Ein "Prophet" oder "Seher", wie es im Nachwort des Essays heißt, war Amalrik nicht. Er hat die Schwerpunkte falsch gesetzt. Aus der Fehleinschätzung der Stärke der UdSSR zieht Amalrik logische, in der Konsequenz aber oft falsche Schlüsse über die Auslöser und den Charakter des sowjetischen Niedergangs. Umso zutreffender sind jedoch seine Aussagen über den Verlauf dieses Zusammenbruchs: über die Auflösung der Hegemonialmacht Sowjetunion in Osteuropa, die "nicht ganzen und nicht halben" Reformversuche vonseiten des Regimes, die Auflösung des Nationalstaates. Und dennoch - die wirkliche Bedeutung des Essays liegt nicht so sehr in der Aufstellung genauer Prognosen über das "wann" und "wie" des Zusammenbruchs. Amalrik war kein "Prophet", wollte nie als einer gesehen werden.
"Ich glaube, man muss sich die schlimmste aller Möglichkeiten vor Augen halten, um für die beste arbeiten zu können", sagte er 1976 gegenüber dem SPIEGEL . In seinem Vorwort schreibt er: "Ich möchte unterstreichen, daß mein Aufsatz nicht auf irgendwelchen Forschungen, sondern nur auf Beobachtungen und Überlegungen beruht. Von diesem Gesichtspunkt aus kann er als leeres Geschwätz erscheinen; in jedem Fall aber"- und darin liegt der eigentliche Sinn des Essays - "wird er bei den westlichen Sowjetologen das Interesse erregen, das bei den Ichthyologen ein plötzlich sprechender Fisch hervorrufen würde." Interesse erregte er in der Tat: "er ist kein Prophet und Künder, kein Fanatiker für oder wider das Regime. Er ist ebensowenig revolutionär wie orthodoxer Dogmatiker, sondern ein von außen und oben seine Sache analysierender, aufgeklärter und toleranter Publizist (..
.) Amalrik (ist) mit genau den Qualitäten ausgestattet, die in der russischen Geistesgeschichte so ungemein selten sind." - schreibt der Journalist Andreas Graf Razumosky - offensichtlich fast erstaunt. Die Analysen und Prognosen Amalriks erschienen dem Westen so untypisch für einen Bürger der Sowjetunion, dass in der Presse - zuerst in der "Washington Evening Star", später auch im SPIEGEL - offen spekuliert wurde, Amalrik kooperiere mit dem russischen Geheimdienst. "Amalriks Argumentation", schrieb der SPIEGEL, "läßt auf einen Autor schließen, der besser informiert ist als die meisten Spitzenfunktionäre" - und zitiert dann die Ost-Expertin Wanda Bronska-Pampuch: "Wie so häufig in letzter Zeit kommt einem der Gedanke, daß das Herausschmuggeln von Manuskripten aus der Sowjetunion bereits zu einem Geschäft geworden ist, das der Sicherheitsdienst zumindest infiltriert hat, wenn er es nicht gar zu seinem eigenen gemacht hat" Das Sowjetregime müsste, so die Argumentation des SPIEGEL, wie bei den anderen Fällen vorsorglich versuchen "eine Allianz zwischen Opposition und Bevölkerung zu zerschlagen. Das bewährte Mittel dazu wäre ein Schauprozeß gegen Amalrik und seine Gesinnungsgenossen.
Aber Amalrik ist frei und genießt mehr Freiheiten als die meisten Sowjet-Bürger." Amalrik antwortete in einem ebenfalls im SPIEGEL ungekürzt veröffentlichten Brief: "Bislang nutze ich tatsächlich eine größere Freiheit als viele Sowjetbürger. Diese Freiheit aber verdanke ich mir selbst. ICH WILL FREI SEIN - eben deshalb handele ich so, wie jeder freie Mensch handeln kann und muß. Ich gebe meine Bücher unter meinem Namen heraus. (.
..) selbst wenn man mich ins Gefängnis steckt, hoffe ich freier zu bleiben als Millionen meiner und Ihrer Landsleute die ,in der Freiheit' Hurra für Stalin und Hitler schrien und an die Allmacht der von ihnen geschaffenen Organisationen glaubten. Ich denke (...
), daß ich, wenn das Interesse an mir und meinen Büchern im Westen sinkt, dann verhaftet und anhand irgendeines falschen Dossiers vor Gericht gestellt werde (...) Sicher, es könnte sein, daß man mit mir auch anders verfahren würde." Man verfuhr anders. Nachdem ihm 1976 die Ausreise nur nach Israel - verbunden mit der Aufgabe der sowjetischen Staatsbürgerschaft - genehmigt wurde, zog er mit seiner Frau in die Niederlanden und hielt an verschiedenen Universitäten Vorlesungen.
Auf dem Weg zur Menschenrechtskonferenz in Madrid starb er 1983 unter bis heute nicht geklärten Umständen bei einem Autounfall. Vierzehn Tage nach dem Unfall wurde in seine Wohnung in Cranvessdur-Salles eingebrochen. Entwendet wurden ausschließlich private Dokumente - Gegenstände von materiellem Wert blieben unangetastet ...
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