AN DEN MOND
Schwester von dem ersten Licht,
Bild der Zärtlichkeit in Trauer,
Nebel schwimmt mit Silberschauer
Um dein reizendendes Gesicht.
Deines leisen Fußes Lauf
Weckt aus tagverschloßnen Höhlen
Traurig abgeschiedne Seelen,
Mich, und nächt\'ge Vögel auf.
Forschend übersieht dein Blick
Eine großgemeßne Weite.
Hebe mich an deine Seite,
Gib der Schwärmerei dies Glück!
Und in wollustvoller Ruh
Säh\' der weitverschlagne Ritter
Durch das gläserne Gegitter
Seines Mädchens Nächten zu.
Dämmrung, wo die Wollust thront,
Schwimmt um ihre runden Glieder.
Trunken sieht mein Blick hernieder
Was verhüllt man wohl dem Mond!
Doch was das für Wünsche sind!
Voll Begierde zu genießen,
So da droben hängen müssen
Ei, da schieltest du dich blind!
Dieses Gedicht und das folgende hat zum Hintergrund die Liebesbeziehung Goethes zu Käthchen Schönkopf. Es entstand bald nach Goethes Rückkehr nach Frankfurt.
Es ist bereits ein erster Schritt über die Anakreontik hinaus. Die Natur ist hier nicht mehr nur Staffage, sondern hier wird gefühlt und gestaltet. Im Anfang finden wir noch eine barocke Umschreibung (\"Schwester von dem ersten Licht\"). Dann folgt eine Revue von Rollen, so z.B. in der ersten Strophe der empfindsame Nachtpoet und der leicht ironische, literarische Begleiter des Schwärmers in der zweiten. Am Ende übernimmt der \"lächelnde Weise\" die Rolle, die sicher auf eine Pointe zusteuert.
Das Interessante an diesem Gedicht ist die Art und Weise, wie das erzählende Ich mit sich selbst umgeht. Das erzählende Ich (das Subjekt der ganzen Rede), spricht zuerst von sich selbst, d.h. vom erlebenden Ich (Z.8,11: \"mich\"), ohne temporale und emotionale Distanz. Das ist noch nicht ungewöhnlich. Aber ab Zeile 13 redet es von sich plötzlich in der dritten Person (\"der Ritter\", \"seines Mädchens\"), wechselt dann wieder in die erste Person (\"mein Blick\", Z.19), um schließlich in der zweiten zu enden (\"schieltest du dich blind\", Z.24). Parallel dazu ändern sich Tempus und Modus der Verbformen. Es beginnt mit dem Indikativ (3,6) bzw. Imperativ Präsens (11,12), geht über dem Konjunktiv Imperfekt (14) zurück in den Indikativ Präsens (17-21) und endet im Konjunktiv Imperfekt (24).
Was ich nun in der grammatischen Beschreibung herausgefunden habe, läßt sich auch leichter sagen: Das erlebende Ich verändert sich im Laufe des Gedichts, es wandert von Rolle zu Rolle, und das erzählende Ich folgt ihm sozusagen jedesmal auf dem Fuße. Der weitverschlagene Ritter (18) spielt eine besondere Rolle. Er verdankt seine Existenz einzig und allein der Phantasie des erzählenden Ich; Das Ich selbst wird zu diesem Ritter auf dem Mond und sieht (\"sinkt mein Blick\", Z.19) von dort auf die Erde.
Goethe ist in die Rolle des empfindsamen Nachtpoeten geschlüpft, und in dieser Rolle entwirft er ein Phantasiewesen, den Ritter auf dem Mond, um sich dann für einen Moment selbst zu diesem Phantasiewesen zu machen. Wie Goethe sich in den Nachtpoeten, so verwandelt der sich in den Ritter auf dem Mond. Beide Male macht sich jemand zum Geschöpf seiner eigenen Phantasie. Erst beschreibt man ein imaginäres Ereignis im Irrealis (13-16), wechselt dann in den Indikativ und spricht somit aus dem irrealen Ereignis heraus als ein Begleiter (17-21). Kurz gefaßt:: Es wäre doch sicher interessant, wenn ich jetzt auf dem Mond wäre - von hier oben sehe ich... Nach vier Zeilen kommt schon ein gar nicht unvernünftiger Einwand dazwischen, und das Ich ist wieder auf der Erde. Der Trick des Personenwechsels bleibt Episode ohne Folgen, also wohl kaum mehr als ein Gag und eine relativ neue Pointe unter vielen anderen.
