Nun zur ersten der zwei Personen, auf die ich näher eingehen werde. Ich wollte, neben einem Namen mit literarischem Hintergrund, auch eine der geschichtlichen Personen genauer unter die Lupe nehmen, um auch ein wenig auf die Zeit, die das Umfeld des Buches bildet, zu blicken. Bernard Gui (oder Bernardo Guido oder Bernhardus Guidonis) habe ich als Musterbeispiel für die historischen Persönlichkeiten genommen, da er mir aussergewöhnlich spannend und typisch für das Mittelalter schien und weil ich glaube, dass die Inquisition im Namen der Rose nicht ganz so ausführlich behandelt wird, wie andere geschichtliche Themen, beispielsweise ihre Gegenspielerin, die Ketzerei. Zuerst werde ich ein bisschen von Guis Leben und seinen Taten berichten.
3.1. Sein Leben
Bernard Gui wurde 1261 oder 1262 in der Nähe von Limoges in Frankreich geboren. Im Alter von 18 Jahren trat er dem Dominikanerorden bei und studierte in der Folge während 14 Jahren Theologie. Als er seine Ausbildung beendet hatte, wurde er Prior, wechselte aber immer wieder seinen Arbeitsort. Während dieser Zeit begann er mit ausführlichen lokalhistorischen Forschungen. Im Jahr 1302 brachen in Südfrankreich zahlreiche Aufstände gegen die kirchliche Macht seines Ordens aus, die Bernard an vorderster (Propaganda-) Front bekämpfte. Fünf Jahre später wurde er vom Papst zum obersten Inquisitor der Region um Toulouse, dem unter anderem auch Albi und Carcasonne unterstellt waren, bestimmt. Ein Jahr später wurde er federführendes Mitglied des Provinzialkonzils von Condom. Von jener Zeit an übernahm der Landsmann des Papstes je länger je mehr Aufgaben für die apostolische Kurie in Avignon. 1316 schickte der Heilige Stuhl Bernard Gui zusammen mit einem Franziskanermönch namens Bertrand de la Tour auf eine Friedensmission nach Asti in Italien. Der ausgehandelte Waffenstillstand hielt allerdings nur kurz. Erst als Bertrand del Poggetto als Vermittler bestimmt worden war, konnte der Friede wieder hergestellt werden. Ein Jahr später wurden die beiden von Papst Johannes XXII. wieder als Gesandte ernannt, diesmal um zwischen Frankreich und Flandern Frieden zu stiften, aber erneut waren sie erfolglos. Durch dieses zweifache Versagen in seiner Karriere arg zurückgeworfen, wurde der Inquisitor von Toulouse erst 1324, sieben Jahre vor seinem Tod, zuerst zum Bischof in Galizien , dann zum Bischof von Lodève, einer französischen Kleinstadt, bezeichnet.
Was den Charakter von Bernard Gui betrifft: In einem Buch wird er als \"schildkrötig\" bezeichnet. \"Er besitzt einen ausgeprägten Sinn für die Institution, besonders für die, welche sich stark, widerstandsfähig, treu den bewährten Prinzipien und standhaft verteidigt zeigt. An der Jahrhundertwende vom 13. zum 14. Jh. ist jemand mit einer solchen Einstellung prädestiniert für die Funktion als Inquisitor, eine Funktion, die noch nie für eine besonders schöpferische gehalten wurde.\" Ausserdem, was für das Lesen von Der Name der Rose noch recht interessant ist, hielt Bernard jeden Tag ohne Lachen für einen verlorenen Tag.
Als Inquisitor kümmerte er sich nicht gross um die theologischen Probleme seiner Arbeit. Sie war gerechtfertigt und begründet in den Beschlüssen des päpstlichen Stuhls, mehr musste in damaliger Zeit nicht hinterfragt werden. Obwohl die Ketzer bei ihm auf Abscheu und Unverständnis stiessen, untersuchte er systematisch die Lehren der Verurteilten (zum Beispiel las er die wirklich existierenden Briefe Fra Dolcinos), um sie später einfacher wiederzuerkennen. Hauptziel der Inquisition in Südfrankreich waren die Katharer und Beginen, aber auch Waldenser und Pseudo-Apostel, Wahrsager und Dämonenbeschwörer, Juden und Hexen wurden verfolgt. Insgesamt befand Bernard Gui während seiner Inquisitorenlaufbahn 930 Angeklagte für schuldig, der grösste Teil davon waren kleine Fische, nur gerade zwei waren wirklich Führer einer Sekte. Von den Verurteilten bestrafte er 307 mit einer Gefängnisstrafe, 143 mussten das Kreuz tragen und 42 wurden dem weltlichen Arm überstellt, das heisst hingerichtet; ausserdem liess er 69 Leichen exhumieren, um sie zu verbrennen, sowie 22 Häuser zerstören. Was mit den restlichen Schuldigen geschah, weiss ich nicht. Ich nehme an, dass sie irgendwo unter die Räder gekommen sind, im wahrsten Sinne des Wortes. Erstaunlicherweise landeten \"nur\" ungefähr ein Prozent derjenigen, die der Ketzerei überführt wurden, auf dem Scheiterhaufen. Auch wenn man Bernard Gui einen starken \"Willen zur Strafe\" vorwerfen kann, waltete er vergleichsweise gnädig. Andere Inquisitoren, beispielsweise der berühmt-berüchtigte Thomás de Torquemada, welcher etwa 100 Jahre später in Spanien 16\'000 Verbrennungen veranlasste, wüteten bedeutend schlimmer.
