Brave New World (1932)
von Aldous Huxley
1. Autor
Aldous (Leonard) Huxley wurde 1894 in Godalming (Surrey) geboren. Sein Großvater war der berühmte Biologe T. H. Huxley, der sich als streitbarer Verteidiger von Darwins Theorien den Beinamen \"Darwin's Bulldogge\" erworben hatte. Nach dem Besuch der Public School in Eton, wo er aufgrund einer Krankheit beinahe erblindete, studierte Huxley in Oxford Englische Literatur und veröffentlichte sein erstes Buch 1916. Von 1919 to 1921 arbeitete er für die Zeitschrift Athenaeum. Nach längerem Aufenthalt in Italien und Südfrankreich ließ sich Huxley 1937 in Kalifornien nieder, wo er am 22. November 1963 in Los Angeles starb. Zu seinen wichtigsten Werken gehören Crome Yellow (1921), Eyeless in Gaza (1936), The Devils of Loudun (1952), Brave New World Revisited (1958).
2. Inhaltsangabe nach Kapiteln
Der Titel von Aldous Huxleys Roman Brave New World entstammt einem Zitat aus Shakespeares Schauspiel The Tempest, in dem Miranda ausruft: \"O, wonder! How many goodly creatures are there here! How beauteous mankind is! O Brave New World that has such people in it!\" Am Ende des achten Kapitels benutzt John diese Worte, um seine Freude über den Vorschlag, sich die Neue Welt anzuschauen, auszudrücken. Brave bedeutete zu Shakespeares Zeit \"herrlich, schön\", deshalb lautet die Übersetzung dieser Stelle - und damit auch der deutsche Titel des Romans: \"O schöne, neue Welt, die solche Bürger trägt!\" Bernard warnt den ahnungslosen John, \"Hadn\'t you better wait till you actually see the new world?\" Der Roman umfasst 18 Kapitel.
Chapter 1: Führung durch die Brut- und Normzentrale
Im Jahre 632 a. F. (after Ford; Ford ist der neue Gott der Neuen Welt) führt der Director of Hatcheries and Conditioning (D. H. C.) eine Gruppe von Studenten durch die Brut- und Normzentrale in London und erklärt ihnen im Befruchtungsraum, wie im Labor durch das Bokanowskyverfahren (\"one of the major instruments of social stability\") der neue Mensch künstlich geschaffen wird. Babys werden nicht mehr von Müttern geboren, sondern dekantiert (\"entkorkt\") und bereits im Labor auf ihre zukünftigen Aufgaben vorbereitet.
Chapter 2: Konditionierung und Kastensystem
Im weiteren Verlauf der Führung demonstriert der Direktor die Methoden der Prägung. Durch Elektroschocks wird in den Babys eine Abneigung gegen Bücher und landschaftliche Schönheit verankert, die Schlafschulung (Hypnopädie) wird zur Entwicklung eines Kastenbewusstseins und zur Stärkung der sittlichen und sozialen Gefühle eingesetzt.
Chapter 3: Mustapha Mond über die Prinzipien von Utopia
Mustapha Mond, einer der zehn Weltaufsichtsräte, erklärt den Studenten wichtige Prinzipien, auf denen die Neue Welt Utopia beruht: Geschichtslosigkeit, sexuelle Freiheit (Promiskuität) und Drogenkonsum (Soma).
Chapter 4: Bernards und Leninas Reisepläne
Lenina Crowne, die im Embryoraum der Brutanstalt arbeitet, erinnert Bernard Marx, der Lenina mag, an ihren Plan, gemeinsam nach New Mexico zu reisen. Dann fliegt sie mit ihrem Arbeitskollegen, dem Wissenschaftler Henry Foster, im Helikopter zu einer Partie Obstacle Golf. Derweil unterhält sich Marx mit seinem Freund Helmholtz Watson, der mit seiner Arbeit als Propagandist nicht zufrieden ist (\"I feel I could do something much more important.\")
Chapter 5: Bernard beim Solidarity Service
Wie jeden zweiten Donnerstag besucht Bernard eine Eintrachtsandacht (solidarity service), die mit einer Orgie endet. \"Orgy-porgy, Ford and fun, kiss the girls ...\", lautet der liturgische Refrain.
