Das Wort "Märchen" ist eine Verkleinerungsform von "Mähre".
"Die Mähre ist im eigentlichen Sinn ... eine Nachricht oder Botschaft von einer Sache, einem Geschehnis, einer Wahrheit die berühmt ist oder berühmt zu werden verdient, so dass sie sich herumspricht." 1
In dieser Definition ist bereits enthalten, dass Märchen ursprünglich mündlich überliefert wurden. Dass es sich bei "Märchen" um eine Diminutivform handelt, weist auf die Art dieser Literaturgattung hin. Denn Märchen sind meist kurz und werden oft nicht ernst genommen. Eine Verkleinerungsform kann den Anspruch auf Ernsthaftigkeit vermindern, dies zeigt der Vergleich von "Freund" und "Freundchen". Auch die Bezeichnung "Ammenmärchen" wurde wahrscheinlich von dieser Seite geprägt, denn Ammenmärchen sollten zur Unterhaltung von Kleinkindern und kleinen Geistern beitragen und wurden deshalb niemals als glaubwürdig eingestuft.
Die Gebrüder Grimm sind nicht die ersten, die sich mit dieser Literatur für Kinder beschäftigten. Der Italiener Francesco Francesco Straparola wird als erster Märchensammler aufgeführt, nachdem er ,Le piacevoli notti' veröffentlicht hat. Diese zwei Teile mit insgesamt 74 Erzählungen waren noch im 16. Jahrhundert auf dem kirchlichen Index der verbotenen Bücher verzeichnet, da Straparola die Texte so gut wie unverändert festhielt.
Rund 120 Jahre später erschien das Pentamerone, das als eines der bedeutendsten Märchenbücher der Weltliteratur bezeichnet wird. Die Brüder Grimm erwogen sofort eine deutsche Bearbeitung dieser Märchensammlung von Giambattista Basile, um sie in ihren ,Kinder- und Hausmärchen' als Anhang zu verwenden. So erscheint 1822 selbständig ein Anmerkungsband zu den ,Kinder- und Hausmärchen', der alle 50 Märchen des Pentamerone in gekürzter Form enthält. Baslie hat diese Märchen zwar der mündlichen Tradition entnommen, hat sie aber im Gegensatz zu Straparola aufgebauscht und so dem Geschmack der Barockzeit angepasst. Das Pentamerone ist für die Märchenforschung bereits deshalb so wichtig, weil Wilhelm und Jacob Grimm mehr als 30 dieser Geschichten in der deutschen Märchenkultur, die wohl kaum durch Basile beeinflusst wurde, entdeckten. Folgendermassen sind Basile die Erstbelege für viele berühmte europäische Märchen zuzuschreiben.
Ein weiterer erwähnenswerter Märchensammler ist Charles Perrault. Er hatte einen sehr breiten und tiefen Einfluss auf die deutsche Märchentradition. Wilhelm Grimm schreibt über ihn:
"Perrault hat die Märchen rein aufgefasst und, Kleinigkeiten abgerechnet, nichts zugesetzt; der Stil ist einfach und natürlich, und, so weit es die damals schon glatte und abgerundete Schriftsprache zuliess, ist auch der Kinderton getroffen." 2
Diese Vorgehensweise bei der Sammlung von Märchen entspricht der der Brüder Grimm. So haben auch sie versucht die Texte wenig abzuändern und sie in einer einfachen Sprache festzuhalten.
Die Frage, weshalb die Grimmschen Märchen so erfolgreich waren und sind, ist einfach zu beantworten, wenn man die Lebensumstände dieser Zeit kennt. Durch die industrielle Revolution wurden die Familienstrukturen sowie die Erwerbs- und Lebensgewohnheiten stark verändert. Die allgemeine Schulpflicht bewirkte, dass die Zahl der Analphabeten sank und so die mündliche Weitergabe von Märchen von der schriftlichen verdrängt wurde. Auch die Auflösung vieler Meisterbetriebe und die Herausbildung der Kleinfamilie aus der einstigen Grossfamilie bewirkte dasselbe. Die Menschen hatten weniger Orte der familiären und gemeinsamen Gemeinschaftsarbeit und -freizeit. Als nun die Märchen in Buchform erhältlich war und die Mütter lesen konnten, glaubten sie in den Kinder- und Hausmärchen ein ideales Vorlesebuch gefunden zu haben. Die Märchen sind in einer kindgerechten Sprache geschrieben und vermitteln teilweise Moralvorstellungen. So kann der grosse Erfolg der Kinder- und Hausmärchen nicht derer Qualität zugeschrieben werden, sondern der Tatsache, dass sie genau zur richtigen Zeit von der mündlichen zur gedruckten Form wechselten.
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