5.1 AUFBAU DES AMEISENSTAATES /
Ameisen sind staatenbildende Insekten, die in der Systemordnung zu den Hautflüglern zählen. Sie haben immer schon das besondere Interesse des Menschen geweckt. Es sind meist kleine einfach gefärbte Tiere, die in Vielfalt, Form und Farbenpracht der Insektenwelt wenig auffallen. Was immer wieder die Aufmerksamkeit dieser kleinen Insektengruppe erregt, ist das Verhalten der lebenden Ameisen, das Phänomen des Staatenlebens, des Zusammenlebens in einer großen Gemeinschaft, ist weiterhin die Vielzahl von Tätigkeiten und Verrichtungen, die oft von mehreren Tieren zugleich und gemeinsam ausgeführt werden und die Vergleiche mit ähnlichen Erscheinungen der Betätigung und Arbeitsteilung in menschlichen Gemeinschaften aufkommen lassen. Mit fast 10.000 Arten sind Ameisen über die ganze Erde verteilt. Davon leben etwa 200 Arten in Mitteleuropa. Je weiter wir in subtropische und tropische Gebiete kommen, um so mehr Arten treffen wir an. Fast jede Art hat in Anpassung an die spezielle Umweltgegebenheit ihren eigenen Weg gefunden, ihre Grundfunktionen zu realisieren.
Meist sind die Angehörigen eines Ameisenstaates Geschwister, also Nachkommen einer einzigen Mutter - der \"Königin\" - mit der sie zusammenleben. Sie kann täglich bis zu einhundert Eier produzieren; das ist ihre Aufgabe innerhalb eines vollent¬wickelten Staatengebildes. Dieses zur \"Eier legende Maschine\" spezialisierte und umsorgte Weibchen unserer einheimischen Arten legt in der aktiven Sommer¬periode etwa 25.000 bis 40.000 Eier. Nur Kolonien einiger primitiver Arten umfassen 20 bis einige hunderte Tiere, aber eigentlich werden sie nach tausenden und zehntausenden gezählt - bei den Waldameisen nach hunderttausenden. Bei manchen Ameisenarten werden hohe Volksstärken auch dadurch erreicht, daß in Kolonien mehrere Königinnen gleichzeitig leben. Besonders starke auf mehrere Ableger verteilte Waldameisenvölker erreichen dadurch Individuenzahlen von bis zu 2 Millionen.
Zur Ausführung vielfältiger Arbeiten brauchen die Ameisen ihre Oberkiefer, die wie bei allen Insekten \"Mandibeln\" genannt werden und ein wahres Universalwerkzeug darstellen. Diese paarigen, sehr oft mit gezähnten Rändern versehene, harten Kiefer können gegeneinander bewegt werden. Sie dienen sowohl zum vorsichtigen Aufnehmen und Umlagern der weichen Brut als auch zum Ergreifen und Transportieren schwerer Baustoffe, zum Graben im Erdboden, zum Nagen in Holz, zum Zerkleinern von Beutetieren, Pflanzenteilen und Samen, aber auch als Kampfwaffe.
Hölldobler und seine Mitarbeiter waren fasziniert von der unglaublichen Kraft und Geschwindigkeit, mit der die Ameisen ihre Kiefer schließen können. Wenn die Ameise mit den Spitzen der Kiefer auf eine harte Oberfläche prallt, ist die Schlagkraft so groß, daß sie nach hinten durch die Luft geschleudert wird. Forscher untersuchten das Schließen der Kiefer mit Hilfe einer Hochgeschwindigkeitskamera, die 3.000 Bilder pro Sekunde macht. Zu ihrer Überraschung stellten sie fest, daß es sich bei dieser Kieferbewegung um die schnellste Körperbewegung handelt, die jemals im gesamten Tierreich gemessen wurde! Der gesamte Bewegungsablauf dauert zwischen einer drittel und einer ganzen Millisekunde, also zwischen einer dreitausendstel und einer tausendstel Sekunde. Wäre die Ameise ein Mensch, würde sie ihre Faust vergleichsweise mit einer Geschwindigkeit von 3 Kilometern pro Sekunde bewegen - schneller als eine Gewehrkugel durch die Luft fliegt.
5.2 DER NESTBAU
Staatenleben und Nestbau gehören unmittelbar zusammen. Der Familienstaat braucht ein "gemeinsames Haus", für die vielen tausenden Individuen. Das Nest oder der Bau ist Brutlager für Eier, Larven und Puppen. Die Anpassung der Arten an verschiedene Lebensräume ist vorrangig mit einer geeigneten Nestbauweise verbunden. Besonders für die Brutentwicklung muß unter allen Umständen optimale Wärme und hohe Luftfeuchtigkeit gesichert sein. Ist der Zuwachs eines Ameisenvolkes so stark, daß Raumnot im Nest entsteht, kann ein Teil des Volkes auswandern und in der Nachbarschaft ein Ablegernest errichten. So entstehen mehrere Nester umfassende Wohnsiedlungen (polydome). Die Bewohner der Zweignester bewahren fallweise Verbindung mit dem Mutternest. Auch der Austausch der Brut und Nahrung findet dabei statt. Für einige Waldameisen sind solche Nestverbände besonders charakter¬istisch. Sie umfassen manchmal bis zu über 100 Einzelnester und vereinen damit auf wenige Hektar ca. 20 bis 40 Millionen Ameisen.