Chapter 6: Bernards und Leninas Abreise
Obwohl Lenina einen zwiespältigen Eindruck (\"odd was Lenina's verdict\") von Bernard Marx hat, will sie weiter ihm in die Savage Reservation reisen, weil Marx als Alpha-plus einer der wenigen ist, der dazu eine Erlaubnis erhält. Während der D. H. C. den Passierschein ausstellt, erzählt er von seinem eigenen Besuch im Reservat, bei dem eine junge Frau seiner Begleitung verschwand. Er droht Bernard mit Exil in Island, sollte er seiner Pflicht, infantil zu sein, nicht nachkommen.
Chapter 7: In der Reservation
In der Reservation - einem durch Elektrozäune von der zivilisierten Welt abgeschlossenen Areal, in dem Kinder noch geboren werden, in dem es noch Familien und Krankheiten gibt - treffen Bernard und Lenina einen jungen Wilden namens John.
Chapter 8: John erzählt
John, der - wie Bernard bald ahnt - in Wirklichkeit der Sohn des D. H. C. aus seiner damaligen Verbindung mit der verschwundenen jungen Frau ist, erzählt seine Lebensgeschichte und von seiner Außenseiterposition unter den Wilden. Aus den Erzählungen seiner Mutter Linda und aus der Lektüre Shakespeares hat er sich ein eigenartiges Bild von der Neuen Welt Utopia erdacht. Bernard Marx macht John den Vorschlag, ihm die Neue Welt zu zeigen.
Chapter 9: John verliebt sich in Lenina
Bernard erhält vom Controller Mustapha Mond persönlich die Genehmigung, John und seine Mutter Linda nach London zu bringen (\"as a matter of sufficient scientific interest\"). John bewundert die schlafende Lenina, die sich in einen Somaschlaf versetzt hat, er kniet an ihrem Lager und rezitiert Shakespeare, schämt sich jedoch seiner Gefühle: \"He was ashamed of himself.\"
Chapter 10: Bernards Auseinandersetzung mit dem D. H. C.
In aller Öffentlichkeit will der Direktor im Befruchtungssaal an Bernard Marx wegen seiner unorthodoxen Haltung (\"an enemy of Society\") ein Exempel statuieren und seine Verbannung verkünden. Doch Marx holt zum Gegenschlag aus, indem er Linda, die alte Freundin des Direktors, und John präsentiert. Der fällt auf die Knie und ruft - zum Entsetzen aller Anwesenden: \"My father!\"
Chapter 11: Johns Reaktion auf die Neue Welt
Nach dem Rücktritt des D. H. C. berichtet Bernard dem Controller, dass John, der für die Bewohner der Neuen Welt eine Attraktion darstellt, ziemlich unbeeindruckt von allen modernen Errungenschaften ist (\"shows surprisingly little astonishment [...] and awe\") und die Einnahme von Soma ablehnt. Lenina reagiert mit Unverständnis auf Johns distanziertes Verhalten ihr gegenüber.
Chapter 12: John rebelliert
John entzieht sich der öffentlichen Zurschaustellung und unterhält sich mit Helmholtz Watson lieber über Poesie und Shakespeare.
Chapter 13: Johns Heiratsantrag
John gesteht Lenina seine Liebe: \"I love you more than anything in the world.\" Sie versteht dieses Bekenntnis als direkte Aufforderung, entledigt sich sofort ihrer Kleider - zum Schrecken für John, der von der reinen Liebe träumt, Lenina eine Hure nennt und hinauswirft (\"get out of my sight or I'll kill you.\") John wird telefonisch davon benachrichtigt, dass seine Mutter todkrank im Hospital liegt.
Chapter 14: John im Hospital for the Dying
Im Zimmer seiner sterbenden Mutter Linda wird einer Bokanowsky Gruppe beigebracht, dass Sterben etwas Angenehmes und Natürliches ist. Johns Trauer um seine Mutter bleibt den Kindern unverständlich.
Chapter 15: John ruft zur Rebellion auf
John verursacht einen Aufstand, als er eine Gruppe von Delta-Arbeitern, die ihre Soma-Ration erhalten, zur Rebellion aufruft. Die Polizei erstickt die Auflehnung im Keim und nimmt John, Bernard, und Helmholtz fest.
