1. Naturalismus Allgemein
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· Bezeichnung für jegliche Art von Literatur, die ohne Stilisierung, Überhöhung oder Beschönigung der Wirklichkeit auskommt und diese exakt abzubilden versucht
· Begriff Naturalismus umfaßt eine europäische Literaturströmung der Moderne zwischen 1870 und 1900
· naturgetreue Widerspiegelung der empirisch (wissenschaftl. Erklärbaren) erfassbaren Realität
· Hinwendung zur sozialen Umwelt
· Naturalismus nahm in Frankreich und Skandinavien seinen Anfang und ging u. a. mit seiner gesellschaftskritischen Tendenz über die Bestrebungen des bürgerlichen bzw. poetischen Realismus weit hinaus
· In Deutschland waren besonders die naturalistischen Dramen von Bedeutung
· Naturalismus gilt als erste Phase der europäischen Literaturrevolution, verlor aber ab 1895 an Nachdruck
· Erschließung neuer Stoffbereiche (soziale Komponente)
· neue dramatische Strukturen (keine Reime mehr usw., möglichst reale Darstellung z.B. durch Dialekte)
· Wirklichkeitsnah
2. Historische Hintergründe
2.1 Politische Hintergründe
· deutsch-französischer Krieg; Deutschland siegt 1870 / 71
· 1871 Gründung des Deutschen Reichs
· wirtschaftlicher Aufschwung Deutschlands vor allem durch Kriegsentschädigungen Frankreichs
· 1873 Wirtschaftskrise in DT
· 1888 Tod Wilhelms I.; Thronfolger Friedrich III. stirbt noch im selben Jahr > Wilhelm II. übernimmt die Thronfolge
· Bismarck Kanzler des Deutschen Reiches (1871-1890)
· Bismarcks Sozialistengesetz (1878) und Sozialgesetzgebung (1883-89) und Auseinandersetzung mit den Sozialisten => Spannungen in der Gesellschaft
2.2 Gesellschaftliche Hintergründe
· Industrialisierung: Elend der Menschen, Hunger, Armut, Vermassung in den Großstädten, Schlechte Arbeitsbedingungen
· große Fortschritte in den Naturwissenschaften, z.B. Dampfmaschine, Dieselmotor, Schallplatte, radioaktive Strahlung usw.
· unbeirrbarer Glaube an die Wissenschaft
· Großbürgertum: neu gewonnene Machtposition (es war wieder angesagt mit Reichtum zu Protzen, Nachahmung des Lebensstils Wilhelm II)
· Herausbildung einer wirt. besitzlosen Arbeiterklasse (Proletarisierung)
· Verarmung des kleinbürgerlichen Gewerbes
2.3 Literarischer Hintergrund
· wich vor den Widersprüchen der Zeit aus oder harmonisierte sie
· idealisierte das Erreichte (z.B. dt. Einheit, Reichtum, wirtschaftliche Größe)
· stieß nirgends zu Neuem vor, sondern ahmte vorherige Stilrichtungen nach
· Vorherige Stilrichtungen: Biedermeier (Rückzug aus pol. Themen), Junges Deutschland (Kritik der pol. Situation Deutschlands, z.B. Heine), Realismus (wirklichkeitsnahe Darstellung der Welt, z.B. in Romanen)
· Fassadenhafte, Verlogene anerkannten Literatur
· sie stellte nicht die Wirklichkeit dar, sondern verklärte und ästhetisierte (zeigt. sich z.B. in Verdrängung des Elends)
Ursachen: - der verflachte Idealismus des Bürgertums
- gewisser Zwang, ausgehend von Wilhelm II (forderte von den Künsten nationale Begeisterung, sogenannte \"idealistische Ethik\" , Fortsetzung der Traditionen und eine repräsentative Wirkung)
- die Naturalisten wehrten sich gegen diese Verflachung und entwickelten im wesentlichen den Realismus weiter
3. Grundideen des Naturalismus
· Naturalismus ist mit dem Realismus verwandt
· beide haben dieselben geistigen und sozialen Wurzeln (Nat. u. Rel.)
