In seinem Aufsatz beantwortet Max Frisch (1911-1991) die Frage, was Höflichkeit ist. Er verarbeitet dabei Tagebucheintragungen der Nachkriegszeit. Er gibt seine Erfahrungen dieser Zeit wieder und ruft durch seinen Text die Menschen zu mehr Höflichkeit auf, die aufgrund der herrschenden Verhältnisse in Deutschland etwas zurückgeblieben war.
Frisch beschreibt antithetisch zu seinem Thema die Wirkung von purer Ehrlichkeit auf den anderen bei einer Meinungsverschiedenheit. Er zeigt auf, daß Ehrlichkeit eine Tugend ist, jedoch ohne ein "Kostüm" sehr verletzend wirken kann. Mit einem Beispiel untermauert er, daß sowohl Wahrhaftigkeit, als auch Lüge (Schmeichelei) gemeinsam haben, nur eine Ausrede zu sein, die uns hilft, die Aufgabe loszuwerden. Somit stellt er die Behauptung, Ehrlichkeit sei eine Tugend, in Frage und kommt zu dem Schluß, daß alleinige Wahrhaftigkeit einen Ausschluß aus der Gesellschaft bedeuten kann, sofern man sie nicht in die Höflichkeit kleidet, sondern auf "Kosten der anderen" ausübt. Er widerruft seine Gegenthese und behauptet, daß sich das Höfliche als "Gabe der Weisen" entpuppt. Schlußfolgernd stellt er fest, daß Höflichkeit und Wahrhaftigkeit keine Gegensätze sind, sondern das Höfliche nur eine "Form für das Wahrhaftige" ist. Seiner These zufolge kann nur die auf Höflichkeit basierende Wahrhaftigkeit in der Gesellschaft bestehen.
Wichtig ist jedoch zu erwähnen, daß Frisch die Höflichkeit nicht als ein Regelwerk, sondern als eine innere Einstellung des Menschen definiert, die nicht immer vorhanden ist.. Es scheint ihm dabei wesentlich, festzustellen, wie sich Worte oder Handlungen auf den anderen auswirken. Über Beispiele kommt er zu dem Schluß, daß man als höflich diejenige Art von Verhalten bezeichnen kann, bei dem man an den anderen zuerst denkt.. Weiterhin äußert er sich über Floskeln, die er als "Faxen" bezeichnet. Diese erfüllen zwar nicht seine Höflichkeitsdefinition und werden nur aufgrund ihrer Tradition verwendet, sondern sollen uns daran erinnern, daß Höflichkeit an sich keine Geste, sondern eine lebendige Tat ist. Über ein Beispiel verdeutlicht er, wie Höflichkeit wirkt: Sie dient dazu, der nackten und harten Wahrheit eine "liebevolle Form" zu geben.
Meiner Meinung nach hat Max Frisch die Rolle der Höflichkeit sehr gut definiert. Er beschreibt in einem Sprachstil, der auch Otto-Normalbürger anspricht, die Art der Meinungsäußerung und benennt dann wie ein Philosoph seine These: "Gesellschaft kann allein auf der Höflichkeit bestehen". Er hat mit seiner Höflichkeitsdefinition recht, indem er die Höflichkeit als Form für das Wahrhaftige ansieht. Ich kann Frisch nur bestätigen, daß Lüge nicht Höflichkeit sei, denn sie hilft nicht. Er zeigt somit eine Lebensphilosophie auf und stellt sich klar gegen falsche Höflichkeit, die Schmeichelei. Während er mit Beispielen seine These anschaulich untermauert, spricht er jeden an und versucht, ihm den Begriff Höflichkeit klar und deutlich näherzubringen. Ich denke, daß es ihm gut gelungen ist. Selbst nach 50 Jahren hat dieser Text nichts an Aktualität verloren, da sich einige Menschen besonders sozial Tiefergestellten unhöflich verhalten. Trotz alledem gehört zu einem Leben in der Gesellschaft mehr als Höflichkeit. Max Frisch geht zu sehr auf die, wenn auch große, Rolle der Höflichkeit ein und vernachlässigt dabei andere Themen wie Vertrauen und Freundschaft, die für eine ideale Gesellschaft genauso Voraussetzung sind wie die Höflichkeit.
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