5.3 DAS KLIMA IM NEST
Die Ameisen unserer Breiten brauchen vor allem eine gegenüber der Umwelt erhöhte Wärme im Nest und je nach Standort auch spezielle Anpassungen zur Erhaltung einer hohen Luftfeuchtigkeit. Die höchste Entwicklungsstufe zur Schaffung eines eigenen optimalen Klimas im Nestinneren ist bei den Waldameisen erreicht. Von Ende März bis Ende Oktober etwa gibt es im Nestinnern Bereiche die ständig 28 bis 32°C und nahezu 100% Luftfeuchtigkeit aufweisen!
Durch die Wahl des Nistplatzes wird von vornherein extremen mikroklimatischen Einflüssen ausgewichen. Anhaltende ungünstige Veränderungen an Neststandorten beantworten die Ameisen durch Umsiedlungen an einen günstigeren Platz. Je nach Temperatur wird die Kuppel des Nestes niedrig oder hoch gebaut. So wird sie bei niedrigen Temperaturen hoch und steil gebaut und bei hohen Temperaturen wieder abgetragen und flach. Bei Überhitzung schaffen die Arbeiterinnen eine Vielzahl von Öffnungen in der Deckschicht des Hügels, die eine Durchlüftung ermöglicht. Bei Abkühlungen der Außenluft am Abend, werden die Pforten verschlossen, damit die im Nest befindliche Wärme eingeschlossen bleibt. Am Tage sind dicht unter der Kuppel die höchsten und nachts die kältesten Stellen im Nest, während die Temperaturen im Zentrum ausgeglichen sind. Um Temperatur und Luftfeuchtigkeit im Gleichgewicht zu halten, bringen Arbeiterinnen Wassertropfen ins Nest, diese werden an Nestge¬nossinen weitergegeben und an Wände und auf den Boden verteilt. Die unbeweglichen Brutstadien werden in die für sie jeweils optimalen Temperaturzonen des Nestes umgelagert. Die Puppen werden von den Ameisen in die wärmsten Bezirke gebracht. Königinnen bevorzugen den Aufenthalt in kühleren Nestbereichen. Im Frühjahr, an den ersten Sonnentagen, sitzen Trauben von Arbeiterinnen in der Sonne, um sich aufzu¬wärmen, um dann die Wärme ihrer Körper im Nestinneren abzugeben.
5.4 DIE KÖNIGIN
Ameisenköniginnen genießen in ihren solide gebauten Nestern, in denen sie wie in einer Festung verborgen leben und von ihren eigenen Töchtern geschützt werden, ein langes Leben. Ihre Fruchtbarkeit ist von Art zu Art verschieden, sie ist aber nach menschlichen Maßstäben jedenfalls beeindruckend.
Die Königin wird von allen Arbeiten freigehalten. So kann sie ihre volle Energie der Produktion der Eier widmen. Dieses fruchtbare Weibchen in einer entwickelten Kolonie hat es nicht nötig etwa zum Nahrungserwerb das schützende Nest zu verlassen. Ein riesiges Heer wehrfähiger Arbeiterinnen gibt ihr Schutz und versorgt sie. Auch wenn täglich viele Arbeiterinnen umkommen, die Königin als Quelle des Nachwuchses bleibt über viele Jahre erhalten. Sie kann bei manchen Ameisenarten ein Alter von 15 bis 20 Jahre erreichen.
Einige Arten übertreffen in ihrer Langlebigkeit alles, was sonst von Millionen anderer Insekten bekannt ist, sogar die legendären Zikaden mit ihrem 17jährigen Lebens¬zyklus. Die Königin einer australischen Roßameisenart erreichte in einem Labortest ein Alter von 23 Jahren, bevor sie in ihrer Fortpflanzung nachließ und offensichtlich an Altersschwäche starb. Den Weltrekord in Langlebigkeit bei Insekten, hält eine Königin der schwarzgraue Wegameise: Durch die intensive Pflege eines Schweizer Insektenforschers wurde sie 29 Jahre alt!
Königinnen langsam wachsender räuberischer Arten produzieren nur ein paar hundert Arbeiterinnen. Ein anderes Extrem findet man bei der Blattschneide¬ameise in Süd- und Mittelamerika, die ungefähr 150 Millionen Arbeiterinnen zur Welt bringen. Königinnen der afrikanischen Treiberameisen produzieren die doppelte Menge, das heißt, die ungeheure Anzahl ihrer Töchter übertrifft die gesamte Bevölkerung der USA.
5.4 DIE MÄNNCHEN
Männlichen Ameisen haben eine kurze Lebensdauer. Sie werden nach der Begattung nicht mehr benötigt, da der Spermienvorrat, den sie der Königin übergeben, für deren ganzes Leben zur Besamung von Millionen Eiern ausreicht. Schon wenigen Stunden nach dem Hochzeitsflug sterben die Männchen.