· Grundideen des Realismus konsequent zu Ende zu denken, in einer radikaleren und schonungsloseren Form
· Naturwissenschaft war im 19 Jh. die einzige Wissenschaft, welche als die richtige erfaßt wurde (Positivismus)
· Kunst sollte so kunstlos wie möglich sein, nur das wissenschaftlich Gesicherte hatte Geltung
· das Interesse der Naturalisten war nicht politisch, sondern sozialkritisch
· Naturwissenschaftliche Erkenntnisse wurden verarbeitet:
- Erkenntnisse aus Soziologie (Milieutheorie, Ausbruch aus diesem und freie Entwicklung nicht möglich)
- Psychologie (Sigmund Freud) Mensch wird im wesentlichen von Trieben gelenkt => Laster
- Biologie (Charles Darwin) (deterministisch -Mensch durch Erbanlage, Umfeld, Zeitumstände vorbestimmt, Mensch = Prod. seiner Umwelt)
· Verdrängung des Metaphysischen (dessen, was über die Wirklichkeit hinaus geht, der Urgrund und Sinn des Seins, Fragen des Geistes, Sinn der Existenz usw...)
· die Natur/Realität sollte so wirklichkeitsnah und objektiv wie möglich wiedergegeben werden
· Definition des naturalistischen Theoretikers Arno Holz:
Kunst = Natur - X
X = Bedingungen der Wiedergabe, die Art der Sprache, die dichterische Form (alle dichterischen Stilmittel, z.B. Reimschemas) => je weniger x, desto besser, um so exakter kann die Wirklichkeit wiedergegeben werden
Natur = die Realität, die Wirklichkeit, das reale Leben
Arno Holz: "Unsere Welt ist nicht mehr klassisch,/Unsere Welt ist nicht romantisch, /Unsere Welt ist nur modern....."
- Schwerpunkt ist die Auswahl und die logische Folge der Szenen aus den wirklichen Leben, nicht die künstlerische Gestaltung (X)
4. Ziele des Naturalismus
· Protest an politischer Situation (Hierarchie, Obrigkeitsstaat, insgesamt rückständig und veraltet)
· Protest an gesellschaftlicher Situation (soziale Mißstände, Armut, Hunger, schlechte Arbeitsbedingungen usw...)
· Aufrütteln der Gesellschaft durch schonungsloses Aufdecken der realen Verhältnisse um an mehr: - Humanität
- Toleranz z.B. Gleichberechtigung der Frau
- Sozialem Verhalten z.B. mehr Solidarität mit dem Proletariat
zu apellieren
· insgesamt Charakter einer Protestbewegung, um Mißstände aller Art aufzudecken und damit die Gesellschaft positiv zu beeinflussen
5. Merkmale naturalistischer Literatur
5.1 Themen/Inhalte naturalistischer Literatur
· Großstadtleben
· Alkoholismus
· Arbeitslosigkeit
· Armut
· Kranke und Geistesgestörte
· Kriminalität
· Zerrüttung von Familie und Eheleben
· Lebensverhältnisse der verarmten Arbeiterklasse
· Prostitution, Vergewaltigung
· Milieuleben z.B. in Kneipen, Hinterhöfen...
- neue, vorher tabuisierte Themen, weg von Oberflächlichkeit und Scheinheiligkeit
5.2 Literarische Formen
· Bevorzugte Form war das Drama: - naturalistische Theaterstücke erzielten große Wirkung in der Gesellschaft und eigens dafür gegründete Theater (z.B. 1890 Freie Bühne, Berlin)
· weitere wichtige Form war die Veröffentlichung von Zeitschriften, in diesen wurden die Grundideen des Naturalismus verbreitet, Hochburgen waren u.a. Berlin und München
· seltener angewandte Formen waren die Lyrik und der Roman
5.3 Darstellungsmittel und besondere Merkmale
· Experimentelle Prosa (ungebundener, nüchterner, sachlicher Stil)
· objektiv exakte Widerspiegelung der Wirklichkeit/ des Elends bis ins kleinste Detail, beim Drama bedeutet dies sehr aufwendige Regieanweisungen, auch Mimik und feinste Bewegungen wurden erfaßt
· Einführung Sekundenstil = vollständige Deckungsgleichheit von Erzählzeit und erzählter Zeit - Eindrücke bis ins Kleinste werden möglich
· Traditionelle Dramenform (5 Akte) wurde im wesentlichen eingehalten, aber auch schon Ansäte epischer Form, Naturalismus als eine Art Vorläufer des modernen/epischen Theaters
· häufig offenes Ende und ungeklärte Fragen
· N. stellt die Schattenseiten des Lebens dar, auf positives wird im wesentlichen Verzichtet
· Handlungsträger sind jetzt auch von der Gesellschaft verachtete Personen: z.B. Dirnen, Bettler, Kriminelle, Säufer....
· Dialoge überwiegen Monologe deutlich (Monologe = Wirklichkeitsfremd)
· häufig Kollektivhelden
· Dialekt /Umgangssprache (Realitätsnähe)
· im wesentlichen passives Verhalten der Charaktere
· spielt in Milieus wie z.B. Elendsvierteln, Fabriken, Hinterhöfen, Arbeiterbehausungen...
