Die Psychoanalyse wurde von Sigmund Freud zur Erkundung unbewußter seelischer Vorgänge entwickelt, welche sich individuell als Wünsche, Tagträume und Träume, Charakter und Symptom manifestieren. So entstand nach und nach die psychoanalytische Lehre vom psychischen Werden des Menschen, von der Entstehung psychischer Strukturen, vom Wesen der menschlichen Seele, dem psychischen Konflikt. Indem psychische Entwicklung als mehr oder minder geglückte Zusammenspiel innerer und äußerer Faktoren verstanden wurde, entwickelte die Psychoanalyse von ihrem Beginn an auch eine Lehre von den Strukturen und Prozessen in Familie, Gruppe und Gesellschaft.
Psychoanalyse ist also eine psychologische Theorie nicht nur von Entstehung und Auswirkungen psychischer Erkrankungen, sondern auch vom normalen Seelenleben. Daraus und aus einem tradierten Erfahrungsschatz des Umgehens mit dem therapeutischen Prozeßgeschehen , einer Lehre von der Technik der Psychoanalyse, erschließt sich die Anwendung der Psychoanalyse als Behandlungsmethode und als Erkenntnisinstrument.
Das Interesse der Literaturwissenschaftler an der Psychoanalyse kam in der literarischen Moderne seit der Jahrhundertwende auf. Es gibt kaum einen Autor der literarischen Moderne, der sich nicht mit der Psychoanalyse auseinandergesetzt hätte. Zu den bekanntesten Autoren dieser Epoche zählen Schnitzler, Rilke, Thomas Mann, Kafka, Musil, Trakl, Benn, Döblin und Brecht. Die Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts ist ohne die Rezeptionsgeschichte der Psychoanalyse nicht angemessen zu begreifen. Das gilt allein schon für drei der bedeutendsten Romane aus der Zeit der Weimarer Republik, in denen die Psychoanalyse einen wichtigen Stellenwert hat: "Der Zauberberg", "Berlin Alexanderplatz" und "Der Mann ohne Eigenschaften". Ein Aufsatz, der in der Zeitschrift "Das Kunstblatt" unter dem Titel "Expressionismus und Psychiatrie" veröffentlicht wurde, betont den \"gewaltigen Einfluß\", \"den die Freudschen Gedankengänge auf die Kunst ausgeübt haben. Es gibt kaum ein Kunstwerk der jungen Dichtung, das nicht den Einfluß der psychoanalytischen Forschungsrichtung erkennen ließe\".
|