"Bahnwärter Thiel" ist in meinen Augen ein Buch, dass, aus heutiger Sicht betrachtet, ein sehr aktuelles Thema behandelt. Die Problematik der Kindesmisshandlung wird zwar nur als ein nebensächlichen Aspekt der Handlung dargestellt, hat aber entscheidenden Einfluss auf die weiterführende Handlung. Das psychische und physische Angreifen der Kinder wird von vielen Eltern als ein Bestandteil ihrer autoritären Erziehung gesehen, löst aber in der gesamten Gesellschaft bei Bekanntwerden immer wieder Bestürzung aus. Da in Hauptmanns Werk aber auch die Rache des Vaters an seiner Frau für diese Form der Erziehung zum tragen kommt und das Ende des Werkes bedeutet befindet man sich in einem inneren, persönlichen Konflikt.
Nach der ersten Fassungslosigkeit über den dramatischen Ausgang des Werkes und dem unerwarteten Konsequenzen die Bahnwärter Thiel zu tragen hat, beginnt man zwischen der Rechtmäßigkeit und Unrechtmäßigkeit dieser Tat abzuwägen. Jedesmal wird man zu einem Hineinversetzen in den Charakter Thiel verleitet und stellt sich vor, wie man an seiner Stelle gehandelt hätte. Man "ertappt" sich aber dabei wie man sich bei der Vorstellung der Szenen noch rabiater und ungehaltener reagiert hätte.
Während des Werkes beginnt sich schon eine Antipathie gegenüber Lene aufzubauen, welches noch besonders durch die abwertende Beschreibung durch Hauptmann resultiert. Man möchte beinahe sagen dass sich ein Hass aufgebaut hat. Der Hass gipfelt in dem Tod von Tobias, der nur durch die Unachtsamkeit Lene's und der Vernachlässigung ihrer Aufsichtspflicht begünstigt wird. Thiel sieht diese Fahrlässigkeit als Vorsätzlichkeit an und rächt seinen Sohn für die jahrelange, fehlende Akzeptanz und die Kälte, die seine Stiefmutter ihm Tag für Tag entgegen gebracht hat. Man spürt eine innere Befriedigung, als Lene, die man unzweifelhaft als Tyrannin bezeichnen kann, von Thiel auf eine erschreckende und bestialisch Weise ermordet wird. Diese Bestialität ist ein Ausdruck der Wut die sich über die Jahre bei ihm angesammelt hat.
Es wird auch die Frage nach dem Sinn oder der Sinnlosigkeit diese Schlusses laut. Man stellt sich vor was passiert wäre wenn Thiel seine Frau und seinen jüngeren Sohn nicht umgebracht hätte. Hätte er sich möglicherweise selbst um gebracht um somit den Schmerz über den Verlust seines einzig wahren Sohnes ertragen zu können.
Man bedauert Bahnwärter Thiel, der nach der Ausführung der Tat zu seinem Bahnwärterhäuschen zurückgekehrt ist und zunehmend in den Wahnsinn gefallen ist. Er hat alles verloren: seinen Sohn Tobias, der sein Ein und Alles war und ihm stets Lebensmut und Lust am Leben gegeben hat. Der Verlust seiner Frau erscheint überhaupt nicht interessant, da er während seiner Arbeitszeit stets an seine frühere Frau Minna dachte und Lene aufgrund ihrer herrschsüchtigen und rücksichtslosen Persönlichkeit verdrängte. Man bemitleidet Thiel auch deswegen, dass er entgegen aller Empfehlungen und Ratschläge der Dorfbewohner mit der Heirat sein bis dahin lebenswertes Leben verlor und infolge seiner Tat nicht einmal mehr eine Zukunft hat.
Am Ende ist man traurig und bestürzt. Jemand, der nur einem absolut Wehrlosen geholfen hat, wird angeklagt. Trotz dieser zwar subjektiv verständlichen Tat darf man aber auch die Gesetze keinesfalls außer Acht lassen. Denn in der Wut und im Zorn getane Dinge sind vor Gericht nur mindere Beweggründe.
Trotzdem überwiegt das Mitleid für diesen Mann, der alles verloren hat und vor dem Nichts steht.
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