Chapter 16: Auseinandersetzung mit Mustapha Mond
Die Festgenommenen werden dem Controller vorgeführt, der ihnen die Prinzipien erklärt, auf denen Utopia aufgebaut ist. Bernard wird nach Island geschickt, Helmholtz auf die Falkland Inseln.
Chapter 17: Mustapha Mond und John
Mond und John setzen ihre Diskussion über die Neue Welt fort. Der vermeintlichen Zufriedenheit und der Erfüllung aller Wünsche setzt John die Freiheit des Einzelnen gegenüber, auch unglücklich zu sein: \"I'm claiming the right to be unhappy.\"
Chapter 18: Johns Selbstmord
Bernard und Helmholtz verabschieden sich von John, der sich in England einen Ort sucht, wo er zur Selbstreinigung das Leben eines Einsiedlers führen möchte. Doch Reporter stöbern ihn in seinem Versteck in Surrey auf. Als die sensationslüsternen Gaffer bei ihm auftauchen, um ihn leiden zu sehen (\"Let's see the whipping stunt.\") und als Lenina erscheint, begeht John Selbstmord.
3. Kernaussage
In seinem Roman Brave New World zeichnet Aldous Huxley die düstere Vision einer zukünftigen Gesellschaft, in der die Menschen zwar keinen wirtschaftlichen Mangel leiden, dafür aber jeglicher Individualität beraubt sind. Eine kleine Gruppe von Mächtigen hat die Fortschritte in der wissenschaftlichen Forschung dazu benutzt, ein System zu errichten, in dem die ahnungslose Masse, ohne dass sie es überhaupt merkt, unter Kontrolle gehalten wird, in der alle ideellen Werte aufgehoben sind, wo der Mensch auf seine materielle Existenz reduziert ist, in der es keinen Raum mehr gibt für Schönheit, Freiheit oder Kreativität. Huxley warnt vor einer Welt, die dem Menschen durch die simple Befriedigung primitiver Bedürfnisse und Triebe eine Zufriedenheit suggeriert, ihn in Wahrheit jedoch der Sinnlosigkeit ausliefert.
Das Motto der Brave New World
Die Ziele des neuen Staates sind in seinem Motto Community, Identity, Stability (\"Gemeinschaftlichkeit, Einheitlichkeit, Beständigkeit\") zusammengefasst. Es ist dies eine Umkehrung und bittere Parodie der demokratischen Ideale der Französischen Revolution, die - in der entsprechenden Reihenfolge - Fraternity (Brüderlichkeit), Equality (Gleichheit), Freedom (Freiheit) lauten. In Utopia wird Gemeinschaftlichkeit an Stelle von Individualität gesetzt. Niemand ist mehr allein, alles wird in der Gruppe gelebt. Der Einzelne gilt nichts mehr, da individuelles Denken das ganze System in Frage stellen könnte. So werden Abweichler und Unzufriedene wie Marx und Helmholtz in die Verbannung geschickt, wo sie keine Gefahr mehr darstellen. Einheitlichkeit ist ebenfalls ein Gegensatz zu Individualität und bedeutet die Aufgabe jeglicher persönlicher Ziele in der Lebensgestaltung, im Beruf z. B., und wird als Grundvoraussetzung für das oberste Ziel des Staates, die Beständigkeit, die Stabilität betrachtet. Wenn alle Menschen gleich sind - gleichartig, nicht gleichberechtigt -, gibt es nach der Auffassung des World Controllers keine Konflikte mehr, es herrscht Ruhe in der Gesellschaft - eine Art Friedhofsruhe. Der Preis, den die Menschen zahlen müssen, ist hoch. In der Neuen Welt ist kein Platz für Liebe, Familie, Wissenschaft, Religion, Literatur, Kunst oder Geschichte. Am Beispiel Johns zeigt Huxley, wie die völlige Kontrolle des Staates alle Eigeninitiative erstickt und keinen Platz zur persönlichen Entfaltung lässt. Alles im Leben ist vorprogrammiert, die Menschen selber sind vorprogrammiert - nur ahnen sie es nicht. Der Staat setzt alle technischen und psychologischen Mittel ein, um Ordnung und oberflächliche Zufriedenheit, die Ziele, die im Motto formuliert sind, zu erreichen. Der Unsicherheitsfaktor im Staatsgebilde - der Mensch selber - ist berechenbar, kalkulierbar und damit beherrschbar geworden. Ungefährdet über allen Ahnungslosen thronen die Machthaber und Wissenden, denn nur für sie ist Utopia eine Schöne Neue Welt.