5.2. RETTUNG
Mein Mädgen ward mir ungetreu,
Das machte mich zum Freudenhasser.
Da lief ich an ein fließend Wasser,
Das Wasser lief an mir vorbei.
Da stund ich nun verzweifelnd stumm,
Im Kopfe war mirs wie betrunken,
Fast wär ich in den Strom gesunken,
Es gieng die Welt mit mir herum.
Auf einmal hört ich was das rief.
Ich wandte just dahin den Rücken,
Es war ein Stimmchen zum Entzücken:
Nimm dich in acht! der Fluß ist tief.
Da lief mir was durchs ganze Blut,
Ich seh, so ists ein süßes Mädchen.
Ich frage sie, wie heißt du? Käthchen.
O schönes Käthchen, du bist gut.
Du hältst vom Tode mich zurück
Auf ewig dank ich dir mein Leben.
Allein das heißt mir wenig geben,
Nun sei auch meines Lebens Glück.
Und dann klagt ich ihr meine Noth;
Sie schlug die Augen lieblich nieder,
Ich küßte sie und sie mich wieder:
Und vor der Hand nichts mehr vom Tod.
Beim Lesen des Gedichts fällt zuerst ein Riß auf, der durch das ganze Gedicht geht. Zwischen der Ernsthaftigkeit des Themas (Selbstmordgedanken) und der lockeren Art der Behandlung besteht eine deutliche Diskrepanz.
Das auffälligste Wort in dem Gedicht ist \"Freudenhasser\" (Z.2), welches mir bei dem Gedanken an Selbstmord völlig unangemessen erscheint. Wahrscheinlich benutzt man im Leiden für das Leiden andere Wörter als nachher. Das ist hier offenbar der Fall: jemand berichtet im Nachhinein von einem Wechsel zwischen Traurigkeit und Fröhlichkeit; das ist das erzählende Ich. Das erlebende Ich empfindet im gleichen Augenblick die Gefühle, in dem sie eintreten. Das erzählende Ich distanziert sich durch die Formulierung von dem erlebenden Ich, das es selbst einmal war: \"Freudenhasser\".
Die Mißbilligung oder Verständnislosigkeit zeigt sich auch noch in anderen Fällen; die Zeilen 6 und 7 wären vom erlebenden Ich auch wohl anders formuliert worden. Das ändert sich ab Zeile 9. Die distanzierenden Kommentare bleiben aus. Das erzählende Ich hat nun keine Bedenken mehr, sich mit dem erlebenden Ich zu identifizieren. Ab Zeile 14 geht das erzählende Ich sogar für einige Zeit ins Präsens; es kommen direkte Reden ohne Einleitungsformel wie \"sagtet\', \"antwortete\" usw. vor, und die prädikatlose Aussage der letzten Zeilen könnten sowohl vom erzählenden als auch vom erlebenden Ich stammen.
Interessant an diesem Gedicht ist vor allem, wie etwas erzählt wird. Solange von der Verzweiflung des erlebenden Ichs geredet wird, hält sich das erzählende Ich auf Distanz durch Wort- und Tempuswahl. Je heiterer das erlebende ich wird, desto mehr verzichtet das erzählende Ich auf distanzierende Formulierungen und bekundet zudem noch seine Anteilnahme durch den Übergang ins Präsens.
Dieses Gedicht könnte man fast als einen kleinen Erziehungsroman bezeichnen. Das ehemals erlebende Ich wird in der Rückschau unter Aufsicht des erzählenden Ichs zu einem Ziel geführt, von dem es im Moment des Erlebens natürlich noch nicht hat wissen können, das aber das erzählende Ich bestens kennt. Denn das Ziel ist das erzählende Ich selbst in seiner Heiterkeit.
Dieses Gedicht ist also zielgerichtet, es läuft auf eine Schlußpointe hinaus, welche einen doppelten Boden hat. Einmal markiert sie das Ende des Gedichts und zum andern auch das Ende der Erziehung, die dem erlebenden Ich zugemutet wird. Der Text propagiert in erster Linie die Haltung, die das erzählende Ich im Laufe des Gedichts vorführt. Es ist die Haltung eines \"lächelnden Weisen\", der durch nichts aus seiner Heiterkeit gebracht wird, der die Freuden des Lebens genießt und die Leiden leicht erträgt, weil er weiß, daß die Freuden vergänglich sind und eben deshalb auch die Leiden.
