Der "logische" Anfang einer tabellarischen Biographie stellt normalerweise die Nennung des Eigennamens und des Geburtsdatums dar. Ceija erwähnt diese Daten erst in ihrem zweiten Buch, als sie eine Situation beschreibt, in der eine Amtsperson ihre Personalien aufnehmen will.
"Also trug ich meine Bitte an dieses Amt vor: "Ich heiße Margarete Stojka, geboren am 23. 5. 1933 in Kraubath, Bezirk Leoben in der Steiermark, und ich bitte Sie, mir einen Identitätsausweis auszustellen."
Das Amt repräsentiert unsere Gesellschaft, in der man die Menschen nach Zahlen und nach bestimmten Schemata einordnen möchte. Ceija mußte sich damals einen Identitätsausweis besorgen, damit sie in die "ordentliche und legale" Gesellschaft hineinpaßte. Wie sich Ceija dann mit ihrer "neuen Identität" fühlte, sagt sie uns eine Seite weiter: "Ein paar Zeilen und ein Stempel bestätigten meine Identität".
In Ceijas ersten Buch erfährt man von ihrer Zeitauffassung wenn sie von ihrer Zeit im Lager erzählt. Die Zeitorientierung passierte dort ohne Stütze eines Kalenders oder einer Uhr:
"Die Zeit verging ohne einen Kalender, so wußten wir auch nicht, ob es Montag oder ein anderer Tag war."
Der Tagesablauf im Lager wird durch das ständige Apellstehen und durch Zählen gekennzeichnet:
"Die SS-Frauen mit den Hunden kamen in die Baracke und riefen: 'Alles zum Apell antreten, Marsch, Marsch!' Nun stand das ganze Lager. Es waren so viele Menschen. Sie standen in Fünferreihen mit je einem Meter Abstand voneinander. [...] Die Zählung dauerte sehr lange, es wurde schon Abend, die Nacht zog langsam über das Lager."
Die Zahl der Hiebe und weiterer strafender Mittel ist auch ein Anhaltspunkt:
"Wenn manche weniger als 25 Hiebe bekamen, so wurden die gleich in der Baracke ausgeteilt. Man legte die Häftlinge über den langen Schlauchofen, zwei SS-Männer gaben den zwei Kapos die Anweisung, wieviel derjenige bekommen sollte. [...] und das wiederholte sich täglich."
Woran Ceija im Lager noch ihre Zeitwahrnehmung mißt, ist der Wechsel der Jahreszeiten (Witterungsverhältnisse). Das heißt, daß sie eine zyklische Wahrnehmung der Zeit hat:
"Inzwischen war der Winter vorbei, Weihnachten und Neujahr gingen lautlos vorüber. Es war ein Tag wie jeder andere [...]"
Die einzige konkrete Zeitnennung aus dem Lager ist das Weihnachtsfest im Jahre 1944, als die Nazis die Kinder zu einer Feier einladen. Die Wahrnehmung der Zeit geschieht so in einer Umgebung, die nicht "ihre" ist, sondern sie wird durch eine "höhere Macht" präsent: "Ein Kalender zeigte den 24. Dezember 1944."
In einem Interview berichtet uns Ceija nachträglich ihre Erinnerungen an die Zeit im Lager:
"Jeder Tag dort drinnen war ein Jahr, jede Stunde war eine Ewigkeit."
Das Leben während des Reisens nach den Lager wird auch zyklisch - nach dem Wechsel der Jahreszeiten und der Witterungsverhältnisse wahrgenommen:
"Die Sonne schien schon ziemlich warm, da konnte man keinen Rom mehr aufhalten. Unsere zwei Wagen rollten aus dem Gasthof."
Die Feiertage sind auch als bedeutende Punkte zur Zeitmessung anzusehen. Es sind die Tage, an denen die Familie zusammenkommt. Auffallend ist vielleicht, daß Geburtstagsfeiern keine Relevanz in den Erzählungen haben, was wieder davon zeugt, daß das genaue Geburtsdatum keine große Wichtigkeit besitzt.
Auf die Gesellschaft bezogen, bringt uns Ceija die Zeit mit dem Fortschritt in Verbindung. Der wirtschaftliche Fortschritt beendet die lange Tradition des Reisens der Roma und bedrohte somit ihre finanzielle Existenz. Ohne Arbeit und dem Leben mit der Natur verloren viele Roma einen Teil ihrer Identität:
"Die Zeit blieb nicht stehen, man merkte den Fortschritt. Vereinzelt tauchten die Traktoren auf, und mit den Viehmärkten ging es immer mehr bergab. Unsere Reise mit Pferd und Wagen lohnte sich nicht mehr."
Durch die Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse beginnt damals ein neuer Zeitabschnitt für die Roma:
"Langsam und mit schwerem Herzen fuhren wir weiter. Das sollte unsere letzte Reise mit Pferd und Wagen sein. Unsere Rösser wurden in Wien zu einem Schlachthof gebracht und unsere Wagen kaufte ein alter Fiaker. Somit ging für uns eine sehr alte Zigeunertradition zu Ende."
Die einzige Stelle, wo Ceija Zeitangaben sehr ausführlich schildert, sind jene Tage und Minuten, in denen Ceija spürt, daß mit ihren Sohn Jano etwas nicht in Ordnung ist und er schlußendlich stirbt. Das Kapitel, in dem sie vom Tod ihres Sohnes erzählt, beginnt mit dem Satz: "Es war am 10. November 1979."
An diesem Tag muß Ceija zu einem Jahresmarkt fahren und läßt ihren Sohn zurück. Von dem Zeitpunkt an quält sie eine gewisse Unruhe und gleichzeitig beginnt sie, die Zeit genau wahrzunehmen und zu schildern. Sie nennt das genaue Datum des nächsten Tages und beschreibt ihn folgendermaßen:
"Für mich war dieser Tag endlos und ruhelos." Zwei Seiten weiter erwähnt sie wieder die Zeit in Verbindung mit ihrer Aufregung:
"Ich dachte an meine Kinder, an Jano, um den ich ständig Angst hatte, und an meine kleine schwarze Puppe Silvia und ihre Tochter Simona. Die Gedanken an die Kinder und die Autobahn hielten mich in ihrem Bann. Meine Autouhr zeigte 22 Uhr."
Anschließend an diese Szene spürt sie Janos Hand und hört seine Stimme, die sagt, daß er schon gestorben ist. Ihre Verzweiflung steigert sich zwei Stunden später: "Die Uhr zeigte 24 Uhr. Ich lag im Bett und starrte durch das offene Fenster." Ceija versucht, sich zu beruhigen, indem sie zu stricken beginnt. "Nach zwei Stunden war die schöne, kleine Weste fertig. Es war genau drei Uhr morgens." Und dann doch die letzte Meldung:
"Es war entweder ein paar Minuten vor oder nach fünf, als das Telefon läutete." Der Anruf teilt den Tod des Sohnes mit.
Es ist interessant zu sehen, daß Ceija den Tod so wie das Leben als eine "ewige Reise" bezeichnet: "Nachdem sich mein Jano auf die ewige Reise gemacht hatte und dort drüben auf mich wartet, blieb ich mit meiner Tochter Silvia [...] zurück [...]"
Ab dem Tod ihres Sohnes verändert sich für Ceija die Perspektive ihrer Zeitwahrnehmung:
"Die Jahre vergingen für mich mit einem anhaltenden, nie aufhörenden Entzug von meinem geliebten Kind."
|