2.1 Revolution der Jungtürken
Anfang Juli des Jahres 1908 ging von Makedonien eine Revolte türkischer nationalistisch gesinnter Offiziere aus, die in der Folge auf weitere Provinzen übergriff. Diese Offiziere, die sogenannten Jungtürken, hofften, durch die Schaffung eines Verfassungs- und Rechtsstaates nach dem Muster der west¬europäischen Demokratien das Osmanische Reich vor dem Verfall zu retten . Sie forderten die Wiederherstellung der suspendierten Verfassung von 1876. Sultan Abd Al Hamid II. musste dem Druck nachgeben, die Konstitution wieder in Kraft setzen und Parlamentswahlen ankündigen. Aus den Wahlen gingen die Jungtürken als stärkste Partei hervor . Gegenüber den nationalen Minderheiten auf dem Balkan betrieben sie eine zunehmend repressive Politik, wodurch sich die innenpolitischen Spannungen und Konflikte weiter verschärften.
2.2 Folgen der Revolution
2.2.1 Unabhängigkeit Bulgariens
Bulgarien befürchtete, die neue türkische Regierung könne ihre Rechtstitel in den okkupierten Provinzen durchsetzen . Fürst Ferdinand erklärte deshalb sein Land, das bisher in einem Abhängigkeitsverhältnis zu der Türkei stand, am 5. Oktober zu einem selbstständigen Königreich. Dem neuen Staat gehörte auch Ostrumelien an, das bisher eine tributpflichtige türkische Provinz gewe¬sen war. Man kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass hinter dieser Aktion keine Großmacht stand.
Die türkische Regierung protestierte heftig gegen die einseitige Verletzung des Berliner Vertrags von 1878, der dem Osmanischen Reich die Oberherr¬schaft über Bulgarien gesichert hatte. Die Entrüstung der Türkei fand aber keine Anteilnahme, da nach internationaler Meinung die Unabhängigkeitserklä¬rung Bulgariens dem nationalen Selbstbestimmungsrecht der Völker ent¬sprach .
2.2.2 Annexion Bosniens und Herzegowinas
Im Herbst 1906 wurde der rela¬tiv moderate österreichische Au¬ßenmini¬ster Goluchowski durch den kompromissloseren und ag¬gressive¬ren Baron Aeh¬rent¬hal abgelöst. Aeh¬renthal richtete seine Au¬ßenpo¬litik bereits von Be¬ginn an auf eine Schwä¬chung oder mög¬liche Zerstö¬rung Serbi¬ens. Seiner Mei¬nung nach hätte nur die An¬nexion Bosniens und Herze¬gowinas sowie die Auftei¬lung Serbi¬ens unter der Doppel¬monar¬chie und Bul¬garien die südli¬chen Gren¬zen des habs¬burgischen Reiches endgül¬tig gesichert. Ein erster Schritt in diese Rich¬tung war die Verkün¬dung des österreichi¬schen Planes, eine Bahn¬linie durch den Sandzak Novi Pazar zu bauen.
Vom April des Jahres 1908 an startete der ehrgeizige russische Außenmi¬nister Izvolskii zahlreiche Versuche, eine russisch - österreichische Einigung in verschiedenen Balkanproblemen zu erreichen. Der Eisenbahnbau, die bis jetzt noch nicht genau definierten Grenzen des Sandzak Novi Pazar und die Make¬donische Frage sollten diskutiert werden. Insbesondere zeigte er sich bereit, einer österreichischen Annexion Bosniens und Herzegowinas zuzustimmen, wenn Wien im Gegenzug gewillt war, seine Okkupationstruppen aus dem Sandzak Novi Pazar abzuziehen und eine Öffnung der Dardanellen für russi¬sche Kriegsschiffe zu unterstützen.