Diese Rolle ist so allgemein gespielt, daß jeder in sie hineinschlüpfen könnte. Es ist schwer, hier zwischen Erzähler und Autor zu unterscheiden und sich hinter der Maske des unbeschwerten Erzählers z.B. einen grundsoliden und eher gehemmten Autor vorzustellen. Dies ist ein Grundzug der scherzhaften Dichtung mit ihrer überindividuellen Rollenhaftigkeit. In dieser Poesie werden Sorgen, Probleme oder Konflikte dadurch bewältigt, daß man sie fröhlich vergißt, oder man sie allenfalls in jener Rolle vorträgt. Dieses Spiel in seiner Finalität und Lehrhaftigkeit, in seiner überindividuellen Rollenhaftigkeit und ortlosen Gesellschaftlichkeit hat auch Goethe mitgespielt.
Goethe hat das Ich in zwei verschiedene Aspekte geteilt. Das erzählende Ich ist unerschütterlich heiter, wie gewöhnlich, und direkt daneben ist das wohl noch nicht lang verflossene erlebende Ich, das von einem Extrem ins andere geworfen wird, von Selbstmordabsicht fast übergangslos zu verliebter Tändelei.
5.3. MAIFEST
Wie herrlich leuchtet
Mir die Natur!
Wie glänzt die Sonne!
Wie lacht die Flur!
Es dringen Blüten
Aus jedem Zweig
Und tausend Stimmen
Aus dem Gesträuch
Und Freud und Wonne
Aus jeder Brust.
O Erd\', o Sonne,
O Glück, o Lust,
O Lieb\', o Liebe,
So golden schön
Wie Morgenwolken
Auf jenen Höhn,
Du segnest herrlich
Das frische Feld,
Im Blütendampfe
Die volle Welt!
O Mädchen, Mädchen
Wie lieb\' ich dich!
Wie blinkt dein Auge,
Wie liebst du mich!
So liebt die Lerche
Gesang und Luft,
Und Morgenblumen
Den Himmelsduft,
Wie ich dich liebe
Mit warmen Blut,
Die du mir Jugend
Und Freud und Mut
Zu neuen Liedern
Und Tänzen gibst.
Sei ewig glücklich,
Wie du mich liebst.
Dieses Gedicht entstand aufgrund der Liebesbeziehung Goethes zu Friederike Brion. Das Gedicht \"Maifest\" besitzt einen großen autobiographischen Bezug:
Im Mai 1770 wurden Goethe und Friederike Brion immer öfter in die Gärten von Sesenheim gelockt. Die Natur hatte sich, wie immer im Frühling, mit allen Reizen geschmückt. Das Entzücken des Dichters über die Klarheit des Himmels, den Glanz der Erde, die schönen Morgen, die lauen Abende, die jene Tage auszeichneten, klingt aus dem Mailied hervor, um in einem seligen Liebes- und Lebensjauchzen auszutönen.
Das Auffälligste an diesem Gedicht ist das von der ersten bis zur letzten Zeile immer wieder vorkommende Wort \"wie\". Dieses Wort wird in drei verschiedenen Varianten benutzt: Zuerst in dem Ausruf: \"Wie herrlich leuchtet\". Das ist kein vollständiger Vergleich, hat aber doch Vergleichscharakter. (Dieses \"wie\" taucht in den Zeilen 1,3,4,22,23 und 24 auf.). - Dann folgt das zweite \"wie\": \"So golden schön / wie Morgenwolken\". Diesen ausgeführten Vergleich findet man in den Zeilen 15 und 19. - Am Schluß das dritte \"wie\": \"Sey ewig glücklich / Wie du mich liebst!\" (Z.35f.). Dieses Wie ist nicht einfach zu beschreiben. Es steht kein qualitativer oder quantitativer Vergleich in diesem \"Wie\". Man könnte vielleicht am besten sagen: \"Sei ewig glücklich, wie du mich ja auch liebst!\" Dieses \"Wie\" könnte man eine selbstverständliche Entsprechung nennen.
