Nicht nur in den Kompositionen der seriellen Musik, sondern vor allem in der Geschichte der elektronischen Musik muß Stockhausen als einer der bedeutendsten Inovatoren genannt werden.
Es gibt keine allgemein anerkannte Definition von elektronischer Musik. Im weitesten Sinne kann jede Art von \"Lautsprechermusik\" als elektronische Musik bezeichnet werden. Möglich ist auch die Begrenzung auf elektronische Klangerzeugung. Im engeren Sinne versteht man unter elektronischer Musik die Klangsynthese elektronischer Klänge.
In diesem Sinne wurde das erste Studio für elektronische Musik 1951 am NWDR in Köln eingerichtet.
In den 50-er Jahren sind drei Phasen in der elektronischen Musik zu unterscheiden:
Für diese Musik war ab 1951/53 zunächst weder Interpret noch Partitur nötig. Der Komponist hält das elektronisch erzeugte Klangmaterial auf einem Tonband fest, welches dem Publikum vorgespielt wird.
In der zweiten Phase der Elektronischen Musik wird dann ab 1952/53 der elektronische erzeugte Klang mit Tonbandaufnahmen, z.B. mit Sprache und Alltagsgeräuschen der musique concrète kombiniert und verfremdet.
In der dritten Phase ab 1959/61 wird das mit Material von einem Interpreten vorgestellt, welcher das Klangmaterial zusätzlich mit Klängen der nicht-elektronischen Musik live kombiniert.
Stockhausen war von den Möglichkeiten der elektronischen Musik begeistert:
\" Ich erinnere mich, wie ich früher stundenlang an einem Teich gehockt, nahe über dem Wasserspiegel mir selbst ins Gesicht geschaut und ab und zu einen Stein ins Wasser geworfen habe. Mein Gesicht wurde dann völlig verzerrt, verkleinert und vergrößert. Derartige Prozesse waren in der Musik nie möglich. ... Wenn viele heute mit Computern, Synthesizern experimentieren, so wollen sie meistens Gestalten -wie melodien, Rhythmen, die deutlich erkennbar sind - transformieren durch Beschleunigungen und Verlangsamungen, Spreizungen Stauchungen, die mit den traditionellen Instrumenten und Spieltechniken unerreichbar sind. Was ich zum Beispiel im Werk SIRIUS mit Hilfe elektronischer Apparaturen realisierte, hat zu ganz neuen Möglichkeiten der Instrumental- und Vokalmusik geführt.... Wo immer ein Transformationsprozeß progressiv ist, also eine Gestalt oder Formel durch Beschleunigung oder Verlangsamung bzw. durch Stauchung oder Spreizung in etwas Neues verwandelt wird, erleben wir eine Metamorphose: Das Transformierte wandelt sich über die Grenze der Wiedererkennbarkeit hinaus in etwas Anderes. Das ist möglich, weil die Fähigkeit zu analysieren durch unsere Sinne begrenzt ist.... Menschen, die oft solche Prozesse hören, werden selbst Teil einer allgemeinen Metamorphose und transformieren sich....Das ist wohl der tiefere Sinn der Musik: daß sie die Wahrnehmung ändert. In den letzten 30 Jahren war es für Menschen, die das Training durch gewisse neue Musik wahrgenommen haben, möglich, ihre Fähigkeiten zu erweitern. Diese Menschen nehmen dann ALLES deutlicher wahr - nicht nur Klangprozesse -, und sie arbeiten ständig daran, ihre mentale, psychische und sinnliche Kapazität zu vergrößern.\"5
Ich möchte Ihnen nun aus der eben erwähnten Komposition SIRIUS den Titel ARIES6 in einer Interpretation von Markus Stockhausen vorstellen.
Sie enthält eine Fülle von musikalischen Metamorphosen, die Stockhausen im Bd. 5 seiner TEXTE erläutert. SIRIUS ist ausschließlich aus dem Material des TIERKREISES, zwölf Melodien der Sternkreiszeichen, geschaffen und hat somit als Thema den Jahreszyklus. Die große Frühlingspartie mit ARIES (Widder) als wichtigster Melodie ist hauptsächlich der Trompete gewidmet. 1980 erstellte Stockhausen diese Soloversion für Trompete mit elektronischer Musik.
Ich spiele Ihnen einige dieser Grundmelodien auf dem Flügel vor: Zunächst \"Aries (Widder)\" KLANGBEISPIEL. Besonders markant ist das Anfangsmotiv oder das viermalige störrische Motiv im Rhythmus kurz-kurz-lang. Hören Sie nun ein Ausschnitt:
KLANGBEISPIEL Markus Stockh. plays Karlheinz Stockhausen CD 11.0.22 (mindestens zweimal spielen!)
In dieser transparenten Form erscheint das Thema nur ganz zum Schluß des Werkes. Durchaus bedenkenswert ist diese möglicherweise von außermusikalischen Motiven entstandene Formidee: Aus einem anfänglich nebulösen Zustand tritt immer klarer eine Gestalt hervor, die ihr vollständiges Gesicht erst unmittelbar am Ende zeigt. Vorher erfährt die Gestalt die vielfältigsten Modifikationen, wie z.B. die variierte Form, als elektronische Musik mit einem belebten Kontrapunkt in der Trompete:
KLANGBEISPIEL Markus Stockh. plays Karlheinz Stockhausen CD 9.0.00- 10.0.00.
Vorher wird hauptsächlich das Anfangsmotiv bearbeitet. Stellen Sie sich bitte darauf ein, daß diese elektronische Musik sehr leise ist. Die Trompete spielt dazu einen gehaltenen, deutlich lauteren Ton, der die Hauptakzente mitspielt:
KLANGBEISPIEL Markus Stockh. plays Karlheinz Stockhausen CD 3.0.27-3.2.00.
Zu Beginn des Werkes wird dieses Motiv in der Trompetenstimme fragmentarisch zwischen sprachähnliche Töne eingemischt.
KLANGBEISPIEL Markus Stockh. plays Karlheinz Stockhausen CD 1.0.30-1.1.40.
Ein neues Verfahren besteht darin, daß Stockhausen die Aries-Melodie am Anfang des Stückes nicht im Originalrhythmus bringt, sondern die Tonhöhen dieser Melodie mit dem Rhythmus einer anderen Melodie - Capricorn (Steinbock) kombiniert (vorspielen). So spielt Stockhausen mit den Grenzen der Wahrnehmbarkeit, die er z.T. bewußt überschreitet. Die Fülle der sonstigen Metamorphosen können an dieser Stelle nicht alle besprochen werden. Hören Sie nun einen größeren Ausschnitt des Werkes:
KLANGBEISPIEL Markus Stockh. plays Karlheinz Stockhausen CD 0.0.00-4.0.20
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