Leskows Novelle "Lady Macbeth aus dem Landkreis Mzensk" war prädestiniert für den Anfang einer Opern Trilogie über die Lage der Frau in Russland. Leskow selbst hatte diese Idee (1864-1865) einen zwölfteiligen Zyklus[65] über Frauenschicksale in Mittelrussland zu schreiben. Er schrieb als einziger seiner Zeitgenossen über die Frau der unteren Gesellschaftsschicht. Diese Thematik stand im Mittelpunkt seines künstlerischen Schaffens. Die Verfilmung[66] der Novelle 1927 "Katerina Ismailowa" trug dazu bei, dass sich Schostakowitsch mit diesem Stoff beschäftigte. Es gab allerdings keine Interpretation aus sozialistischer Sicht. Wichtig war hier entweder die animalisch erotische Sphäre oder der kriminelle Aspekt. Diese unreflektierten bzw. verzerrenden Darstellungen trugen 1936 zur Diskreditierung[67] dieser Oper von Schostakowitsch bei. Das Werk verblüfft durch ungewöhnliche Klarheit und Ideenreichtum. Im Sinne einer besonders wahrhaften und tragischen Darstellung des Schicksals einer talentierten, klugen und hervorragenden Frau, die zugrunde geht unter schrecklichen Bedingungen des vorrevolutionären Russland, steht dieses Werk auf einem der ersten Plätze.
In dem Jahr 1933 formulierte Schostakowitsch seine künstlerischen Absichten und seine Haltung gegenüber der Leskowschen Erzählung: "Nikolai Leskow stellt
die Hauptheldin seiner Erzählung als dämonische Figur dar. Er findet keinerlei Beweggründe weder zu ihrer moralischen noch zu ihrer psychologischen Rechtfertigung. Ich verstehe Jekaterina Ismailowa als energische, talentierte schöne Frau, die in einem finsteren, grausamen Familienkreis des kaufmännisch-leibeigenschaftlichen Russland untergeht. Ich versuchte in einer Reihe von Massenszenen den sozialen Hintergrund des Russland jener Zeit zu zeichnen." Schostakowitsch gibt hier den direkten Hinweis auf sein dramaturgisches Verfahren, die Erweiterung des sozialkritischen Gehalts der Leskowschen Erzählung, vor allem durch die Polizei als stupider Vertreter der Staatsgewalt sowie dem Volk in verschiedenen Erscheinungsformen. Auch in Schostakowitschs Vorwort zur Oper äußert er sich kritisch dem Werk Leskows gegenüber. In der Begründung der Stoffwahl sagt Schostakowitsch, er wolle das klassische Erbe der russischen Literatur in der sowjetischen Oper erweitern und aufrechterhalten, und weil Leskows Erzählung von großem dramatischen und sozialen Gehalt ist. Es gibt in der russischen Literatur kein deutlicheres Werk, welches die Lage der Frau in der alten vorrevolutionären Zeit Russlands charakterisiert. Wie allein schon aus dem Titel ersichtlich wird, geht Leskow ironisch an die Handlung heran. "Lady Macbeth aus Mzensk" - dieses zeigt, dass die Akteure nur kleine Charaktere mit kleineren Leidenschaften und Interessen sind als bei Shakespeare[68]. Schostakowitsch benennt in seinem Vorwort die wesentlichen Merkmale, die ihn an der Erzählung Leskows interessieren. Die soziale Tragik der Einzelschicksale an die grausamen, gesellschaftlichen Umstände, die realistische Gestaltungsweise Leskows sowie die Fortsetzung der Traditionen der russischen Kultur.
Die bestimmende Änderung Schostakowitschs liegt darin, dass eine Verbrecherin allein aus sinnlicher Leidenschaft nicht die Heldin des ersten Teils seines
geplanten Opernzyklus sein konnte. Er wollte das Verhalten der Katerina Ismailowa rechtfertigen, damit sowohl beim Zuhörer als auch beim Zuschauer der Eindruck von ihr als Persönlichkeit entsteht. Er nahm den Mord am Neffen heraus, weil er unbestreitbar aus habsüchtigen Zielen heraus begangen wurde, um die Erbschaft zu erhalten, die der ermordete Mann hinterließ. Die Hauptfigur sollte das Mitgefühl des Zuschauers verdienen. Dieses erschien für Schostakowitsch als Schwierigkeit, da sie zwei von mit Moral und Ethik nicht zu vereinende Morde begeht. Leskow stellt Katerina als triebhafte Frau dar, die ihr wohlhabendes Leben ändern wollte. Schostakowitsch stellt Katerina als eine kluge und begabte Frau dar, die aufgrund ihrer schrecklichen Lebensbedingungen, der grausamen, geldgierigen Umwelt und des kaufmännischen Milieus ein uninteressantes Leben führt. Ihren Mann liebt sie nicht, sie hat keine Lebensfreuden, findet nirgendwo Trost. Mit dem Erscheinen des Angestellten Sergejs, einem ehrlosen schlechten Menschen, ändert sich ihre Lebenssituation. Sie findet in ihm die gesuchte Liebe und Freude, ein Lebensziel, welches sie mit allen Mitteln erreichen möchte. Sie begeht daher zwei Verbrechen. Sie tötet aus Rache ihren Schwiegervater Boris Timofejewitsch, der Katerina mit dem Angestellten Sergej bei einem Rendezvous beobachtete und diesen auspeitschen ließ. Da Sergej kein heimlicher Liebhaber sein möchte, entsteht in Katerina das Verlangen ihren bis dahin Ehemann Sinowi Borissowitsch, der dem verliebten Paar und deren Glück im Wege steht, zu töten. Ihre Verbrechen sind Ausdruck des Protests gegen die Form gesellschaftlichen Lebens, in dem sie sich befindet, gegen die finstere Atmosphäre der Kaufmannswelt im vergangenen Jahrhundert.
