Versetzt man sich zurück in Zeiten, in denen es noch keine Siedlungen, nur vereinzelt Menschen oder Menschengruppen gab, so ist anzunehmen, dass der Gesang oder vielmehr der Ruf der Sprache vorausging. Der Wunsch, einen Menschen oder ein Tier herbeizurufen, ließ wohl als erstes die Tragfähigkeit der Stimme entdecken. Jodeln und Juchzen, ein Gesang, bei dem die Bruststimme übergangslos in die Kopfstimme umschlägt, ist heute noch ein Erkennungsruf bei Hirtenvölkern in Gebirgsgegenden.
Je mehr sich die Menschen zu Stämmen und Völkern zusammenfanden, desto mehr verlor der Ruf über die Weite an Bedeutung. Die Sprache wurde nun zum Medium des Erkennens, und der Ruf entwickelte sich zum Gesang, der Arbeit, Festlichkeiten, Tanz begleitete, zu Krieg und Schlachten rief, Trauer, Leid und Gebet Ausdruck verlieh.
Der Gesang der Arbeit gehörte sicher zu den frühesten Formen der Musik, sei es als rhythmisches anfeuern, wie es heute noch als "ho ruck" zum Heben oder ziehen schwerer Lasten bekannt ist, oder als Gesangsbegleitung, der zum Teil magische Bedeutung beigemessen wurde.
Auch frühe Stammesfeste, Geisterbeschwörungen, Zauberheilungen wurden, wie heute noch bei manchen Völkern Asiens und Afrikas, durch Stampfen, Klatschen gleichmäßiger, dauernd wiederholter Rhythmen, zum Teil von eintönigem Gesang begleitet, gefeiert. Sprache spielte in diesem Gesang noch kaum eine Rolle.
Vielfach umfasste der Gesang nur ein bis zwei, höchstens drei bis vier Töne. Je eintöniger die Tonfolge, desto vielfältiger waren die Rhythmen. Sie wechselten ständig und wurden durch Gegenrhythmen begleitender Schlaginstrumente wie Trommeln und Pauken, die jedoch genauen Gesetzen folgten, noch verwirrender gestaltet. Der Gesang, wie er heute noch bei manchen Naturvölkern anzutreffen ist gibt Aufschluss darüber. Bei vielen dieser Naturvölker ist auch eine einfache Mehrstimmigkeit von zwei Gesangstimmen oder einer Stimme mit einem Begleitinstrument, zum Beispiel der Panflöte, in Quart- oder Quintabständen zu finden.
Interessant sind die Merkmale der Vortragskunst, wie sie von Naturvölkern und orientalischen Kulturvölkern überliefert sind: primitives Portamento (ein gepflegtes Legato, das ein wenig alle Zwischenstufen eines Intervalls hören lässt, also dem Glissando ähnelt), juchzerartiges Umschlagen von Brust- in Kopfstimme, heulende und brummende Endungen, Einschieben von leeren Silben und Ausrufen.
Im Jemen, in dem nach belegbaren Studien der Stand der jüdischen Musik aus der Zeit um 2000-1700 v. Chr. fast unverändert erhalten ist, kennt man die Praxis des Singens mit der Hand im Mund. Auch eine ägyptische Wandmalerei und ein babylonisches Relief Zeigen diese Pose beim Singen, wodurch ein gepresster, stark vibrierender Ton erzeugt wird. Der Talmud Jerusalem (Schkalim, 5,9) stellt fest: "(...) und wenn er seinen Daumen in den Mund steckt, so erzeugt er verschiedene Gesangarten."
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