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deutsch artikel (Interpretation und charakterisierung)

Tiefenpsychologische analyse von ,schneewittchen'


1. Drama
2. Liebe

Wie bereits in der Inhaltsangabe erwähnt, besteht eine Fassung von ,Schneewittchen' in der nie von einer Stiefmutter die Rede ist. Diese Version scheint davon auszugehen, dass der Tod der Mutter ein Symbol für die Veränderung der Mutter von Schneewittchen ist, die sich von einer liebevollen Frau in eine bösartige Egoistin, die aus Neid versucht ihr eigenes Kind zu töten, verwandelt. So baut auch diese Analyse auf diesem symbolischen Tod auf.

2.1.1. Die Sage von Blanca

Das Märchen ,Schneewittchen' basiert auf der mittelalterlichen Sage der schönen Blanca von J.K.A. Musäus. Um nun dieses Märchen richtig analysieren zu können, ist es notwendig, etwas über diese Sage zu erfahren. Die Sage von Blanca ist sehr viel ausführlicher als das Märchen, so enthält sie die ganze Kindheit der Stiefmutter, in der Sage heisst sie Richilde, die für die Analyse sehr wichtig ist. Nachfolgend sind die für die Analyse wichtigen Ausschnitte der Sage kurz zusammengefasst.
Richilde lebt als Kind im Kloster, wo sie von allen Männern umschwärmt wird. Als ihre Mutter stirbt, bekommt sie von ihr einen Zauberspiegel. Die Männer veranstalten Turniere, um zu bestimmen, wen Richilde als Gatten erhalten soll, doch Richilde will den schönsten Mann im ganzen Land heiraten. Eines Tages besinnt sie sich auf den Spiegel und lässt sich von ihm den schönsten zeigen. Es ist Graf Gombald, der jedoch bereits mit seiner Cousine verheiratet ist, diese aber mit dem Vorwand der Blutschande verlässt, als er erfährt, dass er der Traummann von Richilde ist. Seine verstossene Gemahlin ist schwanger und bringt in einem Kloster die schöne Blanca zur Welt, die nach dem Tod ihrer Mutter Richilde als Stiefmutter bekommt. Zum Schluss muss Richilde auf der Hochzeit von Blanca als Strafe für ihren Neid auf deren Aussehen ihn glühenden Pantoffeln tanzen und wird dann in einem Kerker eingesperrt.


2.1.2. Die Frau am Fenster

"Es war einmal mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen wie Federn herab, da sass eine Königin an einem Fenster, das einen Rahmen von schwarzem Ebenholz hatte, und nähte." 5

Es herrscht Winter und es ist kalt, nicht nur draussen, sondern auch im Innern dieser Königin, es handelt sich nämlich um Richilde. Richilde hat ihre ganze Kindheit in einem Kloster verbracht, ihre Mutter, so schreibt Musäus, war unfähig, Gefühle zu zeigen. Der Mann, den sie geheiratet hat, ist nur von ihrer Schönheit betört. Diese Frau kann keine Gefühle zeigen, weil sie es nie gelernt hat. Auch der Ebenholzrahmen um ihr Gesicht erinnert eher an eine Todesanzeige als an ein idyllisches Winterbild. Mit dieser Winterlandschaft werden die Gefühle von Richilde bildlich beschrieben.
Als sie nun nach den Schneeflocken aufblickt, sich in den Finger sticht, die Bluttropfen im Schnee sieht und in ihr der Wunsch nach einem Kind auftaucht, verliert sie keinen Gedanken an ihren Mann. Es ist schon sehr aussergewöhnlich bei Blut im Schnee an ein Kind zu denken, doch dabei den Vater des Kindes zu übergehen ist noch viel sonderbarer. Den Ehemann trifft dieser Kinderwunsch genauso, wie die Frau, deshalb würde jede normale Frau ihren Mann mit einbeziehen. Doch Richilde macht das nicht, was die Distanz zu ihrem Mann zeigt.
Der grosse farbliche Kontrast von rotem Blut, weissem Schnee und von schwarzem Ebenholz fällt eingangs der Geschichte auf. Diese grossen Widersprüche herrschen auch im Innern von Richilde. Zu dieser Zeit musste die Frau nämlich schön sein, das brachte ihr eine grosse Wertschätzung ein. Ihr Geist wurde nie beachtet, so konnte eine Frau nur mit ihrem Körper Anerkennung finden. Es war allerdings unmoralisch die eigene Schönheit zu zeigen, was in vielen Frauen einen inneren Konflikt auslöste, so auch in Richilde. In ihr herrschen die sehnsüchtige Frau am Fenster und die narzistische Frau vor dem Spielgel, die gleich erläutert wird. Dieses Kind, das sie sich nun wünscht, soll rot, weiss und schwarz zugleich sein, soll alle Widersprüche der Mutter in sich vereinen, was schon von vornherein als eine unlösbare Aufgabe erscheint. So werden an Schneewittchen bereits bei ihrer Geburt riesige Anforderungen gestellt.