Neben Leskow haben auch andere russische Schriftsteller sich mit Frauenschicksale ihrer Zeit beschäftigt, unter anderem Alexander Ostrowski[69] in seinem Drama "Gewitter", das 1859 entstand. Die Hauptfigur Katerina Kabanowa, ebenfalls gegen ihren Willen verheiratet, lebt mit einem charakterschwachen
Mann in einem Haus, welches von der herzlosen Schwiegermutter grausam beherrscht wird. Nachdem ihr Mann auf Reisen ist, beginnt sie sich in einen anderen zu verlieben, und begeht Selbstmord, nachdem sie die Liebe nicht erwidert sieht, als er sie im Augenblick größter Bedrängnis verlässt.
Schostakowitsch hat eine ganze Szene aus dem Ostrowski Drama, wenn auch nicht wörtlich in sein Libretto übernommen, den Abschied Katerinas von ihrem Ehemann Sinowi. Diese entwürdigende Szene soll als zusätzliches Motiv für ihre spätere Verhaltensweise mit in die Handlung aufgenommen werden.
Schostakowitschs Konzeption für die Gestalt der Katerina lag in der Umformung der Figur und des Handlungsablaufes. Er wollte sich deutlich gegenüber von Leskow abgrenzen. Leskow sah die Verbrechen der Katerina als Verbrechen aus Langeweile und aus fast tierischer, sinnlicher Leidenschaft. Sie ist eine Frau, die sich mit verbrecherischen Mittel die Position ihrer "Peiniger" bringt. Schostakowitsch sieht die Wurzeln in der unmenschlichen Lebensweise dieser Gesellschaftsschicht, in die Katerina Ismailowa gedrängt wurde. Katerinas Langeweile resultiert aus einem unerfüllten Leben an der Seite eines ungeliebten Mannes. Bei Leskow wird vorrangig die träge Langeweile der Katerina dargestellt. Schostakowitsch verbindet diesen Zustand mit der von ihr gewünschten Sehnsucht nach einem sinnvollen und liebeserfüllten Leben. Bei Leskow läuft Katerinas Leben bis zur Begegnung mit Sergej friedlich und ohne sichtbarer Unterdrückung wohin gegen Schostakowitsch bereits vom ersten Bild ab an Szenen eingebaut hat, die die versklavte und demütigende Rolle der Katerina deutlich machen sollen, wie zum Beispiel die Auseinandersetzung mit dem Schwiegervater oder die Abschiedsszene von ihrem Ehemann. Die Begegnung mit Sergej wird bei Leskow als oberflächliche Situation beschrieben. Bei Schostakowitsch wird diese Situation zugespitzt. Katerina tritt bei einer vergnüglichen Situation des Hofgesindes hinzu und verteidigt energisch das Recht der Frau auf Würde und Liebe in der Behandlung der Männer. Auch hier erfolgt wiederum eine Auseinandersetzung mit dem Schwiegervater. Diese Szene
existiert bei Leskow nicht. Im 3. Bild der Oper wird das Eingesperrtsein der Katerina dargestellt. Ihr Schwiegervater verriegelt alle Türen des Hauses und mahnt Katerina schlafen zu gehen. An dieser Stelle gibt es in der Oper ein längeres Arioso, indem Katerina ihre Sehnsucht nach einem menschlichen Leben voll Liebe und Glück äußert. Diese Momente existieren bei Leskow nicht. Im 4. Bild wird nochmalig der grausame Charakter des Schwiegervaters dargestellt. Dieses geschieht in einem großen Monolog und in der Szene der Auspeitschung Sergejs. Bei Leskow wird dieser Moment nur grob angedeutet, bei Schostakowitsch findet dieser seinen Höhepunkt. Der folgende Giftmord am Schwiegervater erscheint als natürliche Gegenreaktion gegen Unmenschlichkeit. Auch wird bei Schostakowitsch Katerinas Schuldgefühl musikalisch dargestellt. Auch der Mord an ihrem Ehemann wird bei Schostakowitsch als Notwehrreaktion beschrieben, wohin gegen Leskow eines ausführliche Beschreibung eines kaltblütig geplanten Mordes gibt. Schostakowitsch unterstreicht auch in dieser Szene die von Sergej ergriffene Initiative zum Mord ihres Ehemanns.
Im weiteren Verlauf der Opernhandlung entfernt sich Schostakowitsch von der Vorlage Leskows. Der Tod am Neffen wird ausgelassen. Stattdessen folgt die Beschreibung der Hochzeit Katerinas mit Sergejs, wobei hier Katerinas Schuldgefühl deutlich wird. Unsicherheit und Nervosität ist ihrem Verhalten erkennbar. Auch nach der Entdeckung der Morde versucht Katerina ihren Sergej zu decken. In den letzten Szenen (Marsch in die Gefangenschaft) konzentriert sich Schostakowitsch auf die Details, nicht wie bei Leskow in einer breiten Darstellung. Katerina kann sich bei Schostakowitsch nur noch durch ihre Liebe zu Sergej am Leben halten, sie wird jedoch durch dessen Untreue zur Gefangenen Sonjetka gebrochen und reißt sich und Sonjetka in ihrer völligen Verzweiflung in den Tod. Durch dieses Bild verdient die Schostakowitsche Katerina Mitgefühl und Verteidigung.
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