Das Wörtchen \"wie\" zieht sich gleichsam wie ein sprachliches Leitmotiv durch den Text, aber genauso das Wort \"Liebe\", das siebenmal im Gedicht auftaucht. Es erscheint zwar erst in der 4. Strophe, dafür aber um so häufiger (Zeile 13,22,24,25,29,36). Kombiniert man das Wort \"Liebe\" mit den drei Formen des Leitmotivs \"wie\", so ergibt sich äußerlich schon eine erste Gliederung:
1.-3.Strophe 4.-6.Strophe 7.-9.Strophe
\"Wie\" als Vergleichscharakter \"Wie\" als Vergleichscharakter ---
--- Liebe Liebe
--- ausgeführter Vergleich Vergleich
--- --- selbstverständliche Entsprechung
Das Gedicht ist im Präsens geschrieben, d.h. die Differenz zwischen dem erzählenden und dem erlebenden Ich ist auf das kleinste Minimum reduziert. In den ersten drei Strophen wird die Natur so dargestellt, als sei sie eine Person, als sei sie in Bewegung auf das lyrische Ich zu und nur für das Ich da. \"Wie herrlich leuchtet / Mir die Natur!\" (Z.1f.). Die Natur leuchtet nicht nur einfach, sie leuchtet nur für das lyrische Ich.
Den ersten beiden Versen folgt die Personifizierung: \"Wie lacht die Flur!\" Schließlich wird die wachsende Natur beschrieben: Die Blüten dringen aus den Zweigen, ebenso die Stimmen aus dem Gesträuch. In der vierten Strophe erscheint erstmals das Stichwort \"Liebe\". Man muß schon genau hinsehen, um etwas Nicht-Selbstverständliches darin zu erblicken. Vor der vierten Strophe wird aus Liebe gesprochen, nachher über Liebe. In der vierten und fünften Strophe wird die Liebe angeredet, thematisiert und mit einer Naturerscheinung (\"Morgenwolken\") verglichen. Damit wird auch die Natur gegenständlich, man kann auf sie zeigen (\"Auf jenen Höhn\"). Dieser Vergleich dient der Vergewisserung, daß in dem allseitigen Dringen der Natur (1.-3.Str.) wirklich Liebe am Werk war. Die fünfte Strophe führt den Vergleich mit einer Personifizierung der Liebe fort und nimmt Worte und Motive aus den ersten Strophen wieder auf. \"Du segnest herrlich\" (17) - \"Wie herrlich leuchtet\" (1), \"Das frische Feld\" (18) - \"Wie lacht die Flur\" (4), \"Im Blütendampfe\" (19) - \"Es dringen Blüten\" (5). Die letzte Zeile der fünften Strophe stellt das Ergebnis dar, daß die ganze Welt voller Liebe ist. Und dieses Ergebnis erst schafft Raum für das Bekenntnis der eigenen Liebe: \"0 Mädchen, Mädchen, / Wie lieb\' ich dich!\" (Z.21f.).
Auch in der sechsten Strophe finden sich Rückbezüge zum Anfang im absoluten Vergleich. \"Wie blinkt dein Auge!\" nimmt deutlich ein Motiv der ersten Strophe wieder auf: \"Wie glänzt die Sonne\" (Z.3). Das Glänzen der Sonne, in der vierten Strophe als liebeserfüllt anerkannt, ist die Beglaubigung dessen, daß das Blinken der Augen ebenfalls ein Liebeszeichen ist. Die vergleichende und ständig rückbezügliche Naturerkenntnis löst dem Liebenden die Zunge zu seiner Liebeserklärung, und die Naturerkenntnis kann umgesetzt werden in eine Menschenerkenntnis, weil das Mädchen sich dem Ich gegenüber gleich verhält wie die Natur.
Der dritte Teil schließt sich an den zweiten genauso, wie dieser an den ersten Teil. Die eigene Liebe wird zum Gegenstand eines Vergleiches mit der Natur gemacht, der sich diesmal über zweieinhalb Strophen hinzieht. Das lyrische Ich will sich bestätigen, daß die Liebe nicht nur ihm und der Natur gemeinsam ist, sondern ihm auch dasselbe bedeutet wie den Lebewesen in der Natur. Genauso wie für Lerchen und Blumen der Gegenstand ihrer Liebe etwas ist, was ihr Wesen ausmacht und von dem sie abhängen, genauso liebt das lyrische Ich das Mädchen. Durch sie erhält er seine Jugend und die Freude und den Mut zum Dichten. Das lyrische Ich scheint hier zunächst nur als das Nehmende, doch als Abrundung des Gedichtes schließt sich noch ein Segenswunsch an: \" Sei ewig glücklich, / Wie du mich liebst.\" (Z.35f.).
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