2.1.3. Die Frau vor dem Spiegel

Richilde trägt, wie bereits erwähnt, zwei Charaktere in ihr. Die bereits beschriebene Frau am Fenster und die Frau vor dem Spiegel. Der Spiegel ist das Mass der Schönheit, und da die Schönheit die einzige Möglichkeit ist, Wertschätzung zu erlangen, ist der Spiegel das Mass aller Dinge überhaupt. Deshalb denkt Richilde,

"...sie wäre...die erste und allerschönste, trat vor ihren Spiegel und sprach:
,Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die schönste im ganzen Land?'" 6

Richilde braucht diese Bestätigung des Spiegels, und als er ihr zur Antwort gibt, sie sei die schönste, da scheint die Welt noch in Ordnung, als er aber sagt, dass Schneewittchen schöner sei als sie, da erst scheint der Konflikt zu eskalieren. Doch die Probleme von Richilde bestehen schon, als alles noch in Ordnung scheint. Sie muss sich ihre Anerkennung von einem Spiegel geben lassen, was doch eigentlich die Aufgabe des Ehemannes oder einer Freundin wäre. Von einer Freundin ist nie die Rede und der Gatte ist selbst viel zu eitel, um die Probleme seiner Frau zu erkennen und sie zu unterstützen. Denn er ist der grosse König, er kann nichts mit einer hilfsbedürftigen Frau anfangen. Frauen sind unnütz, auch wenn sie schön sind, sie sollen Kinder gebären, das ist ihre einzige Bestimmung. Die ideale Frau ist also eine schöne Mutter, das birgt schon wieder einen Widerspruch in sich.


2.1.4. Das Essen von Lunge und Leber

Als nun Schneewittchen in diese Welt voller Gegensätze geboren wird, ist sie das Wunschkind ihrer Mutter. Sie vereint rein äusserlich die Gegensätze von rot, weiss und schwarz, wie es sich ihre Mutter gewünscht hat. Doch sie ist auch wunderschön und als der Spiegel sagt, dass Schneewittchen schöner ist als ihr Mutter, da entfacht in Richilde ein grenzenloser Neid, bis sie eines Tages einem Jäger befiehlt:

"Du sollst es (Schneewittchen, Präzision der Verfasserin) töten und mir Lunge und Leber zum Wahrzeichen mitbringen." 7

Doch der Jäger tötet Schneewittchen nicht, sondern lässt es aus Mitleid in den Wald fliehen. Dann tötet er einen Frischling und bringt der Königin dessen Lunge und Leber, die sie sofort kocht und isst. Die Nahrungsaufnahme ist in der Tiefenpsychologie das Symbol für Identifikation. Richilde wäre gern wie Schneewittchen, sie möchte deren Schönheit. Die Leber ist der Ort der aggressiven Gefühle. Indem sie ihre Leber isst, erstickt sie jedes Aufbegehren von Schneewittchen im Kern. Durch das Essen der Lunge erstickt sie ihr Kind ebenfalls, jedoch vor lauter Fürsorge. Schneewittchen ist ihr Wunschkind und auch ihre einzige Tochter, die ganze Aufmerksamkeit gilt also diesem Mädchen, da sie ja sonst niemanden hat.