· Verzicht auf Reim und Formregeln (Verzicht auf künstlerische Gestaltung)
· Zustandsschilderungen, Situationsanalysen
· Radikal und Zeitkritisch
6. Vertreter und wichtige Werke
Dramen
· Gerhart Hauptmann (1862-1946): Vor Sonnenaufgang (1889), Die Weber (1892), Der Biberpelz (1893), Die Ratten(1911)
· Arno Holz (1863-1929)/ Johannes Schlaf (1862-1941): Die Familie Selicke (1890)
· Johannes Schlaf (1862-1941): Meister Ölze (1892)
· Hermann Sudermann (1857-1928): Frau Ehre (Schauspiel, 1889), Johannisfeuer (Schauspiel. 1900), Stein unter Steinen (Schauspiel. 1905)
· Max Halbe: Jugend (1893), Der Strom (1903)
Erzählungen und Romane
· Hermann Sudermann (1857-1928): Frau Sorge (Roman. 1887)
· Clara Viebig: Kinder der Eifel (Novellen. 1897), Das Weiberdorf (Roman. 1900)
· Wilhelm von Polenz: Der Büttnerbauer (Roman. 1895)
· Gabriele Reuter: Aus guter Familie (Roman. 1895)
· Helene Böhlau: Der Rangierbahnhof (Roman. 1896)
· Peter Hille: Die Sozialisten (Roman. 1886)
· Max Kretzer: Meister Timpe (Roman. 1898)
Lyrik
· Arno Holz (1863-1929): Buch der Zeit. Lieder eines Modernen (1885)
· Detlev von Liliencron (1844-1909): Adjutantenritte und andere Geschichten (1883)
Naturalistische Zeitschriften (Schwerpunkte Berlin und München)
· Julius und Heinrich Hart: Kritischen Waffengänge (gegründet 1882)
· Michael Georg Conrad: Die Gesellschaft (gegründet 1885)
· Heinrich Hart: Berliner Monatshefte für Literatur, Kritik und Theater (gegründet 1885)
· Karl Bleibtreu: Die Revolution der Literatur von (gegründet 1885)
7. Beweis der naturalistischen Merkmale am Beispiel: " Die Weber"
· Drama von Gerhart Hauptmann: - 1862-1946
- In Ober-Salzbrunn (Schlesien) als viertes
Kind des Gastwirts Robert Hauptmann geb.
- als 15 järiger Abbruch der Realschule in
Breslau
- 1878 Ausbild. Als Landwirt, Abbruch aus
gesundheitl. Gründen
- 1879 neuer erfolgloser Versuch eines
Schulabschlusses
- 1880 Kunstschule Breslau mit Abschluss
- Studium in Jena und führt Leben als
Bildhauer in Rom
- Kunstschule in Dresden u. Schriftstellerische
Bemühungen
- Zuwendung zur Dichtkunst und ernsthafte
lit. Versuche, erste Erfolge: Bahnwärter Thiel (1887/88) und Vor Sonnenaufgang (1889); Die Weber (1892)
- 1912 Literatur Nobelpreis
- schrieb vorwiegend Dramen, Romane und Erzählungen, aber auch Autobiographien, Reisebücher, Essays, Versepen
· Die Weber gilt als eines der bedeutendsten Werke des deutschen Naturalismus
Inhalt
· spielte in Schlesien während der Zeit der Industrialisierung
· Wiedergabe der Ereignisse des Weberaufstands
· wirtschaftliche Lage der Leinenweber hatte sich über Jahrzehnte hinweg verschlechtert, Grund: Konkurrenzdruck der englischen Leinenweberei, die durch den Einsatz moderner Maschinen billiger und in besserer Qualität produzierte
· immer geringere Löhne und Verschlechterung der Lebensbedingungen waren die Folge
· auch das Vertriebssystem trug dazu bei: dezentral gefertigte Ware der Weber (Heimarbeit) wurde von Großunternehmern aufgekauft und weiter vertrieben, die Preise diktierten die Großunternehmer
· die Weber sind arme elende, von Hunger und Not ausgemergelte Menschen
· sie bitten bei Dreißigers Barchtenfabrik um eine Lohnerhöhung oder um einen geringen Vorschuß
· Expedient Pfeifer, früher selbst Weber und jetzt ein beflissener Leuteschinder im Dienste Dreißigers, lehnt alles ab, krittelt an dem abgelieferten Zeug herum und sucht durch möglichst viele Beanstandungen die Hungerlöhne noch weiter hinunterzudrücken
· Weber werden beschwichtigt und es wird ihnen mitgeteilt, daß 200 neue Arbeiter einstellt werden sollen, in Wahrheit ist diese soziale Maßnahme nur der Vorwand, um die Meterlöhne weiter um ein Fünftel herabzusetzen
· des weiteren wird in vielen Szenen das Elend der Weber dargestellt, sie kommen zum Schluß: " So kann's nicht weitergehen, es muß anders werden."
