Celan bezieht die Arbitrarität des Zeichens - wie die Sprachmystik - auf die Motive des Sündenfalls und der Sprachverwirrung von Babel. Babel wird zu einer Chiffre für die Arbitrarität des Zeichens, von dem sich das "lebendige Sprechen" des Gedichts abstoßen muß. Das Besondere an Celans Reinterpretation dieses theologisch-mystischen Erklärungsschemas besteht in dessen nahtloser Verknüpfung mit den historischen Erfahrungen des Faschismus und der Judenverfolgung. Durch diese Verbindung werden die sprachverwirrenden Folgen von Babel aktualisiert und dramatisiert. Die Formulierung "blutschwarz umbabelt" (GWII, 339), "blutschwarz" als Steigerung von "blutrot" bzw. als Beschreibung getrockneten Blutes, verknüpft deutlich die Katastrophe der Konzentrationslager mit der Sprachverwirrung von Babel.
Celan betreibt eine enge Parallelisierung von herrschaftsförmiger Abstraktion in Sprache und Realität:
"Auseinandersetzung mit der ,Verkrüppelung' gesellschaftlichen Lebens durch abstrakte politische Gewalt und mit der ,Verkrüppelung' sprachlichen Lebens durch abstrakt-arbiträre Bedeutungsfunktionen sind für Celan zwei bis zur Indifferenz identische Seiten desselben Abstoßens von ,huriger' und ,umbabelter' [...] Abstraktion: [...]."
Anhand zahlreicher Beispiele weist W. Menninghaus die Bedeutung des Wortes "Baum" (Baum des Lebens, Baum der Erkenntnis) in Celans Darstellung des "Sündenfalls" von Sprache (Babel) und Realität (Auschwitz) nach und zeigt, daß die Metaphorik des Brennens, Glühens und Strahlens die Evokation faschistischer Vernichtung mit der sprachreflexiven Licht-Metaphorik verbindet und ihr entspricht. Damit leistet Celan "auch im metaphorischen Volumen der (metapoetischen) Sprache selbst die Verschränkung von Sprach- und Geschichtskritik." Parallel dazu entspricht die Metaphorik des "Schattens" (und "Atems") als unmittelbare "Präsenz" des Sprechens dem "Postulat einer sich selbst bestimmenden Individualität [...] als der Voraussetzung der Überwindung politisch-gesellschaftlicher Fremdbestimmung" .
Abschließend sollen diese Aspekte am Gedicht "Deine Augen im Arm", das allerdings keine mystisch-theologischen Topoi zitiert, nachgewiesen und veranschaulicht werden.
"DEINE AUGEN IM ARM,
die
auseinandergebrannten,
dich weiterwiegen, im fliegen-
5 den Herzschatten, dich.
Wo?
Mach den Ort aus, machs Wort aus.
Lösch. Miß.
Aschen-Helle, Aschen-Elle - ge-
10 schluckt.
Vermessen, entmessen, verortet, entwortet,
entwo
Aschen-
Schluckauf, deine Augen
15 im Arm,
immer." (GWII, 123)
Die "auseinandergebrannten Augen" verweisen auf einen beschädigten Zustand des Angesprochenen, wobei die elliptische Grammatik der ersten Strophe offen läßt, ob das Subjekt der Verse ein angesprochenes Du oder ein sich selbst zum "Weiterwiegen" aufforderndes Ich ist. Das "Weiterwiegen" kann als Appell zum Durchhalten und Weitermachen, Weiterleben trotz der erwähnten Verletzung verstanden werden. Mit dieser Situation vergleichbar ist die Verfassung der Juden, die die nationalsozialistische Ära überlebt haben. Der "Herzschatten" (5) bezeichnet offenbar dasjenige, das vom Brand geschützt oder zumindest verschont worden ist.
In der zweiten Strophe - "Wo?" (6) - wird nach dem Ort des "Weiterwiegens" gefragt, dem eine Reihe von Antworten folgen, "die den Gegensatz von Brand und Schatten, [...] einer Metapoesie des ,Wortes' einbeschreiben und in sich die Bewegung vom abstrakt-arbiträr ,brennenden' Wort zum ,schattenverheißenden Baumwort' (= ,Name') sowohl postulieren als auch vollziehen."
"Mach den Ort aus, machs Wort aus.
Lösch. Miß."
Dazu schreibt Menninghaus:
"Ort und Wort ,ausmachen' kann einerseits heißen, die lebensvernichtende Abstraktion (Brand) in Geschichte wie Sprache zu tilgen, zu ,löschen'. Andererseits und gleichzeitig dagegen, den lebensermöglichenden (Herz-),Schatten' in Realität und Sprache zu entdecken, ihn auszumessen, zu ermessen. Des weiteren realisiert diese - durch den Vers ,Lösch. Miß.' auch explizit auseinandergelegte - Ambivalenz von ,ausmachen' bereits eben dasjenige, was sie postuliert. Indem die Worte in und an sich selbst zu einem sprachlichen ,Leben' gebracht werden, wird ihr bloß ,dienender' Status ,ausgemacht' im Sinne von ,gelöscht' und ihre expressive Potenz ,ausgemacht' im Sinne von ,ausgemessen'."
Diese doppelte Ambivalenz von "ausmachen" (in der "primären" Semantik und in der Beschaffenheit der Sprache selbst) wird in die folgenden Verse aufgenommen:
"Aschen-Helle, Aschen-Elle - ge-
schluckt."