Die Arbeiterinnen einer typischen Ameisenkolonie sind alle Töchter der Königin. Die Männchen - ihre Söhne - werden erst produziert, wenn sich eine genügend große Arbeiterinnenpopulation aufgebaut hat und die Fortpflanzungsperiode naht. Männchen sind Drohnen, in der ursprünglichen, altenglischen Bedeutung des Wortes: Drohnen sind Schmarotzer, die von der Arbeit anderer leben. Solange sie jedoch im Nest sind, sind sie völlig von ihren Amazonenschwestern abhängig und werden offensichtlich nur wegen ihrer Fähigkeit, die Gene der Kolonie weiterzugeben, geduldet.
5.5 DIE HOCHZEIT
Zu bestimmten Zeiten entwickeln sich die Larven nicht zu unfruchtbaren Arbeiterinnen, sondern zu geflügelten Geschlechtstieren, den Jungköniginnen und Männchen. Diese halten sich nicht lange im Mutternest auf. Sie begeben sich auf den Hochzeitsflug, auf dem sich die Paare finden und kopulieren. Der Hochzeitsflug führt zur Vereinigung der Paare aus verschiedenen Mutternestern und ermöglicht so die Eroberung neuer Siedlungsgebiete. Nach der Hochzeit werfen die Jungköniginnen ihre Flügel ab. Die Jungkönigin hat bei der Begattung so reichlich Spermien aufge¬nommen, daß der Vorrat für die Befruchtung der vielen hunderttausend Eiern während ihres ganzen Lebens ausreicht. Sie sucht sich ein Versteck, füttert und pflegt dort ihre ersten Nachkommen selbst bis diese ihr dann als Arbeiterinnen zur Seite stehen und sie sich nur noch der Eierproduktion zuwenden kann.
5.6 DIE ARBEITERINNEN
Mit der Fruchtbarkeit haben die Arbeiterinnen den Geschlechtstrieb und den Brutegoismus verloren, nicht aber den Brutpflegetrieb. Sie versorgen und schützen Eier, Larven und Puppen, die nicht ihre eigenen Nachkommen sind. Die Arbeiterin trägt Nahrung ein, nicht für sich selbst, sondern für die Geschwisterbrut, für die erwachsenen Geschwister, für die Mutter. Das gibt es außer bei sozialen Insekten sonst nicht im Tierreich!
Durch die Verteilung der Grund¬funktionen auf verschiedene Individuen, die zum Teil im Körperbau auf diese Spezialisierung festgelegt sind, können der Staat und seine Glieder nur in dieser Einheit lebensfähig sein. Die unfruchtbaren Weibchen machen den größten Teil der Bevölkerung des Ameisen¬staates aus. Sie verrichten praktisch alle anfallenden Tätigkeiten. Dazu zählen nicht nur das Betreuen der Eier, Larven und Puppen, auch das Füttern der Brut, Bauen und Reparieren der Gänge, das Bewachen und Verteidigen des Nestes und das Durchstreifen der Umgebung nach Nahrung und Baustoffen.
Das wichtigste Gut einer Ameisenkolonie, ist diese Arbeiterkaste - alles Schwestern - die sich den Bedürfnissen ihrer Mutter unterordnen und bereitwillig ihre eigene Fortpflanzung aufgeben, um ihre Schwestern und Brüder großzuziehen. Ihr Instinkt führt bei ihnen nicht nur dazu, auf Nachkommen zu verzichten, sondern jederzeit auch ihr Leben aufs Spiel zu setzten. Allein wenn sie die Sicherheit des Nestes verlassen, um auf Futtersuche zu gehen, setzen sie sich vielfältiger Gefahr aus. Es drohen ihnen Auseinandersetzungen mit benachbarten Kolonien, bei denen sie oft keine Überlebenschance haben. Andere Arbeiterinnen werden von Räubern gefressen oder verlaufen sich. Etwa 15 Prozent der Arbeiterinnen befinden sich außerhalb des Nestes und laufen dadurch Gefahr von Spinnen oder Raubfliegen gefressen zu werden. Im Schnitt lebt keine der futtersuchenden Arbeiterinnen länger als eine Woche. In dieser Zeit kann sie aber das 15- bis 20-fache ihres Körpergewichtes an Nahrung sammeln.
5.7 DIE SOLDATEN
Innerhalb eines Ameisenstaates können die Arbeiterinnen vielartig ausgebildet und für bestimmte Funktionen besonders angepaßt sein. Vor allem gibt es starke Größen¬unter¬schiede, wobei die einzelnen Individuen auch besonders großköpfig sind und besonders kräftige Oberkiefer als Waffe besitzen - die \"Soldaten\". Manchmal sind ihr Kopf und die Oberkiefer so groß das sie nicht mehr in der Lage sind, selbständig zu fressen, so daß sie von anderen gefüttert werden müssen, um am Leben zu bleiben und ihre Arbeit als Soldat im Ameisenstaat zu verrichten.
|