Erzählt wird die Geschichte von einem heute etwa fünfzig jährigen Mann, der damals als sich diese teils amüsanten, teils mysteriösen, teils unglaublichen Dinge ereigneten: Er konnte in seinem Kindesalter fliegen. Naja, fast. Aber hätte er es wirklich fest gewollt und es öfter versucht, dann hätte er es gekonnt. Wenn im Herbst der Wind blies; er hätte nur die Arme auszubreiten brauchen und... Das Problem war aber die Landung. Er wußte nicht, wie und wo. Seine große Leidenschaft war es, auf Bäume zu klettern. Aber auch da ergab sich wieder eine Schwierigkeit: Es war leicht, die Wipfel zu erklimmen, jedoch den Abstieg mußte man fast blindlings machen. Man konnte nicht prüfen, ob der nächste Tritt fest und stark oder morsch und glitschig war. Wenn letzteres der Fall war, dann fiel man nach den Gesetzen Galileo Galileis wie ein Stein zu Boden. So passierte es auch in seinem ersten Schuljahr. Der Sturz von der fast fünf Meter hohen Weißtanne ging zu schnell, als daß erden Gedanken fassen konnte, daß er ja fliegen konnte und also nicht zu fallen brauchte. Beim Aufprall durchschlug er mit dem Hinterkopf einen armdicken Ast. Es bildete sich eine Beule, die aber schnell wieder verging. Doch innerhalb der folgenden vierzig Jahre entwickelte sich in seinem Hinterkopf stark ausgeprägte Wetterfühligkeit. Zu den Spätfolgen des Sturzes kann man auch noch dazuzählen, daß er jetzt an Konfusion und Unkonzentriertheit leidet. Es fällt ihm schwer, beim Thema zu bleiben, einen Gedanken kurz und knapp zu fassen, den Faden nicht zu verlieren und nicht vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen, um am Schluß zu wissen, womit er eigentlich angefangen hatte. Um jetzt keine Mißverständnisse zu erzeugen: Er kletterte viel und gut. Er schwang sich von einem Baum zum anderen, baute Hochsitze und Baumhäuser. Er aß, schrieb, las, schlief, lernte und erledigte seine Hausaufgaben in den Bäumen. Er pinkelte sogar von dort oben in hohem Bogen raschelnd durch das dichte Blatt- und Nadelwerk. Er liebte die Ruhe, den Wind, das Blätterrauschen, das Knarren der Stämme, den weiten Blick und die Tatsache, daß er die Sonne, wenn sie am Boden schon untergegangen war, von seinem Ausblick aus immer noch hinter den Bergen sehen konnte. Das war für ihn fast wie Fliegen.Die Geschichte von Herrn Sommer ist eigentlich gar keine Geschichte. Es war nur der wortwörtliche Lebensweg eines seltsamen Menschen. Wie hieß er mit Vornamen? War er Doktor oder Professor? Es wurde gekannt unter diesem Namen: Herr Sommer. Hatte er einen Beruf? Es war nur bekannt, daß Frau Sommer tagtäglich in ihrer gemeinsamen kleinen Wohnung im Malermeister Stanglmeier-Haus kleine Kinderpuppen fabrizierte, die sie einmal wöchentlich zum Postamt brachte und am Rückweg der Reihe nach ihre Besorgungen beim Krämer, beim Bäcker, beim Metzger und beim Gemüsehändler machte. Woher waren sie gekommen? Sie waren einfach irgendwann einmal angereist. Sie mit dem Autobus, er zu Fuß. Sie hatten keine Kinder, keine Verwandten, empfingen nie Besuch. Und obwohl man über Herrn Sommer nichts wußte, war er doch der bekannteste Mann im ganzen Landkreis. Egal ob Mann, Frau, Kind oder Hund. Jeder kannte ihn. Er war ständig unterwegs. Jeden Tag im Jahr, bei jedem Wetter. Herr Sommer war auf Wanderschaft. Die große, hagere Gestalt war auch leicht zu erkennen. Im Winter trug er einen überlangen, steifen, schwarzen Mantel, Gummistiefel und eine rote Bommelmütze. Im Sommer (der für Herrn Sommer von Anfang März bis Ende Oktober dauerte) war er mit einem flachen Strohhut mit schwarzem Stoffband, einem