Die "Aschen-Helle" (9) stellt eine Verbindung mit den "auseinandergebrannten Augen" der ersten Strophe her und wird gleichzeitig zur "Aschen-Elle" (9), einem Maßstab also, der sich auf das "ausmessen" ("Miß." [8]) und "ausmachen" in der dritten Strophe zu beziehen scheint. Den politisch-moralischen Gehalt der Verse hält Menninghaus so fest:
"Celan sieht in dem vergangenen Leid ["Aschen-Helle"] den Maßstab ["Aschen-Elle"], an dem die angestrebte Positivität in Realität (,Ort') und Sprache (,Wort') sich auszurichten hat, eine leidvolle, ,bittere Pille', die ,ge-/schluckt' werden muß."
Gleichzeitig hat das Wort "ge-/schluckt" (9f.) aber noch eine unmittelbar negative Bedeutung:
"[...] die ,Asche' als die ,Elle' gegenwärtiger und künftiger Praxis ist bereits ,ge-/schluckt', nämlich aus dem Erfahrungshorizont verdrängt und vergessen worden."
Die folgende Strophe stellt wieder eine Verbindung mit der in der dritten Strophe festgestellten Ambivalenz her:
"Vermessen, entmessen, verortet, entwortet,"
"Vermessen" (11) im Sinne von "anmaßend", "überheblich" erzeugt einen negativen Impuls, wodurch die positive Konnotation von "Messen" als produktives Erschließen von "Ort" und "Wort" in Frage gestellt wird und so Ort und Wort als das zu "Löschende" ("Lösch." [8]) in den Vordergrund gerückt wird. Das zweite Wort dieser Strophe und Verzeile - "entmessen" (11) - ergänzt, nach Menninghaus, die Bedeutung eines "Befreiens von negativen Formen äußerlicher Erfassung und Markierung (man denke z.B. an die ,Vermessung' der Juden vom Judenstern bis zur KZ-Nummer)." Damit entspräche dieses "entmessen" (11) dem positiven und angestrebten "verorten", das dann zugleich ein "entworten" wäre - und zwar "im Sinne der Überwindung einer - mit der abstrakten Herrschaftsförmigkeit der Realität analogen - arbiträr-instrumentellen Sprachlichkeit" .
In der folgenden Strophe wird dieses "entworten" am Wort selbst vollzogen:
"entwo"
Diese "Wortruine" ist wiederum zweierlei: Zum einen "unmittelbarer Vollzug der Negation instrumenteller Semantik" und zugleich "Position bzw. Richtung auf eine aus sich selbst lebende ,Präsenz' und ,Gestalt' von Sprache" .
"Aschen-
Schluckauf, deine Augen
im Arm,
immer."
Der "Schluckauf" (14) dürfte Celans Forderung nach einer "unabdingbaren Vielstelligkeit des Ausdrucks" (GWIII, 167) genügen. Nach Menninghaus spielt er erstens er auf das "Aufstoßen" derer an, die das vergangene Leid einfach folgenlos hinunter-"schlucken", zweitens darauf, daß dieses (negative) Schlucken nicht gut bekommt oder bekommen wird. Drittens "reaktiviert er auch das Motiv der Umkehrung des Leids [...] und damit der verändernden Aneignung von Realität und Sprache (,Ort' und ,Wort') im Bewußtsein leidvoller Erfahrungen (,Aschen-Helle' als ,Aschen-Elle')." Vor allem an die dritte Bedeutung schließt die Wiederholung von "deine Augen / im Arm" (14f.) an; das "Weiterwiegen" wird durch das abschließende "immer" (16) verewigt.
Diese Interpretation des Gedichts bestärkt die anfangs vorgestellte Theorie einer Verschränkung von Sprach- und Geschichtskritik bzw. Sprach- und Geschichtsutopie. Aufgrund dieser Verschränkung aber ist Celans Intention auf eine Sprache jenseits der "totzuschweigenden Zeichen-/Zone" (GWII, 91) (d.h. jenseits der semiologischen Differenz) konstitutiv gebrochen; die Sprache kann sich nicht vom grellen "Lichtzwang" (so der Titel eines Gedichtbandes) der sprachlichen Abstraktion und vom arbiträren "Leuchtschopf / Bedeutung" (GWII, 297) lösen. Denn nach Celan ist das Gedicht "nicht zeitlos" (GWIII, 186), sondern "wirklichkeitswund und Wirklichkeit suchend" (GWIII, 186), weshalb seine Sprache an zeitlich-historische Wurzeln gebunden bleibt. Das bedeutet, daß der "unerhörte Anspruch" (GWIII, 199) des Gedichts nicht in "absoluter" Weise erfüllbar ist, und erinnert an die Worte aus dem "Meridian":
"Das absolute Gedicht - nein, das gibt es gewiß nicht, das kann es nicht geben!" (GWIII, 199)
Die Parallele ist offensichtlich: Celans Gegenüberstellung von Kunst und Dichtung im "Meridian" entspricht der Gegenüberstellung von semiologischer Differenz und Indifferenz in der Metapoesie seiner Gedichte. Wie die Dichtung den "Weg der Kunst" (GWIII, 193) gehen muß, kann auch die semiologische Indifferenz nicht jenseits von signifikativer Bedeutung existieren, sondern muß ebenso durch diese hindurch gehen. Auch in den metapoetischen Gedichten thematisiert Celan diese Dialektik seines "Sprechens" - und zwar hauptsächlich im ambivalenten Motiv des "Spiegelns":
"Wo immer dieses Motiv begegnet, bringt es gleichzeitig zweierlei zur Darstellung. Einerseits, in Übereinstimmung mit der negativen Lichtmetaphorik, die unauratisch-reflektorischen ,Blendeffekte' sprachlicher wie realer Gleichgültigkeit und Abstraktion. Andererseits, als Spiegeln in zweiter Potenz, das Zurückwerfen und immanente Überwindung der kritisierten Geschichts- und Sprachverfassung mit deren eigenen Mitteln."
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