Das bis jetzt vorgestellte kompositorische Denken hat einen mehr oder weniger großen Zusammenhang mit der europäischen Musiktradition. Sowohl in der seriellen als auch in der elektronischen Musik entdeckte man aber sehr bald, daß bei zunehmender Komplexität die klanglichen Ergebnisse dieser umfangreichen rationalen Determinationen einer Musik sehr nahe war, die mit nicht-kalkulierbaren Zufallsoperationen arbeitet. Für dieses völlig andersartige Musikdenken prägte man 1955 den Begriff \"Aleatorik\", ein Begriff der sich von alea(lat.) - Würfel ableitet.7
Das ewig gültige Kunstwerk, das sich in der heiligen Notations-Schrift dokumentiert und im Mittelpunkt der Deutung durch die \"Interpretationspriester\" steht, ist damit in frage gestellt. Bisher nicht geahnte Freiheiten tun sich für den Interpreten auf.
Es sind drei grundlegende Möglichkeiten zu unterscheiden:
Die Teile oder Materialien der sog. \"Komposition\" sind zwar fixiert, aber ihre Anordnung ist als variabele Form nicht festgelegt. Stockhausen: Zyklus (1959) für einen Schlagzeuger.
Das ganze kommt dem \"Plan einer unbekannten Stadt\" gleich. Die Straßen sind festgelegt, aber der Gang durch die Straßen gleicht einem Gang durchs Labyrinth. \"Der moderne Begriff des Labyrinths im Kunstwerk ist sicher einer der erstaunlichsten Sprünge, die das abendländische Denken vollbracht hat\" (Werkstatttexte S. 166)
Die zweite Möglichkeit besteht darin, daß der Komponist den Gesamtablauf des \"Werkes\" festlegt, dem \"Interpreten\" aber gewisse freie Spielflächen zur eigenen kompositorisch, improvisatorischen Gestaltung überläßt.
Eine letzte Möglichkeit ist schließlich die, daß der Komponist sich weitestgehend zurückhält und versucht, durch bestimmte textliche oder graphische Impulse, die Kreativität der Ausführenden anzuregen, z.B. in Cages, solo for voice 1958. Cage überträgt damit buddistische Prinzipien auf die Musik: Der \"Meister\" und seine \"Lehre\" werden zur Leere, der Werkbegriff entschwindet, man hat nichts mehr in der Hand... Das wird besonders deutlich in seinem Anti-Opus 4\'33\'\' (tacet in drei Sätzen 1952)
Stockhausen ging hinsichtlich der Aleatorik zunächst nicht so weit wie Cage. Seine Auffassung vom Zufall wurzelte in mathematisch-statistischen Fragestellungen und ist wesentlich von den Vorlesungen des Informationstheoretikers Werner Meyer-Eppler beeinflußt worden. In den Seminaren, die Stockhausen besuchte, wurden mit Hilfe von Zufallsoperationen aus bestehenden Texten künstliche hergestellt und deren Redundanz untersucht. Solche Experimente führten zur Idee, Klänge mit Hilfe statistischer Kriterien zu komponieren. Stockhausen sieht in der Synthese von reiner Zufallskomposition Cage\'scher Prägung und den systematisch-deterministischen Methoden der seriellen Musik den \"Quell einer reichen und lebendigen neuen Musik, in der zwischen den Extremen des Unkontrollierten und des äußerst Organisierten eine weite Skala von Ordnungsgraden erlebbar würde\". Das anarchistische Moment des Cage\'schen Zufalls wird ins serielle Konzept übernommen und so modifiziert, daß es scheinbar widerspruchslos darin eingeschmolzen werden kann. Wiederum begegnet einem die Idee des Kontinuums: die Vermittlung zwischen Ordnung und Chaos -- eine Vorstellung, die Stockhausen einige Jahre später seinem Klavierstück X (1961) zugrunde gelegt hat. 8
Eine gewisse Verwandtschaft zur aleatorischen Musik hat die von Stockhausen 1968 so genannte Intuitive Musik. Auch hier sind die Details der Aufführung und die Dauer der Komposition nicht festgelegt. Der Unterschied besteht aber darin, daß nicht der Zufall regiert, sondern die Musik aus einem neuen musikalischen Bewußtsein heraus geschaffen wird. Darin unterscheidet sie sich auch von der Improvisation. In dieser ist es nämlich durchaus üblich, gewisse vorgefertigte musikalische Muster zu benutzen. Von diesen will sich die Intuitive Musik befreien. Ich lese eine Spielanweisung des Werkes \"Aus den Sieben Tagen\" (1968):
\"Spiele einen Ton mit der Gewißheit, daß Du beliebig viel Zeit und Raum hast.\" (für Ensemble)
Die intuitive Musik fand ein großes Interesse bei all denen, die sich durch Musik selbst verwirklichen wollten und stellten einen extremen Gegenpol zu allem dar, was man bisher von Stockhausen gehört hatte.
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