\"Schattseite\", der zweite Roman, setzt an, wo die "Schönen Tage\" enden. Allerdings mit einer bemerkenswerten Modifikation. Der Eindruck von Unmittelbarkeit des ersten Buches, das so faszinierend wie bedrückend einen (uns Urlaubsgästen) exotisch anmutenden Zug der ländlich-alpinen Idylle entwirft, die grausame Brutalität eines "gemütlichen Knechtschaftsverhältnisses\" (Marx) enthüllt, verdankt sich einem erzählerischen Kunstgriff. Innerhofer schreibt in der dritten Person.
Er schafft sich damit den Abstand, der zwar kaum denkbar erscheint, jedoch notwendig ist, um das ganze sprachlose Elend zur Sprache zu bringen. Erst durch diesen Kunstgriff konnte es ihm gelingen, eine eben vermittelte Unmittelbarkeit zu erzeugen. Mit dem Wechsel der Erzählerhaltung in der "Schattseite\", von der dritten zur ersten Person, verzichtet Innerhofer auf dieses Mittel. Das Ich hat sich herausgearbeitet, und nun muß es sich auch präsentieren: als Ich. "Schattseite\" ist erklärtermaßen die Fortsetzung der "Schönen Tage\" - mit anderen Mitteln und einem anderen Resultat, das wieder rückbezogen sein will auf den Ausgangspunkt.
Holl geht. Er verläßt den Hof seines Vaters, um eine Lehre zu beginnen, um Arbeiter zu werden. Er hat es jedoch nicht einfach, denn er erkennt bald: "Nichts ist leichter, als einem Lehrling mit dem Arbeitsgang gleichzeitig auch zu zeigen, daß er ein Idiot ist. Aber diese Einsicht in konkrete Abhängigkeitsverhältnisse, in die Wirkungsweisen sozialer Zwänge, denen er wie die anderen unterworfen ist, bringt bzw. hält den Prozeß in Gang. Er erkennt zunehmend, nicht ohne fremde Hilfe, nicht ohne neues Leiden, setzt seine Erkenntnisse in Sprache um, begreift und zweifelt an den Begriffen, die ihm vorgesetzt werden. Er reflektiert, spiegelt sich in seinen Erfahrungen, die zunehmend zu solchen werden. Er begründet sich denn auch die veränderte Erzählhaltung: aus dem Objekt wird ein sehendes, lesendes, denkendes, sprechendes, erfahrenes Subjekt. Franz Holl lernt. Erst arbeiten, dann lesen, dann sprechen und schließlich: fragen. Er lernt weiterfragen - nach den Bedingungen der Herrschaft, auf dem Lande, in der Stadt, auf dem Bauernhof, in der Fabrik.
Die scheinbare Unmittelbarkeit der "Schönen Tage\" war in Wahrheit reflexiv gebrochen: das Resultat einer Vermittlung, deren Bedingungen zum Teil in "Schattseite\", vor allem in "Die großen Wörter\" beschrieben wird. Mit allen Schwierigkeiten, die sich bei dem Versuch einstellen: das Signal erwachte, sich sukzessive entwickelnde Ich festzuhalten. Der Erfolg des Buches wurde von der heimischen Alpen-Almhütten-Sennebuben-Urlaubslandschaft mitbestimmt. Nicht nur die lebensgeschichtlichen, auch die literarischen Konsequenzen liegen eigentlich auf der Hand.
Holl und sein Autor, der biographisch dahintersteht, sind beide gleichermaßen Ausdruck und Resultat der Entwicklung zur scheinbaren Befreiung hin, in der doch nur die Formen der Unterdrückung und Herrschaft gewechselt haben. Die zunehmende Reflexivität, die sich Holl, nicht zuletzt durch die fortschreitende Desillusionierung erarbeitet, demonstriert die Ausweglosigkeit des ganzen Unternehmens. Aber einmal in Gang gekommen, läßt sich der Prozeß nicht mehr anhalten. Es gibt kein zurück.
