologische Standpunkte auszukommen weiß. Der Eindruck, in der Revolu¬tionskomödie käme "ein gut Teil an ahistorischer, an unpolitischer Naivität" (D. Hildebrandt) zum Ausdruck, wird durch das chaotische Gegen- und Durcheinander des Geschehens begünstigt. Ob¬wohl der Autor seine Komödie nicht als Reminis¬zenz an verklungene Ideale der Französischen Re¬volution versteht, werden politische und sozialkri¬tische Töne laut, die eine Verbindung zu den For¬derungen von 1789 nach Freiheit und Gleichheit nicht ausschließen. Andererseits weisen sowohl die Entstehungszeit der Komödie und das Datum ih¬rer Erstaufführung als auch Aussagen des Textes Bezüge zur Gegenwart 1936/37 auf. Auch wenn Horváth in seinem Stück nicht so sehr die Proble¬me der Revolution, vielmehr ihre Einstellung zur Menschlichkeit prüft, dem sich seiner Meinung nach jeder gewaltsame Umsturz stellen muss, so ge¬winnt eine solche Darstellung angesichts der sich als "nationale Revolution" verstehenden Erhebung der Nationalsozialisten besondere Aussagekraft.
Auf das Schicksal des Einzelmenschen hinzuwei¬sen, der Gefahr läuft, in der Spannung ideologi¬scher Auseinandersetzungen zerrieben zu werden, darin besteht die Aussage dieses Stücks. Im Aufein¬anderprallen von politischen und sozialkritischen Forderungen auf der einen Seite und der Bewah¬rung ethischer und religiöser Werte auf der anderen Seite verteidigt Horváth die rein menschliche und sittliche Bewährung. Auch wenn die Dramaturgie der Komödie durch die häufig wechselnden Posi¬tionen und die nicht immer leicht auszumachenden Schauplätze beeinträchtigt wird, machen die atmo¬sphärisch dichten Szenen wie die differenzierte Profilierung der Charaktere die Revolutionskomö¬die zu einem bühnenwirksamen Stück.
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