Wenn man an Sokrates denkt, stellt man sich gleich einen Menschen vor, der jeden Tag durch Athen streift, sich auf Märkten und Sportplätzen aufhält und sobald er einen anderen Menschen erblickt, egal, ob Staatsmann, Schuster, General oder Eseltreiber, auf ihn zugeht und ein Gespräch mit ihm beginnt. Einige Leute, allen voran seine Frau Xanthippe, haben ihm deshalb vorgeworfen, ein Herumtreiber und ewiger Diskutierer zu sein, der sich nicht um seine Familie kümmert, der nicht einmal einen Beruf ausübt, obwohl er den Beruf des Steinmetzen vom Vater erlernt hat. Seine Armut stört ihn selbst ja kaum, wie einer seiner bekannten Aussprüche bestätigt: "Wie zahlreich sind doch die Dinge, deren ich nicht bedarf!" Sokrates hat aber seinen Beruf sicherlich nicht aus Faulheit nicht ausgeübt; er treibt Gymnastik, um sich fit zu halten, man rühmt sogar seine "vortreffliche körperliche Verfassung". Als Soldat soll er sogar besonders hart im Nehmen gewesen sein.
Warum zieht er es also vor, durch die Straßen zu ziehen und andauernd mit Menschen zu disputieren? Es scheint ihm viel an dem zu liegen, was er zu sagen hat - und was er zu sagen hat ist der eindringliche Hinweis darauf, daß es auf das rechte Denken und auf nichts anderes ankomme. Nach Sokrates muß jeder über sich selbst, über sein Reden und Handeln, Rechenschaft ablegen können; er ist der Überzeugung, daß es zum Menschen gehört, über sich selber richtig Bescheid zu wissen. Wenn er also mit jemanden spricht, dann wird sein Gegenüber von ihm notgedrungen und unaufhörlich von ihm durch Reden dazu gebracht, daß er sich selber Rechenschaft darüber gibt, wie er jetzt lebt und wie er sein bisheriges Leben gelebt hat. Sokrates fragt jeden, ob er auch weiß, wovon er redet - und es gelingt ihm immer wieder, dem andern zu zeigen, daß er im Grunde nichts von dem versteht, wovon er vorher noch selbstsicher dahergeredet hat - und daß sie am wenigsten sich selber begreifen.
Die meisten Athener verachten Sokrates deshalb, weil sie sich verständlicherweise nicht gern öffentlich ihre Unwissenheit vor Augen führen lassen wollen. Nur einige junge Adelige halten zu Sokrates und begleiten ihn auf seinen Streifzügen durch die Stadt.
Sokrates ist es aber nicht darum gegangen, im Streit immer recht zu behalten. Er sucht vielmehr die Wahrheit. Er will herausfinden, wie es in Wahrheit um den Menschen und sein künftiges Schicksal steht. Durch seine Fragerei will er also die Menschen dahin bringen, zu verstehen, wie sie sich verhalten müssen, um in Wahrheit Mensch zu sein. Rechtes Denken soll zum rechten Handeln führen. Das ist Sokrates besonders wichtig, weil er Anzeichen des Verfalls im Leben der Griechen sieht, er ist unzufrieden mit den Regierungen. Mit ehrlichem Fragen, mit radikalem Fragen will er eine Einsicht in die Not der Zeit eröffnen, er will die wahren Erfordernisse des Menschseins erforschen.
Gerade deshalb findet Sokrates viele junge Anhänger, denen er aber Antworten schuldig bleiben muß. Auch er kann nicht Auskunft darüber geben, was es mit dem Guten und mit dem Gerechten, mit dem Menschen und mit dem rechten Handeln auf sich hat. Er gibt seine Unwissenheit sogar ausdrücklich zu. Gerade darin sieht er aber seine eigene Stärke. In seiner Verteidigungsrede sagt er ja auch zu einem Gespräch: "[...] keiner von uns beiden scheint etwas Gutes und Rechtes zu wissen; jener aber meint zu wissen und weiß doch nicht; ich jedoch, der ich nicht weiß, glaube auch nicht zu wissen; ich scheine somit um ein Geringes wissender zu sein als er, weil ich nicht meine zu wissen, was ich nicht weiß." Damit wird deutlich, daß er sich selbst offenen Auges in die menschliche Situation stellt, zu der eben auch die Gefahr gehört, sich in der Unwegsamkeit des Nichtwissens zu verirren und in der Fragwürdigkeit gefangen zu bleiben.
So sehr er dadurch die Verehrung seiner Schüler gewinnt, die er zu gleichem Mut aufruft, so sehr wird er deshalb von anderen kritisiert. Wenn Sokrates alles sicher Gewußte fragwürdig macht, dann gleicht das doch einer Aufruhr gegen das Überkommene, auf dem die Sicherheit des Daseins und die Festigkeit des Staates beruhen. Außerdem glaubt man, daß er mit seinen Fragen die Religion zum Einsturz bringen will. Und schließlich sieht man in ihm auch noch einen gefährlichen Verderber der Jugend. Sokrates wird letztlich angeklagt, wegen Gottlosigkeit und Verführung der Jugend.
In seiner Verteidigungsrede verzichtet Sokrates darauf, seine Richter günstig zu stimmen; er reizt sie sogar noch mehr, wenn er sagt, er handle im Auftrag Apollons, seine Anwesenheit sei ein großer Glücksfall für die Athener und es sei schwer, einen zweiten wie ihn zu finden, er sei einzigartig und von Gott als Ermahner zur rechten Lebensweise gesandt. Die Empörung der Richter und seine Verurteilung zum Tode ist also kaum verwunderlich.
Nach seiner Verurteilung bereiten seine Freunde alles für eine Flucht vor, Sokrates lehnt aber ab. Denn er wisse: gesetzwidrig zu handeln sei nichtswürdig und schändlich und man tue nicht recht daran, wenn man meine, "ein Mann, der auch nur ein wenig tauge, dürfe die Gefahr im Hinblick auf Leben und Sterben bedenken; er müsse vielmehr, wenn er handle, allein darauf achten, ob er gerecht oder ungerecht handle und ob seine Taten die eines guten oder eines schlechten Menschen seien." Warum es aber so zweifellos gewiß ist, daß man nicht Unrecht tun darf, kann Sokrates nicht beweisen. Die unbedingte Verpflichtung zum rechten Handeln ist für ihn eine Gewißheit des Herzens, die tiefer verwurzelt ist, als jede theoretische Sicherheit.
Dieses Gebot des Herzens führt er auf eine Gottheit zurück. Seinen wesentlichen Auftrag - die Befragung seiner Mitmenschen und die Entlarvung ihres vermeintlichen Wissens - versteht er als Gehorsam gegen eine Weisung der Gottheit. Noch am Schluß seiner Verteidigungsrede zeigt er sich zuversichtlich: "Nun ist es Zeit wegzugehen: für mich, um zu sterben, für euch, um zu leben. Wer von uns dem besseren Zustand entgegengeht, ist jedem verborgen, außer dem Gott."
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