Paris, 1926 - Blick auf die Seine
"Du kannst dir das nicht denken, was das für ein Land ist. Es ist, wie wenn es die Arme öffnet und sagt: Nimm mich - aber nicht so, wie das wohl die Tropen tun sollen, so brünstig schwellend-, sondern ganz einfach und nett und weich. Es ist bezaubernd.",
schwärmte er wie ein frisch verliebter Jüngling von seiner neuen Liebe, ".und du glaubst nicht, in welche leichte, selige Stimmung einen das versetzt", teilte er seiner Mary mit. Faszinierend beobachtete er die fröhliche, gelassene Lebensweise der Franzosen, kurz gesagt das menschliche Paris. So zuhause hatte er sich in Berlin nie gefühlt und er schwärmte weiter: " Sie denken mit dem Herzen und fühlen mit dem Kopf, es sind vor allen Dingen einmal Menschen."
Die Stimmung zwischen Deutschland und Frankreich war 1924 auf den Tiefpunkt und äußerst angespannt, da unter anderem in Deutschland ein gefährliches Bild von Frankreich verbreitet wurde und für Kurt Tucholsky war das wichtigste Ziel seiner Arbeit die deutsch-französische Verständigung. Dafür mussten erst einmal die Klischees und Vorurteile der Menschen in Deutschland gegenüber Frankreich ausgeräumt werden und stattdessen musste nun gegenseitiges Verständnis geweckt werden. Tucholsky sagte, man solle jedem deutschen 500 Mark mehr geben, damit er ins Ausland reisen und sich seine Vorurteile abgewöhnen könnte.
Er wollte die Leser nicht nur erreichen, er wollte sie dazu erziehen, genau hinzusehen, wenn sie Berichte über das Ausland lasen, und das erste was er tun musste, war einen Müllberg von falschen Assoziationen und Vorstellungen aufräumen. So zum Beispiel Tucholskys Vorstellungen von einer korrekten Auslandsberichterstattung: "Paris ist eine Stadt, deren weibliche Bewohner meistens in horizontaler Lage anzutreffen sind, und deren männliche, champagnerbesoffen, hysterisch nach dem Kopf Hindenburgs rufen. Das degenerierte Volk der Franzosen wälzt sich in nackten Paaren auf den Boulevards, ruft abwechselnd "Gloire!" und "á Berlin!" und hat überhaupt kein Nationalgefühl, darum wird es nächstens untergehen, und viel zu viel Nationalgefühl, darum wird Deutschland nächstens untergehen."
Er entwickelte aus der Kritik ein Programm der Frankreich-Berichterstattung, das hoch über dem stand, was in der Weimarer Republik üblich war. Dabei bemühte er sich nicht um die "Topnachrichten" sondern um die kleinen alltäglichen Einzelheiten, auf die es seiner Meinung nach ankam um sein Gastland darzustellen. Er lieferte Hintergründe und beschrieb kleine Geschichten von der Straße, die er so unvergleichlich leicht hinhauchen konnte und die doch fast nie unpolitisch waren.
Am 26. Juli 1924 kehrte Tucholsky für kurze Zeit nach Berlin zurück, um schließlich am 30.August 1924 seine Privatsekretärin Mary Gerold zu heiraten. Die Hochzeitsreise musste jedoch erst einmal ausfallen, da die Vorarbeiten zu der geplanten Zeitschrift "UHU", wegen der er eigentlich nach Berlin reiste um bei deren Vorbereitungen mitzuhelfen, noch nicht abgeschlossen waren.
Nach seiner Rückkehr nach Paris, zusammen mit seiner Frau, musste er jedoch erst seinen Rückstand bei der "Weltbühne" und bei der "Vossischen Zeitung" abarbeiten. Er hatte nun endlich das erreicht, wovon er schon lange geträumt hatte: Deutschland war weit genug weg, seine Gedankenmaschine arbeitete auf Hochtouren und mit fast 200 Texten pro Jahr konnte er fast an seine beste Zeit 1919/20 anknüpfen. Und mit Mary hatte er sein blondes Glück mit Happy End gefunden.
