Am 3. Juli 1883 wurde Franz Kafka in einem Haus in der Altstadt Prags geboren. Während seines ganzen Lebens - mit Ausnahme der letzten Lebenszeit, als ihn die Krankheit zwang, Sanatorien aufzusuchen - hat Kafka diesen innersten Bezirk der Prager Altstadt nur selten verlassen. Der Kleine Ring und die Gassen, die vom Wohnhaus Kafkas ausgingen, die "Durchhäuser" mit ihren engen Innenhöfen, an denen sich offene Balkons, "Pawlatschen", entlangzogen - sie waren der Spielplatz des Kindes Kafka. Vom Haus Minutà aus führte auch, im Herbst 1889, der erste Schulweg in die Deutsche Knabenschule am Fleischmarkt. Die Kindheitseindrücke waren dreißig Jahre später noch so stark, das er sie niederschrieb:
Unsere Köchin, eine kleine trockene, magere, .... führte mich jeden Morgen in die Schule. Da ging es also zuerst über den Ring, dann in die Teingasse, dann durch eine Art Torwölbung in die Fleischmarktgasse hinunter. Und nun wiederholte sich jeden Morgen das Gleiche wohl ein Jahr lang. Beim Aus-dem-Haus-treten sagte die Köchin, sie werde dem Lehrer erzählen, wie unartig ich zu hause gewesen bin. Nun war ich wahrscheinlich nicht sehr unartig, aber doch trotzig, nichtsnutzig, traurig, böse und es hätte sich daraus wahrscheinlich immer etwas Hübsches für den Lehrer zusammenstellen lassen..... Nun war ja die Schule schon an und für sich ein Schrecken und jetzt wollte es mir die Köchin noch so erschweren. Ich fing an zu bitten, sie schüttelte den Kopf, je mehr ich bat, desto wertvoller erschien mit das, um was ich bat, desto größer die Gefahr, ich blieb stehn und bat um Verzeihung, sie zog mich fort, ich drohte ihr mit der Vergeltung durch die Eltern, sie lachte, hier war sie allmächtig .... , es schlug acht von der Jakobskirche, man hörte die Schulglocken, andere Kinder fingen zu laufen an, vor dem Zuspätkommen hatte ich immer die größte Angst ... nun: sie sagte es nicht, niemals, aber immer hatte sie die Möglichkeit und sogar eine scheinbar steigende Möglichkeit (gestern habe ich es nicht gesagt, aber heute werde ich es ganz bestimmt sagen) und die ließ sie niemals los. 3
Die Gründe für diese Ängstlichkeit und totenaugenhafte Ernsthaftigkeit des Kindes lagen in der elterlichen Erziehung, soweit man davon überhaupt sprechen kann. Erziehungsskrupel hegte man damals ganz allgemein nicht und schon gar nicht in Kafkas Elternhaus. Das Kind wuchs unter der Obhut von Köchinnen, Ammen und Dienstmädchen auf. Die Eltern sah Kafka selten: Der Vater hatte in seinem ständig vergrößernden Geschäft ein polterndes Domizil aufgeschlagen, und die Mutter mußte stets um ihn sein, als Hilfe und als Ausgleich gegenüber den Angestellten, die dem Vater als Vieh, Hunde und bezahlte Feinde 4 galten. Die Erziehung beschränkte sich auf die Anwesenheit bei Tisch und Befehle, denn auch abends mußte die Mutter dem Vater stets Gesellschaft leisten beim gewöhnlichen Kartenspiel mit Ausrufen, Lachen und Streit. Pfeifen nicht zu vergessen. 5
In dieser dumpfen, giftreichen, kinderauszehrenden Luft des schön eingerichteten Familienzimmers 6 wuchs das Kind auf, die knappen Befehle des Vaters blieben ihm unbegreiflich und rätselhaft und es wurde schließlich so unsicher aller Dinge, daß ich tatsächlich nur das besaß, was ich schon in den Händen oder im Mund hielt oder was wenigstens auf dem Wege dorthin war. 7 Zu dieser Unsicherheit trug besonders die Richtung der väterlichen Erziehung bei, die Kafka im Brief an den Vater bezeichnet: Du kannst ein Kind nur so behandeln, wie Du eben selbst geschaffen bist, mit Kraft, Lärm und Jähzorn, und in diesem Falle schien Dir das auch noch überdies deshalb sehr gut geeignet, weil Du einen kräftigen mutigen Jungen in mir aufziehen wolltest. 8
Aufwachsend in einem meinungslosen Elternhaus, unter rätselhaften Gesetzen und in einer unverständlichen Umwelt, blieb dem Kind nur der Abschluß nach außen: Ich blieb mit meinem Denken bei den gegenwärtigen Dingen und ihren gegenwärtigen Zuständen. 9
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