Die Schaffung des Neuen Menschen
In Orwells Anti-Utopie Nineteen Eighty-four haben die Machthaber erkannt, dass individuelle Bindungen die Stabilität des Staates gefährden und unterwerfen daher das persönliche Umfeld der Menschen der ständigen Kontrolle. Der World Controller in Huxleys BNW geht radikaler vor, um das Ziel Stabilität zu erreichen. In der Neuen Welt gibt es die Institution Familie - nach unserer Auffassung \"die Keimzelle des Staates\" - überhaupt nicht mehr. Wörter wie \"Mutter\" und \"Vater\" gelten als obszön. Die Tatsache, dass er Vater geworden ist, stürzt den Direktor der Brutanstalt in tiefe Schande und kostet ihn Posten und Karriere. Der Staat hat die Methoden der industriellen Fließbandproduktion auf die Herstellung von Menschen übertragen, und so wachsen die Kinder nicht mehr im Mutterleib heran, sondern werden in Flaschen im Labor produziert. Aufgrund dieser absoluten Kontrolle bestimmt der Staat von Anfang an die Zahl der Menschen, die auf der Welt leben, ihre Intelligenz und auch ihre soziale Rolle. Jeder Einzelne wird mit dem Verstand und der Lebensplanung ausgestattet, die einer der fünf Klassen, angefangen mit den wenigen intelligenten Alphas - der Elite, bis zu den massenhaften niederen Epsilons - den Arbeitssklaven, entsprechen. Die Menschen werden an die Bedürfnisse des Staates angepasst - eine Umkehrung, eine Perversion der Funktion der Regierung, wie sie z. B. in der Declaration of Independence definiert ist. Dort heißt es, der Regierung solle nur für die Rahmenbedingungen sorgen, innerhalb derer dann jeder Einzelne nach seinem ganz persönlichen Glück streben kann (the pursuit of happiness). In Huxleys Neuer Welt entscheiden die Menschen nicht selber über ihren Lebensweg, sondern als Kinder werden sie bereits auf eine bestimmte Beschäftigung hin so geprägt, dass sie die Arbeit, die sie verrichten müssen, auch mögen und mit ihr zufrieden sind. Der individuelle Wunsch, der persönliche Ehrgeiz, sogar Zufall oder Schicksal sind völlig ausgeschlossen - der World Controller hat sich zum Gott der Erde gemacht.
Missbrauch der Gentechnik
Fünfzehn Jahre nach dem Erscheinen seines Romans schrieb Huxley im Vorwort zur Ausgabe von 1946 - die traumatische Erinnerung an Hiroshima war noch ganz frisch -, er habe weniger auf die Bedrohung durch die militärische Verwendung der Atomkraft hinweisen wollen als vielmehr auf die Gefahren, die durch einen Missbrauch der Biologie und der Psychologie drohen, weil diese Wissenschaften einen direkten Einfluss auf den Menschen nehmen können. \"It's only by the sciences of life that the quality of life can be radically changed.\" Huxley warnt vor einem Missbrauch der Gentechnik (genetic engineering). Wir stehen heute mehr denn je vor den ethischen Fragen, die durch die Fortschritte in der Biomechanik aufgeworfen werden. Was Huxley als Horrovision an die Wand malte, scheint heute realisierbar: Der Mensch verfügt über die Techniken, die Erbanlagen eines Organismus zu ändern oder auf einen anderen zu übertragen. Diese Übertragung genetischen Materials, der DNA, schien bisher auf Bakterien, Viren und Pflanzen beschränkt, wo sie zum Segen für den Menschen eingesetzt werden kann. In der Landwirtschaft können Pflanzen gegen