karamelfarbenen Leinenhemd, einer genauso gefärbten kurzen Hose und klobigen Bergstiefeln bekleidet. Im März waren seine, anscheinend nur aus Sehnen und Krampfadern bestehenden, Beine blendend weiß, bis sie bis zum Herbst durch das Wetter dunkelbraum gegerbt worden waren. Sommer wie Winter hatte Herr Sommer einen Rucksack und einen Stock bei sich. Einen langen, leicht gewellten Nußbaumstecken, der ihm bis über die Schulter reichte und ihm als drittes Bein diente, um die enorme Geschwindigkeit zu erreichen und so die großen Strecken zurückzulegen. Sein Rucksack war, bis auf das Butterbrot und die Gummipelerine, die ihn vor Regen schützen sollte, leer. Was war das Ziel seiner Wanderungen? Warum hastete er bis zu sechzehn Stunden täglich durch die Gegend? Kurz nach dem Krieg waren seine Märsche niemandem aufgefallen. Jeder war mit einem Rucksack durch die Gegend gelaufen, um aus anderen Dörfern Heizmaterial und etwas zu Essen zu holen, weil zu Hause in Untern- und Obernsee nichts vorhanden war. Doch Jahre später gab es wieder alles im Dorf zu kaufen. Aber Herr Sommer ging nach wie vor zu Fuß. Er machte keine Besorgungen, keine Besuche, er hielt sich nirgends auf, kehrte nicht ein, ruhte nicht aus. Wenn man ihn fragte, woher er komme und wohin er gehe, schüttelte er nur unwillig den Kopf und murmelte etwas, was man entweder nur teilweise oder gar nicht verstand. Und wenn man nachfragen wollte, war er schon längst wieder davongesaust. Nur einmal in seinem ganzen Leben hörte er, einen vollständigen, deutlichen, unmißverständlich ausgesprochenen Satz aus Herrn Sommers Mund. Es war nach einem Unwetter Ende Juli. Das schlimmste Unwetter seit 22 Jahren. Es hatte Eis in der Größe von Billardkugeln gehagelt, als er und sein Vater von dem sonntäglichen Pferderennen nach Hause gefahren waren. Nachdem sich das Unwetter einigermaßen gelegt hatte, sahen sie plötzlich die hagere Gestalt Herrn Sommers vorbeihasten. Der Vater bot Herrn Sommer an, ihn mitzunehmen. Aber dieser hatte nicht geantwortet, war nicht einmal stehengeblieben. Und als der Vater sein Angebot noch einmal mit lauterer Stimme wiederholte, drehte sich Herr Sommer um, rammte seinen Stock ein paarmal in die Erde und sagte: \"Ja so laßt mich doch endlich in Frieden.\"Als er und der Vater nach Hause kamen, machte er sich Gedanken über Herrn Sommer. Hatte er wirklich Klaustrophobie, wie seine Mutter sagte? Oder machte es Herrn Sommer einfach so viel Spaß zu laufen, wie ihm auf Bäume zu klettern? Aber dann dachte er an Herrn Sommers Gesicht, daß keine Freude ausgedrückt hatte, sondern Angst. Seine Lippen hatten gezittert, als murmelte er irgend etwas. Nein, Spaß machte ihm das ständige Herumlaufen sicher nicht...Ein Jahr später hatte er sich in Carolina Kückelmann verliebt, die ihm aber eines schönen Tages einen Korb gab. Da war er langsam von der Schule heimgegangen. Die Landschaft war wie erstarrt gewesen. Nur ein Pünktchen bewegte sich. Es war Herr Sommer, der regelmäßig wie ein Uhrwerk mit seinen drei Beinen quer über den Horizont lief.Im darauffolgenden Jahr lernte er Radfahren. Das war nötig, denn er mußte von nun an (Wie schon seine Geschwister und seine Mutter zuvor) Klavier stunden bei Fräulein Marie-Luise Funkel nehmen, die am anderen Ende von Obernsee wohnte. Marie-Luise Funkel nannte sich \"Fräulein\", damit die Männer nicht dachten, sie sei schon vergeben. Aber das war reiner Unsinn. Kein Mann hätte Fräulein Funkel geheiratet. Sie war uralt, weißhaarig, bucklig, schrumpelig, hatte ein schwarzes Bärtchen auf der Oberlippe und keinen Busen. Der eigentliche Grund, warum