Dieser Vorschlag Izvolskiis bedeutete aber in Wirklichkeit eine Zustim¬mung Russlands zu der weiteren Etablierung Österreichs auf dem Balkan. Er riskierte quasi den Verlust der russophilen Haltung der Belgrader Regierung oder die Vernichtung Serbiens durch die Doppelmonarchie. Zudem wäre eine freie Passage durch die Dardanellen für die schwache Schwarzmeerflotte Russlands zu diesem Zeitpunkt von geringem Wert gewesen. Das russischen Außenministerium kam in einer Untersuchung aus den Jahren 1904 bis 1905 zu der Ansicht, dass eine Beibehaltung der damaligen Situation günstig sei, weil dadurch Russland vor Angriffen stärkerer Seemächte sicher war. Einzig der Gewinn des Sandzaks Novi Pazar, der ein österreichischer Keil zwischen Serbien und Montenegro war, hätte einen Vorteil bedeutet.
Trotzdem stellte Izvolskii in einem an Wien gerichteten Aidemémoire klar , dass Russland unter Umständen bereit sei diesem Handel zuzustimmen. Die beiden Außenminister Aehrenthal und Izvolskii einigten sich schließlich am 15. September 1908 in Buchlau in Mähren. Dort wurde allerdings keine schriftliche Vereinbarung getroffen, eine Tatsache, die die späteren Unstimmigkeiten noch verschärfen sollte .
Am 5. Oktober 1908 verkündete der österreichische Kaiser Franz Joseph I. dann, ohne andere Regierungen vorher zu informieren, die Annexion der Bal¬kanländer Bosnien und Herzegowina mit den Worten: "Eingedenk der in alten Zeiten zwischen Unseren glorreichen Vorfahren auf dem ungarischen Thron und diesen Ländern bestandenen Bande, erstrecken Wir die Rechte Unserer Souve¬ränität auf Bosnien und Hercegovina und wollen, dass auch für diese Länder die für Unser Haus geltende Erbfolgeordnung zur Anwendung gelange" . Die Ge¬biete wurden zwar schon seit dem Berliner Kongreß 1878 von Österreich - Un¬garn verwaltet, waren aber staatsrechtlich immer noch Provinzen des Osmani¬schen Reichs. Die Annexion löste daher eine internationale Krise aus .
Für Russland erfüllten sich die mit der Einigung von Buchlau verbundenen Erwartungen nicht. Zar Nikolaus II. missfiel die Rolle, die sein Außenminister bei den Verhandlungen gespielt hatte. Izvolskii hatte seine Kompetenzen durch die Vereinbarung mit Wien überschritten, die den Eindruck erweckte, dass der Zar es ohne weiteres akzeptiere, Slawen unter österreichische Herrschaft fal¬len zu lassen. Die internationale Situation stand ebenfalls ungünstig für Russ¬land. Der einzige Alliierte, Frankreich, war nicht bereit, einer Veränderung an der momentanen Stellung der Dardanellen zuzustimmen. Großbritannien ver¬weigerte gleichermaßen die Unterstützung der Pläne Izvolskiis. Somit konnte Russland sein Anliegen, die Öffnung der Dardanellen für seine Marine, wegen des internationalen Widerstandes nicht durchsetzen und protestierte nun ge¬gen die bosnische Annexion. Einen Ausweg aus dieser isolierten Position Russlands sah Izvolskiis in einer internationalen Konferenz, die über die Lö¬sung der Annexionskrise beraten sollte.
Die Schlüsselrolle in diesem Konflikt fiel nun dem Deutschen Reich zu, das von Österreich - Ungarn über die geplante Annexion nicht im Voraus informiert worden war. Wilhelm II. beklagte sich darüber, dass er als Alliierter nicht in die Pläne des österreichischen Kaisers Franz Joseph eingeweiht worden war . Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow ließ allerdings keinen Zweifel an Deutschlands Haltung und stellte sich, trotz heftiger Kritik aus eigenen Reihen, vorbehaltlos auf die Seite der Donaumonarchie. Am 29. März beschwor Bülow in einer Rede die "Nibelungentreue" gegenüber Österreich - Ungarn und er¬klärte, das Deutsche Reich sei bereit, an der Seite des Verbündeten zu kämp¬fen. Bülow wusste nämlich, dass Russland nicht imstande war, einen Krieg ge¬gen die Mittelmächte zu führen und folglich keinerlei Gefahr für Deutschland bestand . Österreich - Ungarn befand sich nun in einer fast unangreifbaren Position: Es war sich der deutschen Hilfe sicher und konnte die Teilnahme an einer internationale Konferenz, in der die strittigen Fragen hätten diskutiert werden sollen, verweigern. Russland hingegen war angeschlagen und isoliert, da weder Großbritannien noch Frankreich bereit waren, seine Politik zu unter¬stützen.