"Die Milieuwechsler waren ganz auf sich selber angewiesen. Kehrte eine oder einer gebrochen zu seinem Ausgangsort zurück, lief dort sofort alles zusammen und verbreitete die Nachricht, daß der oder die gescheitert sei. Hörte Holl von einem solchen Fall, wurde er jedesmal wütend, tobte und schwor sich, eher würde er jämmerlich in der Redewelt verenden, als nur mit einem Schritt in sein früheres Milieu zurückzukehren.\"
Kein Zurück im sozialen und keines im kognitiven Sinn. Er hat sich auf Erfahrungen eingelassen, und nun muß er sie machen.
"Aber Holl sah Zusammenhänge, zumindest versuchte er, unabhängig von den Meinungen, die auf ihn einwirkten, zu Zusammenhängen zu kommen, die er von seinen Erfahrungen herleiten konnte.\"
Ein mühsames Geschäft. Denn was Holl einsieht, erkennt, an Erfahrungen macht, muß all denen, die in der "Redewelt\" aufgewachsen sind, trivial erscheinen. Holl macht sich über vieles Gedanken. Neuartig, faszinierend erscheint ihm, dem Ausgeschlossenen, Bildung und Wissen. Doch schon die ersten Repräsentanten dieser neuen Welt, auf die er bald trifft, seine Lehrer am Abendgymnasium, nehmen ihm viele der Illusionen.
"Voller Hoffnung, ehrfürchtig interessiert hatte Holl die Schwelle in die Welt des Redens überschritten und sich schüchtern in die letzte Bank gesetzt, um sie jederzeit ohne viel Aufsehens wieder verlassen zu können.\"
Der überangepaßte und zugleich kritische soziale Aufsteiger Holl sieht richtig, daß sich ein wirklicher sozialer Aufstieg nur über den Eintritt in die Redewelt vollziehen läßt. Dabei lernt er aber auch, daß die Beherrschung der Sprache wohl Einsichten in die Sprache der Herrschaft ermöglicht, aber nichts an den Herrschaftsverhältnissen ändert. Diese, seine tiefste Desillusionierung wirft ihn faktisch an seinen Ausgangspunkt zurück.
"Auch seine Gänge zu den Vorlesungen irritierten ihn, er, der von den Arbeitern weg in die Welt des Redens gelockt wurden, konnte auf die Dauer nicht übersehen, daß außer den Unternehmern auch die Welt des Redens auf ihnen lastete.\"
Er steht, am Ende, zwischen den Fronten, ratlos und erst recht gebrochen - bewußt, d.h. von der Einsicht durchdrungen, daß es für ihn keine Alternative gibt. Der kleine Holl, der uneheliche Sohn einer Landarbeiterin, ist auf seinem Gang durch die bürgerliche Welt zum Subjekt geworden. Ein Emanzipationsprozeß ist (vorläufig) abgeschlossen. Da steht eine ratlose, zerrissene Figur, die sich verzweifelt zu begreifen versucht - sich und die gegenwärtige Welt.
Innerhofers Romane sind autobiographisch gesättigt, bis in die letzten Details hinein. Jetzt aber trennen sich die Wege des Autors und seiner Gestalt.
Franz Holl, unterdessen Student, steht fragend vor dieser Welt, ratlos, ohne Illusionen und ohne Hoffnung. Franz Innerhofer hat sich von Holl befreit: er hat ihn, seinen Weg durch die Welt beschrieben.
Das war 1987. Danach wurde es erst einmal still um Innerhofer; er hat lange geschwiegen, zumindest nichts publiziert. Es lief das Gerücht um, es gehe ihm schlecht. Es ging ihm tatsächlich schlecht, und das war keineswegs nur eine Privatsache. Innerhofer mußte nämlich den Preis bezahlen für seinen frühen und großen Erfolg. \"Schöne Tage\", "Schattseite\" und "Die großen Wörter\" waren seine Lebensgeschichte.
Allein die Tatsache, daß ein "Leibeigener\", der es geschafft hatte, Arbeiter zu werden und schließlich sogar Student, allmählich die Worte findet, seine eigene Geschichte aufzuschreiben, ist großartig. Das Material, das Innerhofer in seines Texten verarbeitet hat, ist sein eigenes Leben.
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