Krankheiten immunisiert und so die Erträge erhöht werden. Eine Hoffnung vor allem für die Hungernden in der Dritten Welt. Auch in der medizinischen Forschung können durch die modernen Verfahren neue Medikamente entwickelt oder sogar durch Veränderung der Gene Erbkrankheiten behandelt werden. Eine verschärfte Diskussion insbesondere über die Gefahren der Gentechnik brach allerdings aus, als Anfang 1997 in Edinburgh das Schaf Dolly präsentiert wurde. Wissenschaftlern war es gelungen, aus einer Zelle eine identische Kopie eines erwachsenen Tiers zu produzieren: Dolly war die Reproduktion seiner genetischen Mutter. Was in Huxleys Utopie noch als fantastisches Verfahren in einer fernen Zukunft erscheint, ist heute möglich geworden. Die Wissenschaftler verfügen über die technischen Mittel, Leben ohne Sperma zu schaffen, Tiere - und damit letztendlich auch Menschen - zu kopieren, zu klonen (cloning of humans). So könnte eine Frau einen identischen Zwilling ihres Vaters zur Welt bringen - eine beängstigende Aussicht. Huxley geht noch weiter: Den politischen Machthabern in Brave New World ist es gelungen, die Kontrolle über die wissenschaftliche Forschung zu erringen und sie für ihre politischen Zwecke einzusetzen. Im Labor werden die durch Manipulation des Erbguts angepasste Menschen erzeugt, die sich kritiklos in die staatliche Ordnung einfügen. Um sein Ziel \"Stabilität\" zu erreichen, setzt der World Controller weitere Mittel ein.
Psychologische Manipulation
Nach der Geburt, dem \"Entkorken\", werden die Babys psychologisch manipuliert, sie werden geprägt, konditioniert, d. h. es wird ihnen durch Schlafschulung (hypnopaedia) ein bestimmtes Verhalten eingeübt. Abscheu gegenüber Büchern wird in ihnen tief verankert, dadurch dass Bücher mit negativen Erlebnissen gekoppelt werden.
Promiskuität
Huxleys Neue Welt ist nach unseren Maßstäben eine zügellose Gesellschaft, in der es die Ehe (Monogamie), die Treue in der Partnerschaft nicht mehr gibt, in der Sex als Spiel begriffen und als primäre Quelle des Glücks propagiert wird. Im Schlaf wird den Kindern beigebracht, \"everyone belongs to everyone else.\" Echte Liebe und Treue zu einem Partner würde die \"Gemeinschaftlichkeit (community) und Beständigkeit (stability) gefährden. Da Kinder im Labor gezeugt werden, darf es keine natürlichen Geburten mehr geben, ist Schwangerschaft streng verboten. Die meisten Frauen sind steril oder werden gedrillt (\"Malthusian drill\"), empfängnisverhütende Mittel zu nehmen.
Drogen
Eine Gesellschaft, die Stabilität als ihr Hauptziel definiert hat, muss darauf achten, dass alle Menschen glücklich und zufrieden sind. Alle Emotionen, die das Glücksgefühl beeinträchtigen könnten, sind in der Neuen Welt ausgeschaltet. Leidenschaft, Sehnsucht, Schmerz, Trauer - sie alle gibt es nicht mehr, bzw. sobald sich auch nur Anflüge von Frustration einstellen, greift der Mensch zu Soma, der perfekten Droge, die keine schädlichen Nebenwirkungen besitzt und vom Staat kostenlos zur Verfügung gestellt wird. Für Lenina ist es zur Gewohnheit geworden, sich der Auseinandersetzung mit Problemen zu entziehen, indem sie zu ihrer Soma-Flasche greift, und Linda flüchtet völlig in die Scheinwelt der Droge, wo sie Vergessen zu finden hofft.