Die Annexion Bosniens und Herzegowinas, die ein gezielter Schlag gegen Serbien war, stieß dort auf einhellige Ablehnung: Serbien erkannte die Anne¬xion nicht an, da es seine Ansprüche auf die annektierten Gebiete und dem¬nach den Traum von einem Großserbischen Reich der Serben, Kroaten und Slowenen gefährdet sah. Aus diesem Grund wurde die gesamte serbische Ar¬mee mobilisiert und die Regierung protestierte vehement gegen die Aktion der Donaumonarchie .
Anfang des Jahres 1909 verdeutlichten sich nochmals die einzelnen Posi¬tionen. Deutschland würde, falls nötig, Österreich - Ungarn militärisch unter¬stützen. Frankreich und Großbritannien schreckten aber vor einem bewaffneten Eingreifen zugunsten Russlands zurück. Hinzu kam noch das Einlenken der Türkei, die anfänglich auf den endgültigen Verlust ihrer Provinzen mit Empö¬rung reagiert hatte. Es kam zu einem wochenlangen Boykott von Waren aus Österreich - Ungarn und zur Forderung nach einer Entschädigungszahlung. Wien erzielte schließlich unter deutscher Vermittlung am 26. Februar mit der Pforte eine Einigung über Bosnien und die Herzegowina. Der Türkei bekam umfangreiche Entschädigungsleistungen: "den Sandzak von Novi Pazar und 54 Millionen Goldkronen" .
Für Russland und Serbien blieb deswegen kein anderer Ausweg, als die neue Lage zu akzeptieren. Izvolskii ließ am 27. Februar 1909 in Belgrad mittei¬len, dass Serbien von jeglichem territorialen Anspruch an die annektierten Ge¬biete Abstand nehmen solle und weitere Provokationen zu unterlassen habe. Aufgrund der nun fehlenden Rückendeckung durch St. Petersburg erklärte Serbien am 31. Februar: "[to] abandon the attitude of protest and opposition which she has maintained towards the annexation since the last autumn [and to] change the direction of her present policy towards Austria - Hungary in order to live henceforth on terms of good neighbourliness with the latter." Darüber hi¬naus wurde sogar eine serbische Truppenreduzierung bekanntgegeben. Damit war die Krise ausgestanden. Die Mittelmächte hatten gewonnen .
2.3 Mittelbare Folgen der Annexionskrise
Die bosnische Annexionskrise konnte noch auf diplomatische Weise bei¬ge¬legt werden, da die betroffenen Staaten, wie zum Beispiel Serbien, die Tür¬kei oder Russland im Hintergrund, nicht für einen Kampf mit den Mittelmäch¬ten gerüstet waren. Die Folgen sollten sich aber als unübersehbar erweisen:
. In Belgrad steigerte man sich immer mehr in eine Todfeindschaft gegen Österreich - Ungarn hinein.
. Der alte russisch - österreichische Antagonismus in Südosteuropa lebte durch die Annexionskrise und die außenpolitische Blamage Nikolaus' II. vor der Weltöffentlichkeit wieder auf.
. Die Annexionskrise war mit eine Ursache für die beiden Balkankriege.
. Die Mächtekonstellation des Ersten Weltkriegs formierte sich.
. Das Attentat von Sarajevo, ausgeführt durch eine von der serbischen Regie¬rung geduldete Geheimorganisation, wurde durch den österreichisch - serbi¬schen Konflikt provoziert. Österreich - Ungarn sah sich daraufhin gezwun¬gen zu handeln und löste durch sein Ultimatum den Ersten Weltkrieg aus.
|