A. Übersicht
Findet Handel zwischen zwei oder mehreren Ländern statt und wird an Steuergrenzen Umsatzsteuer erhoben, sind grundsätzlich vier Möglichkeiten denkbar: Steuern können entweder nur im Import- oder im Exportland, in keinem Land oder in beiden Ländern erhoben werden. Abhängig von der Erhebung der Steuer, spricht man von verschiedenen Besteuerungsprinzipien. Tabelle 1 gibt eine Übersicht über die Möglichkeiten der Steuererhebung:
Keine Besteuerung im Exportland Besteuerung im Exportland
Besteuerung im Importland Bestimmungsland¬prinzip Doppelte Besteuerung
Keine Besteuerung im Importland Keine Besteuerung Ursprungslandprinzip
Tabelle 1: Möglichkeiten der Besteuerung
Im folgenden werden die Eigenschaften und die Folgen des Bestimmungslandprinzips und des Ursprungslandprinzips weiter vertieft. Grundsätzlich existieren auch die Möglichkeiten "Doppelte Besteuerung" und "Keine Besteuerung", aber da sie für die Diskussion um die Umsatzsteuerharmonisierung in der EU keine Rolle spielen, werden sie nicht weiter betrachtet.
Abhängig von der Frage, wo die Umsatzsteuer erhoben wird, ist zu klären, welche Wirkungen beide Besteuerungsformen haben. Grundsätzlich ist zu fordern, daß "... die Besteuerung des Außenhandels wettbewerbsneutral sein soll." Der Begriff "Wettbewerbs¬neutralität" ist nicht eindeutig definiert; es sind folgende Versionen zu unterscheiden:
1. In einer idealen Welt ohne Steuern führt Handel zu einem internationalen PARETO-Optimum. Werden die Bedingungen für ein solches Optimum auch durch die Besteuerung nicht verletzt, spricht man von allokationspolitischer Wettbewerbsneutralität.
2. Die Situation nach Einführung der Besteuerung wird mit einer Situation ohne Besteuerung verglichen: Ändern sich die Außenhandelsströme in Niveau und Struktur nicht, spricht man von zahlungsbilanzpolitischer Wettbewerbsneutralität. Sie wird in dieser Arbeit nicht behandelt.
3. Sind "... alle Handelspartner in "angemessenem Ausmaß" am Aufkommen der Steuer beteiligt ..." , so spricht man von fiskalpolitischer Wettbewerbsneutralität. Nicht eindeutig definiert ist, was unter "angemessenen" verstanden wird. Gezeigt wird aber, daß unterschiedliche Besteuerungsprinzipien unterschiedliche fiskalpolitische Konsequenzen haben.
Für die verschiedenen Besteuerungsprinzipen ist zu prüfen, in wieweit sie diese Bedingungen erfüllen. Dazu wird ein einfaches Modell mit einstufiger Produktion verwendet, in dem sich der Außenhandel zwischen zwei Ländern abspielt (Inland und Ausland). Von Transaktionskosten wird abgesehen.
B. Besteuerungsprinzipen
1. Bestimmungslandprinzip
Nach dem Bestimmungslandprinzip sollen "...im grenzüberschreitenden Waren- und Leistungsverkehr die Erzeugnisse im Verbrauchsland entsprechend den dort geltenden Steuern belastet werden." Praktisch funktioniert dies, indem Exporteuren die Mehrwertsteuer erlassen und Importeuren sie beim Import ausländischer Waren berechnet wird. Wenn man davon ausgeht, daß die Preise vor Steuern in allen Ländern gleich sind, dann ist eine Folge des Bestimmungslandprinzips, daß es für den Empfänger keine Rolle spielt, in welchem Land sein Lieferant sitzt: Er bezahlt immer den gleichen Steuersatz (den Steuersatz des Bestimmungslands).
Graphisch läßt sich die Wirkungsweise dieses Prinzips wie folgt darstellen:
Abbildung 1: Das Bestimmungslandprinzip
Das Bestimmungslandprinzip ist das in der Welt am häufigsten angewendete Besteuerungsprinzip. Es wirkt wie eine Kombination aus Importsteuer und Exportsubvention für die inländische Produktion. Das Bestimmungslandprinzip benötigt Steuergrenzen; sowohl im GATT, als auch in den Römischen Verträgen wurde es als zulässig anerkannt.
Das Bestimmungslandprinzip entspricht dem Charakter der Mehrwertsteuer als einer allgemeinen Steuer auf den Verbrauch: Besteuert wird der Konsum; die Steuer fließt demjenigen Land zu, in dem der Konsument seinen Hauptwohnsitz hat und in dem er belastet wird. Die Steuersätze des Importlandes bestimmen die Steuerbelastung; auf einem Markt konkurrieren nur Güter, die mit dem selben Steuersatz belastet werden.