· die Weber ziehen auf die Straßen und beginnen wieder das alte verbotene \"Lied vom Blutgericht\" (das Trutzlied der Weber) zu singen
· Situation Eskaliert, es kommt zum Aufstand, Weber stürmen die Villa der Dreißigers (konnten noch flüchten), beginnen alles zu zerstören
· Militär schreitet ein, um den Aufstand blutig niederzuschlagen, der fromme Weber Hilse, der noch an Gerechtigkeit glaubt, hält sich heraus und webt während des Aufstands in seiner Hütte, eine verirrte Kugel von draußen trifft und tötet ihn
Auszug aus Die Weber:
Mir kenn d'r nich leben und nicht sterben hier oben.
Uns geht's leider beese, kannst's glooben.
Eener wehrt sich bis ufs Blutt.
Zuletzt muß man sich dreingeb'n.
Die Not frißt een's Dach iebern Koppe und a Boden
unter a Fießen. Frieher, da man noch am Stuhle
arbeiten konnte, da hat man sich halbwegens mit
Kummer und Not doch kunnt aso durchschlag'n.
Heute kann ich m'r schonn ieber Jahr und Tag
kee Stickl Arbeit mehr erobern.
Nachweis:
· reales Thema aus der Wirklichkeit: Weberaufstand (z.B. Anspielung auf den Namen des Großunternehmers, real: Zwanziger, im Drama: Dreißiger)
· Dialekt/Umgangssprache: beese, glooben, eener, Blutt, Koppe, Stickl, .......
· vollständiger Verzicht auf künstlerische Stilmittel, z.B. keine Reime
· spielt im Milieu der verarmten Weber, z.B. in den Weberbehausungen
· Kollektivhelden: die Weber als Ganzes
· Handlungsträger: Die Weber, verarmtes Proletariat, eine der ärmsten Schichten der Gesellschaft
· Objektiv exakte Widerspiegelung des Elends: z.B. Szene in der Hütte des Häuslers Ansorge: der völlig verarmte Weber Baumert, der seit zwei Jahren kein Fleisch mehr gegessen hatte, muß seinen Hund schlachten und essen, um nicht zu verhungern, sein geschwächter Magen kann das Fleisch nicht bei sich halten
· Radikal und Zeitkritisch: Weberaufstand war die erste proletarische Erhebung von weit reichender Bedeutung in Deutschland: Zum ersten Mal entluden sich soziale Spannungen, großes öffentliches Interesse
· unerwartetes und offenes Ende mit vielen ungeklärten Fragen: Drama endet unverhofft, als der alte Weber Hilse, welcher nicht am Streik beteiligt ist, durch diesen getötet wird, was weiter geschieht, oder ob die Forderungen erfüllt werden, bleibt im Drama ungeklärt
Zusammenfassend stellt "Die Weber" eines der Hauptwerke des Naturalismus dar. Alle wichtigen Merkmale des Naturalismus sind in diesem Werk enthalten und es verfehlte nicht seine Wirkung, durch das schonungslose Aufdecken der sozialen Spannungen und des Elends, ein großes Interesse in der Öffentlichkeit zu erzeugen.
8. Bewertung des Naturalismus
· Radikal und zeitkritisch => Charakter einer Protestbewegung, Ursprung in der Unzufriedenheit
· Naturalismus war eine kurze, aber sehr heftige Erscheinung
· Naturalismus ist die erste Phase der europäischen Literaturrevolution
· Bürgerlich/intellektuelle, vorwiegend literarische Protestbewegung (keine politische)
· Naturalismus als Zwischenakt der vorher eher "traditionellen" Epochen und des nachfolgenden episch/modernen Theaters: - zu einem traditionelle Dramenform, aber auch schon episch/moderne Ansätze
· In der wirklichkeitsnahen Darstellung des Elends ist der Naturalismus sehr objektiv, da aber alle positiven Aspekte komplett weggelassen wurden ist der Naturalismus aber auch subjektiv, denn die Wirklichkeit ist nicht nur negativ, sie kann auch positive Züge aufweisen, diese Einseitigkeit hin zum Elend beruht wahrscheinlich auf dem Anliegen der Naturalisten, die Gesellschaft so effektiv wie möglich aufzurütteln
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