Bezug zur Realität
Dürrenmatts Theaterdichtung wird stark von seinen weltanschaulichen Vorstellungen bestimmt. Für ihn ist die moderne Welt wegen des explosiven Bevölkerungswachstums, der Technisierung, der Medien, der anonymen Verwaltungsapparate und der Bedrohung durch Massenwirkungsmittel zum Chaos geworden, undurchschaubar für den einzelnen. Auch die Geschichte ist für Dürrenmatt ein unerklärbares Rätsel. Er kann in ihrem Verlauf keine göttliche oder andere Ordnung erkennen, die die Katastrophen und Zerstörungen relativieren könnte. Jedes Erklärungsmodell für die historische Entwicklung, also auch das marxistische, stellt für ihn eine unzulässige Verkürzung und Vereinfachung dar. Deshalb distanziert er sich von solchen Erklärungsmodellen und sieht in ihnen
\"nicht mehr als eine Sammlung notdürftiger fragmentarischer Hypothesen zur wirklich konkreten Weltgeschichte, eine unvollkommende Konzeption, bloß summarisch, mit Vermutungen über verlorene Hintergründe und nie mehr aufzutreibende Materialien und Dokumente. Wir kennen die ersten drei Minuten der Geschichte des Weltalls besser als die ersten drei Millionen Jahre der Geschichte des Menschen.\"
Mit dieser Geschichtsauffassung ist eine Wirklichkeitserfassung verbunden, die Dürrenmatt oft mit dem Bild des \"Labyrinths\" bezeichnet, in dem der \"Minotaurus\", der moderne Mensch, hilflos und orientierungslos umherirrt. Deshalb sieht er sich als Schriftsteller gezwungen, \"eine Welt der Sinnlosigkeit darzustellen, in der ein Sinn gesucht wird, den es nicht gibt, ohne den sie jedoch nicht ausgehalten werden kann.
Möbius: Verrückt, aber weise
Einstein: Gefangen, aber frei
Newton: Physiker, aber unschuldig
Aufgabe 1:
Erläutere ausführlich die Bedeutung dieser Aussagen der drei Physiker anhand deiner Textkenntnis. Was meinen sie damit und wie kommen sie dazu, solche Aussagen zu machen?
Aufgabe 2:
Führe aus, wie die drei Physiker in Dürrenmatts "Die Physiker" zum Problem der Verantwortung des Wissenschaftlers stehen. Belege deine Aussagen mit treffenden Textstellen.
1. Möbius meint mit der Aussage, auch wenn alle Welt ihn für verrückt halte, wisse er doch, er sei weise. Er musste ins Irrenhaus eingeliefert werden, weil seine Erfindungen nicht ungefährlich wären. Denn ohne seine vorgetäuschte Verrücktheit würde sein Wissen ausgenützt werden.
Einstein meint mit der Aussage: "Gefangen, aber frei", dass, obwohl er selbst in der Irrenanstalt eingesperrt ist, ist sein Denken jedoch frei. Denn alles, was er hier tut und denkt, kann nicht an die Öffentlichkeit gelangen und kann somit für diese Öffentlichkeit gefährlich werden.
Die Aussage von Newton bedeutet, auch wenn er Physiker sei, könne er schließlich nichts für seine Entdeckungen. Denn die Aufgabe eines Physikers ist die, zu Forschen, seine Aufgabe ist es, die Welt zu Verbessern.
2. Newton bzw. Kilton findet, als Genie sei man Allgemeingut und man habe die Pflicht, die Türe auch den "Nicht-Genialen" aufzuschließen. Möbius hält dagegen, es sei seine Pflicht, die Auswirkungen seiner Erfindungen zu studieren. Denn alles, was er und andere Physiker denken, hat seine Folgen und durch Unbedachtes, könnte die Menschheit in Gefahr geraten . Möbius sagt: " (Seite 69, unten) Was wir denken, hat seine Folgen. Es war meine Pflicht, die Auswirkungen zu studieren, die meine Feldtheorie und meine Gravitationslehre haben würden. Das Resultat ist verheerend. Neue, unvorstellbare Energien würden freigesetzt und eine Technik ermöglicht, die jeder Phantasie spottet, wenn meine Untersuchung in die Hände der Menschen fiele."
Beide Generalstäbe, die von Eisler und die von Kilton, wollen den Physiker Möbius für sich gewinnen. Beide preisen ihm eine gute Unterkunft, berühmte Physiker und desgleichen an, aber Möbius sieht ein, dass keiner von beiden ihm die Freiheit bieten kann. Möbius steht auch zu seiner Verantwortung. Die Entscheidung, ihre Theorien und Entdeckungen an den Mann zu bringen, sei eine Entscheidung unter Physikern. Sie müssen wissenschaftlich vorgehen und sollen sich nicht von Meinungen bestimmen lassen, sondern von logischen Schlüssen "Wir dürfen uns keinen Denkfehler leisten, weil ein Fehlschluss zur Katastrophe führen müsste (Seite 72, mitte)".
Einstein sagt, gewisse Risiken müsse man schließlich eingehen, doch Möbius' Antwort ist, es gebe Risiken, die man nie eingehen dürfe, der Untergang der Menschheit sei ein solches. Möbius meint: "Was die Welt mit den Waffen anrichtet, die sie bereits besitzt, das wissen wir, was sie mit jenen anrichten würde, die ich ermögliche, können wir uns denken. Dieser Einsicht habe ich mein Handeln untergeordnet. [...] Die Verantwortung zwang mir einen anderen Weg auf. Ich ließ meine akademische Karriere fahren, die Industrie fallen und überließ meine Familie ihrem Schicksal (73-74, unten)." Kiltons Meinung zu dieser, für Möbius sehr wichtigen Entscheidung ist, dass so etwas keine Lösung sei. Doch Möbius antwortet, dass die Vernunft diesen Schritt fordere. "Wir sind in unserer Wissenschaft an die Grenzen des Erkennbaren gestoßen. Wir wissen einige genau erfassbare Gesetze, einige Grundbeziehungen zwischen unbegreiflichen Erscheinungen, das ist alles, der gewaltige Rest bleibt ein Geheimnis, dem Verstande unzugänglich. Wir haben dieses Ende unseres Weges erreicht. Aber die Menschheit ist noch nicht soweit. [...] Unsere Wissenschaft ist schrecklich geworden, unsere Forschung gefährlich, unsere Erkenntnis tödlich. Es gibt für uns Physiker nur noch Kapitulation vor der Wirklichkeit. [...] Wir müssen unser Wissen zurücknehmen, und ich habe es zurückgenommen. Es gibt keine andere Lösung, auch für euch nicht. (Seite 74)"
Durch diese Aussagen überzeugt Möbius die anderen von seinem Recht.
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