2. Ursprungslandprinzip
Nach dem Ursprungslandprinzip "... werden die Güter mit den Steuern des herstellenden Staates (Ursprung) besteuert. Exporte werden im exportierenden Staat mit Steuern belastet, während Importe steuerfrei bleiben." Als Folge des Ursprungslandprinzips kann der Exporteur alle Kunden aus der EU gleich behandeln, indem er den in seinem Land (Ursprungsland) geltenden Steuersatz in Rechnung stellt. Der Importeur hat die Möglichkeit des Vorsteuerabzuges für Waren aus allen Ländern der EU. Damit werden die Bezüge aus dem Inland und aus dem Gemeinschaftsgebiet vollständig gleichgestellt.
Das Ursprungslandprinzip wirkt wie eine Kombination aus Importsubvention und Exportzoll auf die inländische Produktion. Im Gegensatz zum Bestimmungslandprinzip entspricht es vom Charakter nicht einer Steuer auf den Verbrauch, sondern auf die Produktion. Graphisch läßt sich dieses Prinzip wie folgt darstellen:
Abbildung 2: Das Ursprungslandprinzip
(Was das makroökonomische Clearing ist und weshalb es nötig ist, wird unten erläutert. Im Moment können die grau unterlegten Kästchen vernachlässigt werden.)
Bei diesem Prinzip werden die Steuergrenzen in die importierenden bzw. exportierenden Unternehmen verlegt. Man erkennt, daß die Steuer beim reinen Ursprungslandprinzip nicht dem Land zufließt, in dem der Konsument seinen Haupt¬wohnsitz hat, sondern im Ursprungsland verbleibt. Die Steuersätze des Exportlandes bestimmen die Steuerbelastung. Da auf einem Markt Güter konkurrieren, die mit unterschiedlichen Steuersätzen belastet sind, besteht zwischen den Mitgliedsstaaten ein Druck, die Steuersätze anzugleichen.
C. Wettbewerbspolitische Konsequenzen der Besteuerung
1. Allokationspolitische Betrachtung
Allokationspolitisch erwünscht ist, daß die Preisrelationen die Kostenrelationen möglichst exakt wiedergeben. Daher ist ein Besteuerungsprinzip allokativ unproblematisch, wenn die Bedingungen für ein internationales PARETO-Optimum nicht verletzt werden, d. h. wenn es mit den Bedingungen des Produktionsoptimums und des Handelsoptimums vereinbar sind:
1. Im Handelsoptimum ist "... das Verhältnis der Grenznutzen zweier beliebiger Güter für alle Konsumenten im In- und Ausland gleich [...]". Es entspricht dem Verhältnis der Bruttopreise.
2. Im Produktionsoptimum ist "... das Verhältnis der Grenzkosten zweier beliebiger Güter bei allen Herstellern im In- und Ausland gleich [...]". Es entspricht dem Verhältnis der Nettopreise.
Für die theoretische Betrachtung geht man davon aus, daß die Bedingungen des PARETO-Optimums in einer Welt ohne Steuern erfüllt sind.
Generelle, proportionale Produktsteuern verursachen keine Wohlfahrtswirkungen: Da die Preis- und Kostenrelationen für Konsumenten und Produzenten unverändert bleiben, erfolgen auch keine Anpassungsreaktion und mithin keine Wohlfahrtswirkungen. Für den Fall, daß eine spezielle Steuer vorliegt, wird auf jeden Fall eine der beiden Optimalitätsbedingungen verletzt:
. Wird sie gemäß dem Bestimmungslandprinzip erhoben, werden die Bruttopreise verzerrt und die Marginalbedingung des Handelsoptimums ist nicht mehr erfüllt. Ein Produktionsoptimum ist dagegen möglich, da die Nettopreise unverzerrt sind.
. Bei Ursprungslandprinzip ist umgekehrt die Marginalbedingung für das Produktionsmaximum verletzt, da die Nettopreise verzerrt sind, während ein Handelsoptimum erreicht werden kann, da die Bruttopreise unverzerrt sind.
Die Frage ist, ob die Mehrwertsteuer in der EU eher den Charakter eine generellen, proportionalen Produktsteuer hat oder eher eine spezielle Steuer darstellt.
Da auch nach einer Neuregelung der Umsatzbesteuerung in der EU beispielsweise die Steuersätze differieren können, kann man im Fall der Umsatzsteuer nicht von einer generellen Produktsteuer sprechen, sondern die Mehrwertsteuer ist eine spezielle Steuer. Entscheidet man allein nach Allokationsgesichtspunkten, ist deshalb keine eindeutige Entscheidung möglich.