Betonung von Unterhaltung und Konsum
Die Weltaufsichtsräte handeln ähnlich wie die Kaiser im Alten Rom. Sie halten das Volk ruhig, indem sie ihm \"Brot und Spiele\" (panem et circenses) d. h. \"genügend zu essen und spektakulöse Schauspiele\" (so der Kaiser Trajan 96 - 117 n. Chr.) bieten. In der Neuen Welt leiden die Menschen keinerlei wirtschaftliche Not, und zur Unterhaltung, zur Ablenkung, zur Vermeidung von Langeweile gibt es eine neue Art von Filmen, Feelies genannt, die den Menschen eine echte Erlebniswelt, über die sie selber nicht mehr verfügen, vorgaukeln. Eigenes, originelles Leben und Erleben ist nicht mehr möglich. Was die Menschen bekommen, ist \"Leben aus zweiter Hand\". Sie verkommen zu Gaffern, die sich am Leid anderer vergnügen; deshalb reist die Masse in Scharen zu John, dem Wilden, um seiner Auspeitschung beizuwohnen. Ständig wird etwas angeboten, immer gibt es \"Action\". Gemeinschaftliche sportliche Betätigungen, wie z. B. Obstacle Golf und Centrifugal Bumble-puppy lassen keine Zeit zum Innehalten, um zur Besinnung zu kommen. Vor allem dienen sie aber dazu, den Konsum anzuheizen. Zur Ausübung der Sportarten sind umfangreiche Ausrüstungen nötig - und wer sich heute auf den Tennisplätzen oder Skipisten (und nicht nur dort, sondern auch auf anderen \"Sportplätzen\") umschaut, wird erkennen, dass heute eine ganze Ausstattungsindustrie von den Millionen von Freizeitsportlern lebt, die unbedingt das neueste Equipment, das teuerste Outfit, benötigen, auch wenn sie es in ihrer Sportart zu nichts gebracht haben - außer zu einem Tennisarm oder zu einem Beinbruch.
Die Ächtung der Geschichte
Neben der Eliminierung der Institution Familie, der Verachtung gegenüber Mutterschaft, Ehe, Kunst und Literatur haben sich die neuen Herrscher die Ausschaltung eines geschichtlichen Bewusstseins aufs Panier geschrieben. Geschichte ist Mumpitz (\"History is bunk\"), behauptet der Controller, denn geschichtliche Kenntnisse sind beim Volk nicht erwünscht, um niemandem die Möglichkeit zu geben, Vergleiche zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart anzustellen. Das könnte eventuell einen Wunsch nach Veränderung wecken. Eine erneute Parallele zu Nineteen Eighty-four, wo Winston Smith selber an der Fälschung der Geschichte beteiligt ist, damit eigenständiges Denken verhindert wird.
Wer hat Recht? Orwell oder Huxley?
1985 stellte der amerikanische Medienkritiker Neil Postman im Vorwort zu seinem Buch Amusing ourselves to Death (Wir amüsieren uns zu Tode) die Frage, wer denn nun Recht behalten sollte mit seiner Vision einer zukünftigen Gesellschaft, Orwell oder Huxley:
\"In banger Erwartung sahen wir dem Jahr 1984 entgegen. Als es kam und die Prophezeiung nicht eintrat, stimmten nachdenkliche Amerikaner verhaltene Loblieder an auf sich selbst. Die Wurzeln der freiheitlichen Demokratie hatten gehalten. Mochte anderswo der Terror ausgebrochen sein - uns zumindest hatten Orwells Albträume nicht heimgesucht.
Aber wir hatten vergessen, dass es neben Orwells düsterer Vision eine zweite gegeben hatte - ein wenig älter, nicht ganz so bekannt, ebenso beklemmend: Aldous Huxleys Schöne Neue Welt. Entgegen einer auch unter Gebildeten weit verbreiteten Ansicht haben Huxley und Orwell keineswegs dasselbe prophezeit. Orwell warnt vor der Unterdrückung durch eine äußere Macht. In Huxleys Vision dagegen bedarf es keines Großen Bruders, um den Menschen ihre Autonomie, ihre Einsichten und ihre Geschichte zu rauben. Er rechnete mit der Möglichkeit, dass die Menschen anfangen, ihre Unterdrückung zu lieben und die Technologien anzubeten, die ihre Denkfähigkeit zunichte machen.Orwell fürchtete diejenigen, die Bücher verbieten. Huxley befürchtete, dass es eines Tages keinen Grund mehr geben könnte, Bücher zu verbieten, weil keiner mehr da ist, der Bücher lesen will. Orwell fürchtete jene, die uns Informationen vorenthalten. Huxley fürchtete jene, die uns mit Informationen so sehr überhäufen, dass wir uns vor ihnen nur in Passivität und Selbstbespiegelung retten können. Orwell befürchtete, dass die Wahrheit vor uns verheimlicht werden könnte. Huxley befürchtete, dass die Wahrheit in einem Meer von Belanglosigkeiten untergehen könnte. Orwell fürchtete die Entstehung einer Trivialkultur, in deren Mittelpunkt Fühlfilme, Rutschiputschi, Zentrifugalbrummball und dergleichen stehen. Wie Huxley in Dreißig Jahre danach oder Wiedersehen mit der Schönen Neuen Welt (Brave New World Revisited) schreibt, haben die Verfechter der bürgerlichen Freiheiten und die Rationalisten, die stets auf dem Posten sind, wenn es gilt, sich der Tyrannei zu widersetzen, \"nicht berücksichtigt, dass das Verlangen des Menschen nach Zerstreuungen fast grenzenlos ist\". In 1984, so fügt Huxley hinzu, werden die Menschen kontrolliert, indem man ihnen Schmerz zufügt. In Schöne Neue Welt werden sie dadurch kontrolliert, dass man ihnen Vergnügen zufügt. Kurz, Orwell befürchtete, das, was uns verhasst sei, werde uns zugrunde richten.