sie sich Fräulein Funkel nannte war, daß es schon eine Frau Funkel gab. Nämlich Fräulein Funkels Mutter. Sie war mindestens hundert und nur noch in sehr eingeschränktem Sinn vorhanden. Sie war eher wie ein Möbel oder ein alter präparierter Schmetterling. Sie saß jeden Tag im Jahr in ihrem Ohrensessel unter der Pendeluhr und bewegte sich nicht. Nur wenn ein Schüler einmal seine schwierigen Hausaufgaben fehlerlos bewältigt hatte, dann bekam er von Frau Funkel einen Keks geschenkt, den sie langsam mit ihrer blauen gläsernen Hand von dem Beistelltischchen nahm und ihn wie ein Stück Gold in des Schülers Hand legte.Einmal kam er zu spät in die Klavierstunde, weil er mit dem viel zu großen Rad seiner Mutter fahren mußte, bei dem er nicht gleichzeitig sitzen und treten konnte, was ihn zu einer ineffizienten, ermüdenden, lächerlichen Fahrweise zwang. Und da war auch noch der Köter von Frau Dr. Hartlaub, der alles attackierte, das sich auf zwei Rädern bewegte. Fräulein Funkel wackelte bedrohlich mit dem Kopf hatte ein rotes Gesicht, rempelte ihn mit dem Ellenbogen in die Seite und schnippte wütend mit den Fingern in der Luft. Als er dann bei einem eigentlich leichten Stück zweimal das Fis nicht erwischte hatte, glühte Fräulein Funkel vor Wut und mußte plötzlich niesen. Sie schneuzte sich und ermahnte ihn zornig bei der letzten Wiederholung Fis zu spielen. Doch als er auf die Taste schaute, erstarrte er. Da klebte am vorderen Ende eine fingernagellange, fast bleistiftdicke, wurmhaft gekrümmte, grüngelblich schillernde Portion schleimig frischen Rotzpopels. Angstschweiß trat in seinen Nacken, seine Ohren wurden heiß und kalt, seine Haare sträubten sich. Und er spielte mit Todesverachtung F. Da nahm Fräulein Funkel einen Apfel und schleuderte ihn so gegen die Wand, daß dort ein brauner Fleck entstand und warf ihren miesen Schüler raus. Dieser war schließlich der Meinung, daß die Welt eine einzige ungerechte, bösartige, niederträchtige Gemeinheit war und wollte sich umbringen indem er sich von einer Rotfichte stürzte. Als er schließlich hoch oben im Wipfel saß und sich hinabstürzen wollte, hörte er ein rhythmisches Klopfen genau unter ihm. Er rührte sich nicht, denn wenn er jetzt gesprungen wäre, hätte er nicht nur sich selbst, sondern auch Herrn Sommer zerschmettert, der jetzt da unten in alle Richtungen um sich sah, ob ja kein Mensch in der Nähe wäre. Nachdem er sich dessen vergewissert hatte, legte er sich der Länge nach auf den Waldboden und gab ein langes, schauerlich klingendes Stöhnen, einen tiefklagenden Brustlaut, das Stöhnen eines gequälten Kranken, ein Stöhnen der Verzweiflung und der Sehnsucht von sich. Dann fraß er sein Butterbrot, spähte um sich und brach panisch auf. Währenddessen saß der Selbstmordkandidat auf dem Baum, zitterte und wollte nicht mehr in die Tiefe springen. Er hatte jetzt einen Mann gesehen, der sein Leben lang auf der Flucht vor dem Tod war.Es vergingen fünf oder sechs Jahre, bis er Herrn Sommer wieder begegnete. Frau Sommer war gestorben. Keiner wußte wann und wo. Keiner war bei ihrer Beerdigung. Herr Sommer wohnte jetzt beim Fischer Riedl unterm Dach. Er war nur selten da, aber das interessierte keinen. Die Leute hatten andere Sorgen. Die Zeit war über Herrn Sommer hinweggegangen. Aber unser Erzähler hatte schrittgehalten. Er war fast sechzehn, hatte sein eigenes Rad. Seine einzigen Probleme waren nun, daß er UKW nur schlecht empfangen konnte und keinen Fernseher hatte, weil der, laut seinem Vater, die allgemeine Verblödung fördert. So fuhr er jeden Tag zu seinem Freund Cornelius Michel, der