Die Analyse des Verhältnisses von Entfremdung und Angst im Bereiche der Individualpsychologie gestattet aber noch kein Verständnis über die politische Bedeutung dieser Phänomene: Warum z.B. verschreiben sich Massen Führern und folgen ihnen blindlings? Worauf beruht die attraktive Kraft von Führern und Massen? Wie sieht das Geschichtsbild derer aus, die Führer akzeptieren?
Im Mittelpunkt des massenpsychologischen Analyse steht die Frage nach dem Wesen der Identifikation von Masse und Führer, ohne welche das Problem der Integrierung oder Kollektivierung der einzelnen in einer Masse nicht verstanden werden kann. Dabei muß man behutsam darauf bedacht sein, die aufgrund der Erfahrungen dieses Jahrhunderts unweigerlich aufgetretenen Vorurteile der Masse gegenüber in den Hintergrund rücken zu lassen. Die communis opinio sieht die Masse als Pöbel, zu allem bereite Menschengruppen, in denen der einzelne zum Barbaren degradiert, zum Triebwesen. Nur ist das zwar eine adäquate Beschreibung der sozialpsychologischen Zustände, jedoch keine brauchbare theoretische Analyse des Warums.
Die Basis, die eine Masse zusammenhält, ist dabei eine Summe zielgehemmter Triebe. Die gerade in Angstsituationen starke Identifizierung der Masse mit einem Führer beruht auf einer intensiven Bindung beider Teile aufgrund gleicher Hemmnisse der Libido. Damit ist der logische Zusammenhang zwischen Entfremdung und Massenverhalten hergestellt. Bei der Massenidentifikation mit einem Führer handelt es sich dabei um eine Entfremdung, die einen zweifachen Rückfall des Menschen darstellt: einmal stellt sie eine historische Regression dar, indem der Vorgang der progressiven Individualisierung rückgängig gemacht wird, zum anderen ist sie eine psychische Regression durch eine Beschädigung oder gar einen Verlust des eigenen Ich in der Masse.
Da dies aber nur für eine libido-besetzte, affektive Identifizierung eines einzelnen in einer Masse mit einem Führer gilt, nicht unbedingt aber - vielleicht gar nicht - für \"Liebende\", kleine Menschengruppen oder Organisationen (Kirche, Armee), muß man deshalb Unterscheidungen machen. Es gibt beispielsweise affektlose Identifizierungen, bei denen Zwang oder gemeinsame materielle Interessen eine große Rolle spielen, entweder in bürokratisch-hierarchischer oder kooperativer Form.
So kann man allgemein behaupten, daß die libido-besetzte (affektive) Identifizierung mit einem Führer regressiver ist als die libido-freie (affektlose) mit einer Organisation, die durch rationalistische Elemente und berechenbare Momente eine Auslöschung des Ich verhindert. Aber auch noch innerhalb der affektiven Identifikation kann man differenzieren zwischen einem kooperativen und einem caesaristischen Typus. Die kooperative Weise sieht einen - in der Geschichte meist kurzen - Zusammenschluß vieler Gleicher zu einem oftmals nur kleinen Kollektiv-Ich vor, in dem die einzelnen Ich aufgehen können und an Produktivität und Substanz gewinnen. Häufiger vertreten, und für uns daher von entscheidender Bedeutung, ist aber der caesaristische Typus, die affektive Identifizierung von Massen mit Führern.
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