1.1 Begriff
Der Begriff \"bürgerlicher\" oder auch \"poetischer Realismus\" bezeichnet die Hauptströmung deutschsprachiger Literatur in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts.
objektive Betrachtung, sachgenaue Darstellung der Wirklichkeit, Positivismus
Charles Darwins Abstammungstheorien und die marxistische Geschichtsauffassung als weitere Grundlage,
Nahezu ausschliessliche Beteiligung des wohlhabenden Bürgertums am Realismus;
wenig auf politische Veränderungen bedacht, mehr auf unveränderbare Unzulänglichkeiten des allgemein Menschlichen
In der Literatur ist Realismus ein vielschichtiger Begriff, der als Stilmerkmal oder Periodeneinteilung auftritt. Werke, die sich auf die kritische Darstellung der jeweils zeitgenössischen gesellschaftlichen Wirklichkeit konzentrieren, sind eine überzeitliche, epochenüberschreitende Erscheinung. Eine als realistisch bezeichnete literarische Darstellungsweise beschränkt sich nicht auf die einfache Abbildung wirklicher Verhältnisse: Sie ist Ausdruck des Konflikts mit den bestehenden Verhältnissen; in diesem Sinn kann ein realistisches Literaturwerk als Fiktion bezeichnet werden, die alle Merkmale der gesellschaftlichen Wirklichkeit aufweist.
Als Epochenbegriff bezeichnet Realismus die europ. Literatur des 19.Jh. (etwa 1830-80), wobei sich viele Modifikationen und Übergangsstufen zwischen Realismus und Naturalismus einerseits und dem Symbolismus andererseits herausgebildet haben. Träger des europäischen Realismus ist der große Zeit- und Gesellschaftsroman bzw. die Erzählliteratur; in der deutschsprachigen Literatur auch die Novelle.- Die Werke der großen Realisten- in Frankreich H.de Balzac, Stendhal, G. Flaubert; in England Ch. Dickens; in Russland F.M. Dostojewski, L.N. Tolstoi, I.A. Gontscharow; wirken als Klassiker des Realismus bis heute auf das Romanschaffen des 20.Jahrhunderts.
1.2 Historischer Hintergrund
Märzrevolution (1848), Sturz Metternichs, Ära Bismarck
Deutsch-Französischer Krieg (1870-71), Abtritt Elsass - Lothringens an Deutschland
Gründung des Deutschen Reiches (1871), Gründerzeit (1871-73)
Industrielle Revolution, starke Verarmung des Proletariats durch uneingeschränkten Kapitalismus
1.3 Weltbild und Lebensgefühl
Wirtschaftliches Kennzeichen der Zeit des Realismus ist die rasch fortschreitende Industrialisierung auf der Grundlage eines rapide anwachsenden technischen und naturwissenschaftlichen Wissens. Soziale Kennzeichen sind der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft, das Zensuswahlrecht und die neue Trennlinie zwischen Herrschenden und Beherrschten:
- Adel und Klerus mit gesicherten Privilegien, die Bourgeoisie mit mehr Profit und weniger Idealen auf der einen Seite,
- auf der anderen Seite das Proletariat mit 14 Arbeitsstunden, ohne Sicherheit bei Krankheit, Alter oder Arbeitslosigkeit.
Vor diesem Hintergrund beginnt eine allmähliche Auseinandersetzung bürgerlicher Schriftsteller mit den \"natürlichen Erscheinungen\" und dem \"real Existierenden\".
Von Frankreich ausgehend kam es 1848 in ganz Mitteleuropa zu revolutionären Unruhen: Die Bürger der deutschen Staaten erhoben sich gegen ihre spätabsolutistischen Herrscher, mit ihnen aber erstmals auch das Handwerker-Proletariat, das mit weiterreichenden sozialen Forderungen auf die Barrikaden ging. Aus Furcht vor der \"roten Republik\" und \"sozialer Anarchie\" suchte das Großbürgertum schon bald den Kompromiss mit den alten Mächten. Die Revolution brach zusammen, die \"deutsche Nationalversammlung\" in Frankfurt wurde von preußischen Truppen zur Auflösung gezwungen.
Damit ist zunächst nicht nur der Kampf des Bürgertums um politische Mitbestimmung gescheitert, sondern auch die Schaffung einer deutschen Nation \"von unten\". Diese wird erst 1871 \"von oben\" herbeigeführt - durch den Sieg des preußischen Militärs gegen Frankreich und die Ausrufung des preußischen Königs zum Kaiser des (2.) Deutschen Kaiserreichs.
Die innenpolitischen Spannungen des neuen Staatsgebildes werden zunächst durch den siegbedingten Wirtschaftsaufschwung (\"Gründerzeit\") überdeckt, ebenso durch das geschickte Taktieren des Reichskanzlers Bismarck, der es versteht, die bürgerlichen Parteien gegeneinander auszuspielen (z.B. im \"Kulturkampf\" des preußischen Staates gegen die kathol. Kirche) oder sie mit dem \"Schreckgespenst Sozialdemokratie\" unter Druck zu halten. Seine Entlassung durch den jungen Kaiser Wilhelm II. (1890) macht die deutsche Politik zunehmend unberechenbar, denn unter Wilhelm II. beginnt die offen imperialistische Phase der deutschen Politik, die mit Slogans wie \"verspätete Nation\", \"Platz an der Sonne\" und \"Volk ohne Raum\" gerechtfertigt wird.
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