Huxley befürchtete, das, was wir lieben, werde uns zugrunde richten. Dieses Buch handelt von der Möglichkeit, dass Huxley und nicht Orwell Recht hatte.\"
(Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode. Fischer Frankfurt 1985, S. 7)
Huxley selber erkannte die Rasanz der technischen Entwicklungen seit der Entstehung seines Romans, und in seinem Vorwort zur Auflage 1946 schrieb er: \"All things considered, it looks as though Utopia were far closer than anyone, only fitfteen years ago, could have imagined. Then, I projected it six hundred years into the future. Today it seems quite possible that the horror may be upon us within a century.\" Heute erleben wir bei der Auseinandersetzung über die ethischen Fragen im Zusammenhang mit der Gentechnik, beim Streit über die Segnungen oder den Fluch des kommerziellen Unterhaltungsfernsehens (\"Volksverdummung\"), wie weit Huxley tatsächlich in die Zukunft blickte und wie wichtig sein Roman heute noch ist.
4. Charakterisierung der Hauptfiguren
Der Controller Mustapha Mond
Mustapha Mond ist einer der zehn Männer, die den neuen Staat unter Kontrolle halten. Er ist äußerst intelligent und gebildet, hat alle verbotenen Bücher (Shakespeare, die Bibel) studiert und kennt sich in Philosophie und Geschichte aus. Die Argumente der Gegner Utopias sind ihm vertraut, und daher kann er beim Disput mit John über menschliches Glück und den Sinn des Lebens eine - von seiner Seite aus betrachtet - vernünftige und einleuchtende Erklärung der Prinzipien des Neuen Staates geben. All sein Wissen und seine Intelligenz stellt er in den Dienst eines unmenschlichen Regimes.
Bernard Marx
Bernard Marx, er gehört zur Alpha-Kaste und arbeitet als Spezialist für Schlafschulung, repräsentiert den unangepassten Menschen. Schon von seinem Äußeren her (er ist klein) entspricht er nicht dem Standard seiner Alphagruppe, und auch in seinem Verhalten (er hast Sport, ist gern allein) und seiner Denkweise ist er anders. Zwar ist er unzufrieden mit der neuen Gesellschaft, doch kein Aufrührer oder Rebell. Er genießt sogar die Anerkennung der Masse, als er John in die Neue Welt einführt. Am Ende resigniert er und lässt sich bitter klagend in die Verbannung schicken.
Lenina Crowne
Die junge hübsche Lenina ist eine typische, angepasste und naive Vertreterin der Neuen Welt, die ihre Sexualität entsprechend den Gepflogenheiten frei auslebt. Für John wird diese Offenheit und Begierde so unerträglich, dass er sie beinahe schlägt. Ihr Auftauchen bei der Auspeitschung wird für John zum Signal für den befreienden Selbstmord.
Der Director Of Hatcheries And Conditioning (D. H. C.)
Der Direktor, von Linda \"Tomakin\" genannt, ist der selbstgefällige Wissenschaftler, der die Studenten mit Zahlen und Fakten beinahe erschlägt, um mit seiner Allwissenheit und seiner eigenen Bedeutung zu protzen. Er stürzt von seinem hohen Sockel, als Bernard Marx seine menschliche Schwäche offenbart und mitleidslos mit ihm abrechnet.