3.2. Sein Werk
Bernard Gui mag zwar ein schlechter Diplomat gewesen sein, aber er war ein begabter und wichtiger Chronist, dessen Werke heute von aussergewöhnlichem Wert sind. Neben einigen theologischen Bücher verfasste er auch einige Lebensgeschichten von Heiligen. Eine seiner bedeutendsten Schriften war der Praktische Leitfaden für die Inquisition , in dem Gui die Rechte und Privilegien der Inquisition, deren Beziehung zur weltlichen Obrigkeit, die Geschichte und Besonderheiten verschiedener Sekten sowie viele nützliche Ratschläge in der Kunst der Untersuchung, des Prozesses und des Verhörs beschrieb. Er schilderte genau die Strafen für Ketzer, die Belohnungen für Denunzianten und die Riten zur Fernhaltung des Bösen vom Gericht.
Obwohl das offizielle Ziel war, die Sünder vom wahren Glauben zu überzeugen (wenn nötig auch unter Folter), hiess das Prinzip des Inquisitors: \"Die Häresie zerstören, was nur geschehen kann, wenn die Ketzer zerstört werden, und sie können nicht zerstört werden, ohne dass auch die zerstört werden, die sie beherbergen, ihnen helfen oder sie verteidigen.\" Das System war relativ einfach: Die Fehltaten der Angeklagten entdecken und dann ein passendes Gesetz dazu finden. Die einzige Möglichkeit für eine milde Behandlung war, dem Ketzertum abzuschwören. Je nach Zeitpunkt, zu dem man sich von seinem falschen Glauben distanzierte, fiel die Strafe härter oder milder aus. Wer sich erst in Todesangst, vor dem Scheiterhaufen, von seinen Fehlern abbringen liess, wurde immer mit lebenslangem Kerker bestraft, wer früher abschwor, konnte mit einer gemässigteren Busse rechnen. Mitläufer und Helfer (beispielsweise Wirte oder Geldleiher) wurden gleich hart bestraft wie Anführer. Jeder, der rückfällig wurde, musste mit seiner Hinrichtung rechnen, ohne angehört zu werden.
3.3. Sein Auftritt
Alle Angaben, die sich im Namen der Rose über Bernard Gui finden, stimmen genau mit denjenigen überein, die ich anderswo gefunden habe. Ausgenommen natürlich seine Anwesenheit zur Zeit der fiktiven Zusammenkunft in der Abtei des Schreckens. Auch sein Charakter stimmt ziemlich präzise mit denjenigen Angaben überein, die ich im einzigen Buch, das ich über ihn gefunden habe, gelesen habe.
Durch das zusätzliche Wissen, das man nun über Bernard Gui hat, werden einige Fragen über das fiktive Geschehen aufgeworfen, einige aber auch beantwortet. Zum Beispiel: Weshalb schickt der Papst einen Mann wie Bernard Gui auf eine so heikle Verhandlungsmission, obwohl dieser ein so schlechter Diplomat ist? Die Antwort scheint mir einfach zu sein: Weil der Inquisitor ein schlechter Diplomat ist. Denn ein Scheitern der Gespräche zwischen Michael von Cesena und der päpstlichen Delegation würde den General des Franziskanerordens zwingen, entweder bedingungs- und schutzlos dem Befehl des Papstes zu gehorchen und nach Avignon zu reisen, oder eine Spaltung der katholischen Kirche zu verursachen. Da dies jedoch eine Verfolgung des gesamten Franziskanerordens durch die Inquisition zur Folge gehabt hätte, konnte dies für Michael keine Lösung sein.
Eine andere Frage ist diejenige, warum Bernard Gui so erbarmungslos gegen die Ketzer in der Abtei vorgeht. Der Logik des Inquisitors folgend, ist es vernünftig, Remigius von Varagine dem weltlichen Arm zur Hinrichtung zu übergeben, da der Cellerar seine jugendlichen Missetaten nicht nur zugibt, sondern sie auch verteidigt und überhaupt nicht bereut. Warum Bernard jedoch auch die beiden andern Sünder, Salvatore und das Mädchen, verbrennen will, ist auf den ersten Blick nicht klar, denn ich bin sicher, sie hätten jeder Häresie abgeschworen, um ihr Leben zu retten. Normalerweise wären Ketzer wie sie wahrscheinlich irgendwo verschwunden, oder kamen, wenn sie Glück hatten, mit einer relativ milden Strafe davon. Hier aber zelebriert der Inquisitor einen grossen Prozess, später auch gegen die andern beiden. Wozu? Ich vermute, dass der Grund, den Gui (oder besser gesagt Eco) hierfür hat, die möglichst grosse Aufmerksamkeit für die Geschehnisse ist. Der vermittelnde Abt und sein Orden sollen in ein schlechtes Licht gestellt werden, weil er bekanntlich die Franziskaner und den Kaiser in ihren Forderungen gegen den Papst unterstützt.
Aber warum hat Umberto Eco gerade Bernard Gui als Inquisitor für seinen Roman gewählt? Ich glaube, dass dies vor allem an zwei Dingen liegt: Erstens hat uns Bernard Gui, für einen weniger bekannten Mann seiner Zeit, eine grosse Zahl von Werken überliefert. So ist es möglich, sich von ihm ein einigermassen scharfes Bild zu machen. Und zweitens ist Bernard Gui ein hervorragender Gegenspieler für William von Baskerville. Beide haben als Inquisitoren zwar die gleiche berufliche Herkunft, in ihren Werten unterscheiden sie sich aber grundsätzlich. Während Bernard die mittelalterliche Denkart und den blinden Glauben an die Autoritäten verinnerlicht hatte, repräsentiert William einen aufgeklärten, humanen Rationalisten.
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