einen Fernseher besaß. Als er einmal abends in der Dunkelheit nach Hause radelte, sprang ihm die Kette heraus. Diese Prozedur war ihm zwar geläufig, so daß er sie auch in der Dunkelheit durchführen konnte, jedoch hatte er später schmierige Finger. Er ging zum See, um sich seine Hände in den großen Blättern des Ahornstrauches abzuwischen, als er die Dunkle Silhouette Herrn Sommers sah. Dieser stand ein paar Meter vom Ufer entfernt im Wasser. Unvermittelt setzte er sich in Bewegung und ging mit zielstrebiger Hast schnurstracks mitten in den See hinein. Ohne einen Augenblick zu zögern, verbissen, unaufhaltsam schritt er vorwärts. Der verblüffte Zuschauer starrte ihm mit offenem Mund und Augen nach. Er wandte die Augen nicht ab von dem kleinen Punkt des Kopfes, der dort draußen versank. Mit einem Mal war er weg. Lange Zeit blubberten noch Blasen empor, dann nichts mehr. Nur der Strohhut trieb auf dem Wasser nach Südwesten davon.Erst nach zwei Wochen fiel das Verschwinden des Herrn Sommer auf, weil die Frau des Fischer Riedl vergeblich auf ihre Miete wartete. Einen Monat später gab sie eine Vermißtenanzeige auf. Und da konnte man erstmals Herrn Sommers vollen Namen lesen. Maximilian Ernst Ägidius Sommer. In der nächsten Zeit war Herr Sommer Dorfgespräch. Einige sagten, er wäre verrückt geworden und sich verlaufen, andere sagten, er sei ausgewandert, wieder andere sagten, er wäre im Gebirge verunglückt. Nur der, der die Wahrheit wußte schwieg. Er sagte zu niemandem ein Wort. Auch später nicht. Es war keine Angst, keine Schuld, kein schlechtes Gewissen, das ihn schweigen ließ. Es war die Erinnerung an das Stöhnen im Wald, an die zitternden Lippen, an den flehenden Satz. Die selbe Erinnerung die ihn schweigen ließ, als er Herrn Sommer im See versinken sah.Frau Riedl räumte die wenigen Sachen Herrn Sommers in den Keller und vermietete die Wohnung weiter. Herr Sommer war schnell vergessen.
ÜBERLEGUNGEN ZUM INHALT DES BUCHES
Ich habe das Buch schon einmal vor vier Jahren gelesen und habe es damals nicht verstanden. Deshalb habe ich es mir für die Lesediskette ausgesucht. Noch ein Aspekt war, daß ich eigentlich nicht so gerne die sogenannten Bestseller lese, sondern die unbekannten Bücher von namhaften Autoren.Ich finde es spannend, daß man den Namen des Erzählers im ganzen Buch nicht erfährt. Man weiß auch nicht, wie er aussieht. Grundthema des Buches sind die Lebenswege der beiden Hauptfiguren. Der des Erzählers und der von Herrn Sommer. Diese Lebenswege kreuzen sich öfter, aber eigentlich nimmt keiner richtig Notiz vom anderen. Herr Sommer ist meiner Meinung nach ein psychisch kranker Mann, der mit seinem Leben nicht zurecht kommt. Das merkt man vor allem an der Szene im Wald, als er sich ständig angstvoll umsieht und schließlich panisch aufbricht. Vielleicht leidet er ja auch an Verfolgungswahn oder hat im Krieg irgendetwas Schreckliches gesehen. Es könnte ja auch sein, daß er von seinem zweiten \"Ich\" davonlaufen will. Er ist wortwörtlich zu einem Einzelgänger geworden. Es heißt ja auch im Buch, daß das Leben an ihm vorbeigegangen ist. Alles geht weiter. Es sind etliche Spielereien mit dem Oberbegriff \"gehen\" Im Buch verwendet worden. Es gibt ja auch einige Redensarten mit dem Wort \"gehen\": Wie geht es dir? - Mir geht es gut. Geht´s wieder? Geh, laß mich in Ruhe. Das geht alles an ihm vorüber. rot anlaufen. das ist ein Renner! ein längliches Tischdeckchen wird Läufer genanntAuch in der Mundart, wie zum Beispiel: Geh´ zua. Geh´weida. Geh! Wost ned sogst...
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