John (The Savage)
John - groß und gut aussehend - ist der Sohn Lindas und des Direktors. Er verkörpert den Außenseiter, der weder in der Reservation, wo er in der indianischen Kultur aufwuchs, seinen Platz fand, noch in der Neuen Welt, in die er als Attraktion und als Versuchskaninchen (aus wissenschaftlichen Interesse) gebracht wurde. Aus den Erzählungen seiner Mutter vom Leben in Utopia und aus der Lektüre der Werke Shakespeares stellte er sich sein eigenes Weltbild zusammen. Nach seiner Ankunft in der Neuen Welt stellt er Vergleiche an, und er ist bitter enttäuscht. Seine ernüchternden Erfahrungen stürzen ihn in einen tiefen Konflikt, aus dem er keinen Ausweg mehr findet. Sein Selbstmord ist Ausdruck von Huxleys herber Kritik an der Neuen Welt, die ein sinnvolles menschliches Leben nicht zulässt.
Linda
Linda ist Johns Mutter, eine Beta minus, und eine Gegenfigur zu Lenina. Ihr lockerer sexueller Umgang in der Reservation macht sie dort zur Außenseiterin. Ohne die medizinische Versorgung, die sie in der Neuen Welt genossen hätte, wird sie alt, fett und hässlich. Was sie mit Lenina gemeinsam hat, ist die Sucht nach Soma, um ihre traurige Existenz zu vergessen.
5. Form
Die literarische Utopie
Unter einer Utopie versteht man den Entwurf einer idealen Welt, eines Paradieses, in dem die Menschen glücklich und zufrieden zusammen leben. Die Utopie stellt einen \"nur in gedanklicher Konstruktion erreichbaren, praktisch nicht zu verwirklichenden Idealzustand von Staat und Gesellschaft\" dar (Gero von Wilpert). Daher auch unsere umgangssprachliche Verwendung des Wortes. Wenn wir Vorschläge oder Pläne als \"utopisch\" bezeichnen, meinen wir, dass sie zwar wünschenswert, aber nicht realisierbar sind. Der Begriff wurde 1516 von Sir Thomas More geprägt, der seinem Werk über einen Idealstaat den Titel Utopia gab. More setzte die beiden griechischen Wörter für \"nicht, nirgends\" (ou) und \"Ort\" (topos) zusammen: \"Nirgendheim\".
Viele Utopien zeigen keine praktischen Lösungen auf, sondern sind Satiren, in denen bestehende Verhältnisse durch groteske Übertreibung der Lächerlichkeit ausgesetzt werden. Hierzu gehören z. B. Samuel Butlers Erewhon (1872) und Jonathan Swifts Gulliver\'s Travels (1726) - ein Werk, das in unserer Zeit als Abenteuerbuch für Kinder gilt, von Swift aber als bittere Anklage gegen die politischen Verhältnisse seiner Zeit gedacht war. Dieser Gruppe lässt sich wegen seiner parodistischen und satirischen Elemente auch Brave New World zurechnen. Der neue Gott in Mustapha Monds Welt heißt Ford (Ford - Lord, Fordship - Lordship), eine Anspielung auf Henry Ford, den Gründer der Ford Motor Company, den Erfinder der Fließbandproduktion und Erbauer des legendären Model T. Weitere Beispiele: Charing Cross in der Londoner City ist zu Charing T geworden, das Oberhaupt der Church of England, der Archbishop of Canterbury, trägt nun den Titel Arch-Community Songster of Canterbury
Anti-Utopie (dystopia)
Aldous Huxleys Roman und George Orwells Nineteen Eighty-four werden als Anti-Utopien bezeichnet, weil in diesen Romanen eine zukünftige Welt gezeichnet wird, die abschrecken soll. Beide Autoren führen uns in einer Schreckensvision vor Augen, wo unsere Reise hingehen könnte, wenn wir jetzt nicht zur Besinnung kommen, Ziel und Kurs überdenken und Korrekturen vornehmen. Orwell warnt vor einem totalitären Überwachungsstaat, Huxley vor einem System, das die Menschen in ein oberflächliches Glück einlullt, ihrem Leben jedoch in Wahrheit jeglichen Sinn nimmt. |