2.1.5. Die Beziehung zwischen Richilde und Schneewittchen

Da Schneewittchen ein Wunschkind ist, wird sie dauernd umsorgt, wie bereits erwähnt. Doch in krassem Gegensatz dazu steht Richildes Neid auf die Schönheit ihrer Tochter. Daraus entsteht eine Hassliebe, denn Hass gründet immer in enttäuschter Liebe. Als nämlich die Königin wieder einmal ihren Spiegel fragt, wer denn die Schönste im ganzen Land sei, da antwortet er, dass das Schneewittchen tausendmal schöner sei, und die Reaktion von Richilde ist voraussehbar:

"Da erschrak die Königin und ward gelb und grün vor Neid." 8

Aus dieser Hassliebe heraus versucht sie durch den Jäger, mit einem Schnürriemen, mit einem Kamm und schliesslich mit einem vergifteten Apfel ihr Kind zu töten. Diese vier Anschläge auf Schneewittchens Leben sind aber als Symbole zu verstehen. Richilde tötet ihre Tochter unbewusst, nach und nach. Der Kamm und der Schnürriemen dienen zur Verschönerung von Schneewittchen, doch der gute Wille wird dem Kind zuviel, so dass sie zu stark eingeengt wird und - bildlich gesprochen- daran erstickt. Dies erklärt die Wahl dieser Metapher. So kann man wieder die inneren Konflikte in der Mutter sehen, auf der einen Seite möchte sie ihrem Kind helfen, auf der anderen ist sie neidisch und kann die Schönheit von Schneewittchen nicht mehr ertragen. Richilde möchte ihre Tochter glücklich machen, doch was ihr als Glück erscheint, bedeutet für Schneewittchen Unglück, so führen beide Charaktere in Richilde zu Leid für Schneewittchen.


2.1.6. Der Glassarg um Schneewittchen

Als Schneewittchen nach dem vierten Tötungsversuch der Mutter von den Zwergen nicht mehr zum Leben erweckt werden kann, trauerten die Zwerge

"...und liessen einen durchsichtigen Sarg von Glas machen..." 9.

Wer sich Schneewittchen so im Sarg vorstellt, denkt eher an ein Ausstellungsstück als an ein totes Kind. Auch die fehlende Verwesung deutet darauf hin. Warum wollte Richilde denn ein Kind? Es sollte ihre inneren Gegensätze vereinen und ihr eine Funktion als Frau geben, es wurde von ihr erwartet, ein Kind zu haben. Darum ist Schneewittchen ein Leben lang das Vorzeigekind ihrer Mutter. Doch die tote Prinzessin wird ja zum Schluss erneut wiederbelebt, es stellt sich die Frage, warum sie nie wirklich stirbt. Dieser Sarg ist das Rettungsboot für Schneewittchen, denn tot stellt sie für ihre Mutter keine Bedrohung mehr dar. So überlebt sie im Sarg die Attacken von Richilde, sie flieht vor deren Neid und vor deren übertriebener Fürsorge. Deshalb darf der Sarg auch nicht zertrümmert werden, weil so seine Schutzfunktion verloren ginge. Schneewittchen muss den Sarg mit eigener Kraft öffnen, sie muss die Kraft entwickeln, ihrer Mutter standzuhalten.


2.1.7. Die Rolle des Königssohnes

Als die Zwerge Schneewittchen auf dem Berg aufgebahrt und mit goldenen Buchstaben auf den Sarg geschrieben haben, dass Schneewittchen eine Königstochter ist, da kam ein Prinz in den Wald, sah das tote Mädchen und verliebte sich in sie, was auch nicht sehr ungewöhnlich ist, wenn man wiederum die Sage von Blanca kennt. Dieser Königssohn heisst Gottfried und seine Lebensaufgabe ist es, den heiligen und den aggressiven Teil seines Vaters in sich zu vereinen, darin zeigt sich eine Seelenverwandtschaft zu Schneewittchen, die ihre narzistische und ihre sehnsüchtige Mutter versöhnen soll. Als Gottfried sein Schneewittchen auf Händen trägt, stolpert er. So rüttelt er seine Geliebte wach und sie spuckt den vergifteten Apfel aus, mit dem ihre Mutter sie töten wollte. Nun nimmt Gottfried die Stelle der Mutter in Schneewittchens Leben ein und sie ist erlöst. Als Schneewittchen erwacht, trägt sich folgendes zu:

"'Ach Gott, wo bin ich?' rief es (Schneewittchen, Präzision der Verfasserin). Der Königssohn sagte voll Freude: 'Du bist bei mir...Ich habe dich lieber als alles auf der Welt; komm mit mir in meines Vaters Schloss, du sollst meine Gemahlin werden.'" 10

Schneewittchen versteht nicht, was mit ihr geschieht. Sie hat noch nie so viel Liebe erhalten und vor allem bekommt sie jetzt die Unterstützung, die schon Richilde gebraucht hätte. Diese Liebe ist das einzige, das Schneewittchen für immer von ihrer Mutter erlösen kann.

 
 

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