Die folgende Übersicht soll diesen Zusammenhang nochmals verdeutlichen:
Besteuerungsprinzip Auswirkungen Ergebnis
Bestimmungsland¬prinzip Produktion unverzerrt,
Handel verzerrt Produktions¬optimum möglich,
kein Handelsoptimum
Ursprungsland¬prinzip Produktion verzerrt,
Handel unverzerrt Kein Produktionsoptimum,
Handelsoptimum möglich
Tabelle 2: Produktions- und Handelsoptimum
Kritisch anzumerken gegenüber der allokationspolitischen Betrachtung ist, daß aufgrund von vielfältigen Verzerrungen (z. B. nichttarifären Handelshemmnissen) in der Realität die Bedingungen des PARETO-Optimums einer Welt ohne Steuern so gut wie nie erfüllt sind. Sind die Optimalitätsbedingungen aber bereits ohne die Erhebung der Mehrwertsteuer verletzt, so können nur noch second-best-Lösungen erreicht werden. Beim Vergleich suboptimaler Lösungen kann keine eindeutige Entscheidung zugunsten eines Verfahrens getroffen werden kann; deshalb ist ein eindeutiges Votum für ein Besteuerungsprinzip nicht möglich. PEFFEKOVEN weist darauf hin, daß der allokationspolitische Ansatz in der wirtschaftspolitischen Tagesdiskussion eine geringe Rolle besitzt.
2. Fiskalpolitische Betrachtung
Bei der momentan gültigen Übergangsregelung nach dem Bestimmungslandprinzip fließen die Steuereinnahmen dem Bestimmungsland zu. Dies hat zur Folge, daß jedem Land gestattet ist, seine eigenen Verbraucher zu besteuern, nicht aber Konsumenten in anderen Ländern.
Ein Übergang zum Ursprungslandprinzips hätte zur Folge, daß die Steuereinnahmen dem Ursprungsland zufließen würden: Damit ändern sich die Steueraufkommen der einzelnen Mitgliedsländer, als Folge käme es zu "...considerable revenue shifts between member states" . Da das Exportland die Steuereinnahmen erhält, hätten vor allem die Staaten Nachteile zu erwarten, die Nettoimporteure sind. Aus diesem Grund werden sich die Nettoimportstaaten gegen den Übergang zum Ursprungslandprinzip sträuben.
Trotzdem favorisiert die EU-Kommission im Grundsatz das Ursprungslandprinzip. Allerdings sollen aus haushalts- und steuerpolitischen Gründen die Nettoimportstaaten keine finanziellen Einbußen erleiden: Nach den Vorstellungen der Kom¬¬mission soll das Steueraufkommen weiterhin dem Bestimmungsland zufließen. Das hat zur Konsequenz, daß in den Plänen der EU-Kommission Steuererhebung und fiskalischer Anspruch auseinanderfallen und ein "Steueraus¬gleichs¬system" (Clearing-System) nötig ist.
Damit sind die grauen Kästchen in Abbildung 2 angesprochen: Sie zeigen die Funktion der Clearing-Stelle, die den zwischenstaatlichen Ausgleich vornehmen soll. Wie der Tabelle in Anhang B zu entnehmen ist, sind die aus dem Clearingmechanismus resultierenden Zahlungsströme z. T. erheblich.
Vorteil des Ursprungslandprinzips mit Clearing-Systems ist vor allem, daß der Verwaltungsaufwand der Unternehmen minimiert wird: Sie müßten nur die Brut¬to¬umsatzsteuer bei Exporten und die Vorsteuer bei Importen im innergemeinschaftlichen Handel erfassen und an die Finanzämter melden. Kleinunternehmen könnten vom Clearingmechanismus ausgenommen werden. Außerdem führt dieses Clearingsystem zwangsläufig zu finanziellen Überschüssen durch Direktimporte z. B. von grenzüberschreitenden Versandhäusern: Die Belastung im Ursprungsland wäre endgültig, da der Empfänger keinen Vorsteuerabzug geltend machen kann. Trotzdem ist das Ursprungsland zu einer Ausgleichszahlung verpflichtet, die zunächst bei der Clearing-Stelle verbleiben soll. Diese Überschüsse sollen regelmäßig an die Mitgliedsstaaten ausgeschüttet werden.
Kritisch äußert sich BIEHL zur Idee eines Clearing-Systems: Um Einnahmeeinbußen der Nettoimportländer zu vermeiden, favorisiert er den direkten Finanzausgleich, "... entweder bezogen auf die bisherige Umsatzsteuerverteilung oder [...] bezogen auf übliche Kriterien für Finanzbedarf und Steuerkraft."
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