Volksstück in 17 Szenen von Ödön von Horváth, Uraufführung: Leipzig, 18. 11. 1932, Schauspielhaus. - Der Lastwagenfahrer Kasimir, der infolge der Wirtschaftskrise gerade seine Arbeit verloren hat, und seine Braut Karoline, eine kleine Angestellte, besuchen das Münchener Oktoberfest. Ihm steht der Sinn nicht nach Lärm und Trubel; sie geraten bald in Streit, der sich an der harmlosen Er¬scheinung eines Zeppelins entzündet, und Kasimir lässt das Mädchen stehen. An einer Eisbude spricht sie der Kanzlist Schnürzinger an und trägt zu Karo¬lines innerer Verwirrung bei, als er bemerkt, "dass, wenn der Mann arbeitslos wird, die Liebe seiner Frau zu ihm nachlässt und zwar automatisch". Von die¬sem Gedanken halb abgestoßen, halb auch davon fasziniert, fährt Karoline mit Schnürzinger auf der Achterbahn. Kasimir, der periodisch im Hinter¬grund auftaucht und seine Braut beobachtet, ist in¬zwischen Franz und dessen Braut Erna begegnet, die sich mit Diebereien ihren Lebensunterhalt ver¬dienen. Schnürzinger dagegen trifft zufällig seinen Chef, den Kommerzienrat Rauch, der sich gleich für die hübsche Karoline interessiert und die bei¬den zum Trinken, ins Hippodrom und ins Kuriosi¬tätenkabinett einlädt. Rauch gelingt es schließlich, mit Karoline allein zu bleiben. Sie begleitet ihn zu seinem Auto, das Franz soeben ausgeraubt hat, während Kasimir und Erna Schmiere standen. Beim Fahren wird es dem betrunkenen Rauch übel; erst in der Sanitätsstation kommt er wieder zu sich und will nun von Karoline nichts mehr wis¬sen, obwohl sie ihm durch ihre Geistesgegenwart gerade das Leben gerettet hat. Karoline sieht, dass der ertappte Franz abgeführt wird und Kasimir sich mit Erna tröstet. Von Kasimir zurückgestoßen, be¬gnügt sie sich ihrerseits mit dem wiederaufgetauch¬ten Schnürzinger.
Nur momentan kommt Karoline das Erbärmliche dieses Gefühls- und Menschenrummels zu Be¬wusstsein, als sie erkennt, dass sie nicht mehr die Tri¬umphierende, Stärkere ist, sondern sich in die Lage der Benachteiligten, Beiseitegeschobenen versetzt sieht; indessen fällt sie schnell wieder in die für die Menschen dieses Stücks charakteristische illusionä¬re Selbsttäuschung zurück. Die am Ende kurz und grell aufleuchtende Demaskierung eines auf den er¬sten Blick völlig normalen, gleichwohl aber sich selbst betrügenden Bewusstseins, für "Volksstücke" ganz allgemein charakteristisch ist, wird in "Kasimir und Karoline" in besonders virtuo¬ser Weise durch den pointierten Szenenwechsel vorbereitet und in steter Steigerung zum Eklat ge¬führt.
Die manchmal nur aus einem musikalischen Motiv (einem tuschartig aufklingenden Marsch oder Schlager, den die Personen mitsingen oder nur mit anhören) oder aus einem pantomimischen Szenen¬- und Personenwechsel bestehenden, sich überstür¬zenden Miniaturszenen, die wie nebenbei auch den Pulsschlag eines Volksfests spüren lassen, leben vor allem aus dem scharfen Kontrast zwischen der ge¬hässigen, verkrampften oder hilflosen Gefühlswelt der auftretenden Figuren und dem kitschig-süßen Abgesang gängiger Schlagertexte - ein planvoll und mit gelassenem theatralischem Raffinement gehandhabter Kunstgriff, der in sich schon einen ätzend-scharfen Kommentar darstellt. In der Spra¬che, die als genaues soziales Indiz ihre Träger kenn¬zeichnet, entsteht ein begleitender kontrastreicher Zusammenklang aus derbem Dialekt und dem präzise nachgebildeten schichtenspezifischen schnoddrigen oder grotesken Jargon der Höherge¬stellten und Halbgebildeten.
Die von Horváth bevorzugte anekdotische, das Ei¬genleben der Personen betonende offene Schau¬spielform entfaltet sich hier besonders frei in einem melancholisch-trüben Reigen, der sich unmerklich einem Totentanz annähert, unter dem Gaudium das Skelett hervorscheinen lässt. Der Rummelplatz ist nicht so sehr Karussell als vielmehr Spiegel der "unglücklich verstädterten Menschen, die früher ein¬mal Volk waren" (J. Bab), eines entwurzelten und kleinbürgerlich korrumpierten Proletariats. Horváth führt mit diesem wie mit anderen seiner spezi¬fisch modernen Volksstücke die Tradition des Ne¬stroyschen Volkstheaters im 20. Jh. zu einem neuen Höhepunkt.
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