Das Urbild Werthers ist, streng genommen, niemand anders als Goethe selbst, wie er sich in Dichtung und Wahrheit, abgesehen von einigen historischen Ungenauigkeiten, treffend schildert.
Durchaus bezeichnend für Werthers Seelenleben ist sein Ausspruch, er halte sein Herzchen wie ein krankes Kind, jeder Wille werde ihm gestattet. An einer anderen Stelle lächelt er über einen hohen Gönner, der ihn, seiner Kentnisse wegen, an sich zieht und von seinem Gemüt nicht viel Aufheben macht. Diese Gesinnung erscheint Werther völlig verkehrt, denn dieselben Kentnisse könne jeder haben, aber sein Herz, habe nur er allein.
Er sucht dauernd nach geistigen und seelischen Genüssen, ohne jedoch die Kraft zu besitzen, sich diese zu erringen. Er steigt voll Liebe zu dem gewöhnlichen Volk und zu den Kindern hinab und beschenkt diese regelmässig. Trotzdem ist er eines wirklichen Opfers für seine Mitmenschen nicht fähig. Sein Hass gegen das Weltleben ist im Grunde nichts anderes als ein Hass gegen Arbeit und Unterordnung.
Aber die Hochschätzung seitens vieler Menschen, beweist, dass Werther im Grund ein edler und wohl nur durch den Zeitgeist und andere eigenartige Umstände irregeleiteter Charakter ist.
Ein erfreulicheres Bild gewinnen wir, wenn wir Werthers Verhältnis zur Natur betrachten. In ihr lebt er , ist in der innigsten Weise mit ihr verbunden. In die Natur flüchtet er sich aber nicht nur zu stillem Geniessen, sondern auch, wenn es in ihm braust und gährt. So ist ihm die Natur die stille, vertraute Freundin in Freud und Leid.
Was Werthers Verhältnis zu Gott anlangt, so können wir schon aus seinem Wesen einen Schluss ziehen, aber auch seine Briefe geben uns noch einige Andeutungen. Wohl nennt er Gott den Allwissenden, den Vater, aber wenn ihm dieser Vater eine Lehre erteilen will oder ihm einen Wunsch versagt, so klagt er ihn ebenso bitter an, wie er sich über den Undank der Welt beschwert, wenn ihm nicht jeder Wille erfüllt wird.
Wenn auf irgend jemand, so passt auf Werther das Wort von dem schwankenden Rohr, das der Wind hin und her treibt. Goethe wollte ihn keineswegs als Muster hinstellen; er wollte im Gegenteil schildern, wie ein Mensch, der den Leidenschaften des Herzens ganz und gar nachgibt und schliesslich untergehen muss.
Trotz der schweren Verantwortung, die auf Lotte ruht, trotz der mannigfachen Pflichten, die sie übernommen hat, bewahrt sie sich eine bestrickende Heiterkeit, einen harmlosen Frohsinn, wodurch sie alle Herzen im Sturm erobert.
Anwandlung von Schwermut oder Schwäche weiss sie energisch zu bekämpfen; ihr Klavierspiel und ihr Gesang müssen ihr dazu dienen. Aber Lotte ist auch ein Kind ihrer Zeit, jener schwärmerischen \"Wertherzeit\". Lottens gutes Gemüt zeigt sich am deutlichsten in ihrem Verhalten innerhalb der Familie. Nach dem Tode ihrer Mutter ist sie der eigentliche Mittelpunkt der Familie geworden; sie bewährt sich als Hausfrau und ersetzt den armen Kindern die allzu früh verstorbene Mutter. In der Gesellschaft anderer jungen Leute, namentlich junger Mädchen, zeigt sie eine unverkennbare Ueberlegenheit, eine Eigenschaft, die Goethe vermutlich dem Charakter seiner eigenen Schwester entlehnt hat. Während aber Werther nicht die Kraft besitzt, Mass zu halten und nur die Befriedigung seiner Neigung erfüllt wissen will, bewahrt Lotte jederzeit strengste Mässigung und Selbstbeherrschung, und sie verdient deshalb sehr viel Achtung.
|