5.1 Die cosca
In Sizilien gibt es nach jüngeren Untersuchungen etwa 180-200 Mafia-\"Gruppen\" (1990), sogenannte cosche. Sie stellen weder eine einheitliche Organisation unter einem anerkannten Oberhaupt dar, noch lässt sich in ihnen Gruppenbewusstsein oder \"Wir-Gefühl\" beobachten (H. Hess). Die cosca besteht im Kern aus einem capo (Kopf) oder mehreren freundschaftlich verbundenen mafiusi. Von diesem Kern aus verlaufen mehrere dyadische (Zweier-)beziehungen zu anderen Personen oder Gruppen. Sie alle bilden die corona (Kranz) der verwandtschaftlich oder adoptiv gebundenen affiliati.
Da es keine formellen Initiationsriten gibt, vermutet man, dass der interne Zusammenhalt der cosca auf dem sizilianischen Verständnis von Freundschaft beruht. Diese Form von Freundschaft hat oft einen informellen Charakter, d.h. sie versteht sich als \"Geheimabsprache\", in welcher jede \"offizielle Größe\", also auch die Staatsgewalt, ausgeschlossen ist (ähnlich wie bei der omertà). Die Geschichte Siziliens hat besonders im späten 19. Jahrhundert gezeigt, dass diese subkulturellen Beziehungen viel tiefer gingen als die neuen Ansprüche des Nationalstaates und der offiziellen \"Staatsmoral\". So konnte sich die Mafia am Leben erhalten.
5.2 Der partito
Mit dem Begriff partito werden die Kontakte des mafiuso zu offiziellen Herrschaftsträgern verstanden. Freisprüche vor Gericht oder Aussetzung des Strafvollzugs sind auf Sizilien keine Seltenheit. Sie funktionieren aber nur, wenn der mafiöse Angeklagte über gute Verbindungen zur Staatsanwaltschaft, zum Polizeipräfekten oder zum Carabiniero im Ort unterhält. Resultat dieser über Geldgeschenke oder andere \"Dienstleistungen\" (beispielsweise Brautwerbungen im Auftrag eines mafiös verbundenen affiliato o.Ä.) erhaltenen Verbindungen ist eine sehr weitreichende Immunität des mafiuso.
5.3 Die Faktion
\"Faktion\" bezeichnet die Summe aller Beziehungen, die ein mafiuso unterhält. Neben cosca und partito umfasst die Faktion die amici dell´amici, die Freunde der Freunde. Sie ist ein von Fall zu Fall fluktuierender Personenkreis, der sich nur vage bestimmen lässt. Die Zughörigkeit zu einer Faktion eines bestimmten capo ergibt sich weniger aus der Nähe zu diesem capo als vielmehr aus dem gemeinsam erkennbaren Gegner, dem rivalisierenden mafiuso.
5.4 Die famiglia
Cosca und famiglia gelten als schwer voneinander zu trennende Begriffe. Der Kernbestand einer cosca scheint in der Regel immer aus familialen Grundeinheiten zu erwachsen. Blutsverwandtschaft garantiert erst absolute Verlässlichkeit und Loyalität. Wichtig ist meines Erachtens, dass die aus den cosche ableitbaren dezentralen Strukturen (s.o.) den Wirkungsgrad der Mafia erheblich erhöhen, vor allem bei Strafverfolgungen: Es werden jeweils nur kleine Teile des cosca-Netzes ausgehoben, der Großteil bleibt in der Regel intakt. Wurde ein capo verhaftet oder ermordet, treten oft Geschwister oder Ehegatten an dessen Stelle, um die Geschäfte weiterzuführen. So etwa im Fall der berühmt-berüchtigten Pupetta Maresca.
5.5 Moderne Mafiastrukturen
Heute scheinen die Familienverbindungen durch vertikale Gliederungen einzelner Mafia-Clans ergänzt zu sein. Streng hierarchisierte cupola (\"Kuppel\", Kommissionen) regeln das Zusammenspiel der einzelnen cosche. Eine überprovinziale \"Bundespolitik\" existiert wohl nicht, jede cosca handelt in ihrem Territorium autonom. Nur zur Koordinierung der Geschäfte, etwa um Konkurrenzsituationen beim Heroinverkauf zu vermeiden, oder als Schiedsgericht tritt die cupola auf.
Familientraditionen, konservativ-archaisches Denken und strenge Sozialriten bestimmen nicht nur den Aufbau der Mafia, sondern erklären auch ihre ungeheuere Machtfülle nach innen wie außen. Mentale und soziopsychologische Elemente, etwa im Verhalten Untergebener gegenüber dem capo, zeigen dies bis heute, trotz aller Verschiebungen im Gefüge der Mafia: Nach wie vor gibt es den \"klassischen\" capo-mafia mit traditioneller Werteauffassung, enger Familienbindung und einer Vorliebe zum sizilianischen Dialekt seines Dorfes.
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