Seine Verbindungen nach Deutschland und zu deutscher Politik blieben natürlich genauso bestehen wie auch seine Kontakte zu Berliner Schauspielern, die gleichzeitig auch die Interpreten seiner Chansons waren. Auch in Paris schrieb er jetzt noch neue, großartige Lieder für deren Repertoire und darüber hinaus eine Fülle von Versen, die ursprünglich gar nicht für den Vortrag gedacht waren, in denen aber das Chansonelement so stark dominiert, dass man seine gesamte lyrische Produktion ab 1924 mit dem Begriff Chanson gleichsetzen könnte, da Sprache, Tonfall und Strophenbau von sehr hoher Musikalität sind. Durch seinen Aufenthalt in Paris werden ihm außerdem neue Anregungen und die Tradition des französischen Chansons nahe gebracht. Außerdem fiel ihm in dieser Distanz zum Berliner Amüsierbetrieb auf, dass den deutschen solche kleinen, netten angenehmen Lieder fehlten. Teilweise schrieb er in seinen Aufsätzen für die "Weltbühne" seine Eindrücke und Erfahrungen nieder und stellte öfter die Frage, warum es in Deutschland nicht möglich sei, im Chanson einen solchen Liedtyp der kultivierten Unterhaltung zu schaffen, da man auf diesem Gebiet von den Franzosen so manches lernen könnte. Kein Mensch dachte wirklich darüber nach was die Interpreten mit ihren Liedern eigentlich ausdrücken wollten, doch diese Lieder beinhalteten etwas heimisches. Lieder mit heimatlichem Inhalt wie das von "Montparnasse", dem Tucholsky sogar ein Feuilleton in der Zeitschrift "die Dame" widmete, gab es in allen großen Städten der Welt. Sie waren sehr populär, obwohl sie eigentlich nichts besonderes beinhalteten außer ein paar einfachen Reimen und dann als Refrain ein Ortsname. Vielleicht lag aber gerade darin das Besondere.
Eine Begegnung mit dem Sänger Aristide Bruant, der 1925 eine Vorstellung in Paris gab, imponierte Tucholsky gewaltig, da er miterleben konnte welche Verehrung dem Sänger dargebracht wurde und wie dankbar die Franzosen mit ihrem Sinn für Traditionen dafür waren, dass Aristide Bruant ihr Paris in der Weltliteratur unsterblich gemacht hat. Diese Begeisterung für ihren Nationalhelden äußerte sich darin, dass das gesamte Publikum alle Strophen seiner Lieder mitsang, nicht wie man meinen könnte nur die Refrainzeilen.
Währenddessen hielt seine Ehe mit Mary Tucholsky mittlerweile nicht mehr das, was er sich davon erhofft hatte, denn es schien ihm, dass Mary ihm als Mensch zu nahe gekommen sei und nun sah es plötzlich ganz anders aus. Das ersehnte "Märchen" Mary wurde nun zum Alltag und Tucholsky hatte nichts mehr, wovon er träumen konnte.
Im Spätsommer 1925 unternahm er eine zweimonatige Reise durch die Pyrenäen, die ihn mit einer für ihn völlig neuen Seite des französischen Chansons und dessen großen Künstlern in Berührung brachte. Auf ihrer Rückreise machten sie unter anderem Station in dem südfranzösischen Albi, der Stadt, in der Toulouse-Lautrec, der Zeichner des Moulin-Rouge , geboren war. Dort besuchte Tucholsky die Bildergalerie, die zu Ehren des berühmten Sohnes der Stadt eingerichtet worden war. Er verbrachte den einen gesamten Tag in den drei Sälen und betrachtete fasziniert die Portraits, die Toulouse-Lautrec vom Theater, vom damaligen Künstlermilieu, von Aristide Bruant, der Guilbert und der Goulue geschaffen hatte. Er lies sich aber auch Skizzen, Entwürfe und Schulhefte mit den frühen Zeichnungen zeigen.
Mary Tucholsky wird in dem 1927 erschienenen "Pyrenäenbuch" nicht mit einem Wort erwähnt und Tucholsky vermittelte dem Leser im Kapitel "Allein" tatsächlich den Eindruck, als habe er die Reise tatsächlich ganz allein gemacht. In dem Buch gibt er unter anderem eine detaillierte Schilderung von den Eindrücken, die die in zarten Farben flammenden Plakate und Portraits auf ihn gemacht haben. Außerdem lies er sich von den von Toulouse-Lautrec gezeichneten Blättern von Louise Weber, einer der berühmtesten Varietètänzerinnen ihrer Zeit, mitreißen und schreibt schließlich ein Chanson auf sie, das in seine Werke nicht aufgenommen worden ist. Ein weiterer Chanson beinhaltete einen Gruß an das alte Moulin-Rouge und an Toulouse-Lautrec und existiert nur als Werkstattmanuskript und mit dem hinweis für einen eventuellen Komponisten: "Im Refrain zu verwenden!"
"Vor langer Zeit
lief ganz Paris
nach Moulin-la-Galette.
Plakat, das schreit,
Reklame blies -
Denn dort tanzt ein Ballet.
Hoppla, hoppla, mit den Beinen - hoppla,
hoppla.
hoppla, hoppla..mit den Beinen in der Luft !
Und eine war dabei, die hieß: La Goulue!
Und wo die war, da weht Pariser Luft.
Ja, da - da traten sie zum CanCan an,
und da stand jeder Mann
auf seiner Bank.
So konnt er La Goulue, die Fesche, sehn
Und ihre Wäsche sehn,
die ganze Wäsche sehn -
Hallo! Geschrei! Champagner und Gesang!"
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