1.2 Bewertung
Eine Befragung von Kindern im Kindergartenalter hat ergeben, dass Jungen ihre Geschlechtsgenossen schlauer und attraktiver finden als Mädchen, die ihnen "langweilig" und "ängstlich" vorkommen. Demgegenüber schätzen Mädchen an ihren Geschlechtsgenossinnen, dass sie friedlicher und angenehmer im Umgang sind als Jungen, die ihnen "böse" und "wild" erscheinen.
Solche stereotypen Bewertungen geschlechtstypischer Eigenschaften sind bei älteren Kindern noch ausgeprägter. So ergab eine Befragung von Kindern zwischen 10 und 15 Jahren, dass sich die Jungen als das starke Geschlecht erleben. Sie sind froh, Jungen zu sein, weil sie finden, dass sie es besser haben als die Mädchen; insbesondere was ihre gesellschaftliche Stellung, ihre Fähigkeiten und ihren Körper betrifft. Bei den Mädchen stellt sich die Situation anders dar. Zwar geben die meisten an, dass sie gerne Mädchen sind; aber die Anzahl derer, die das Gegenteil von sich behauptet, ist beträchtlich. Diese Gruppe leidet vor allem unter ihrer körperlichen Unterlegenheit.
1.3 Wandel
Bis zum 18. Jahrhundert waren Frauen stets rechtlich vom Mann abhängig. Diese rechtliche Unterlegenheit wurde auch biologisch begründet. So wurde der weibliche Körper im Vergleich zu dem des Mannes als minderwertig angesehen. Als Begründung wurde angeführt, dass Menstruation, Schwangerschaft, Geburt und Stillen die weibliche Anatomie schwächen. Damit aber noch nicht genug. Am Ausgang des 18. und durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch wurde aus der biologischen Verschiedenheit von Mann und Frau eine geistige Unterlegenheit der Frau abgeleitet. So entstanden allmählich immer differenziertere stereotype Vorstellungen und Meinungen über Frauen und Männer.
2.1 Entwicklung
Es ist nicht möglich, exakt anzugeben, wie genau sich die biologische Ausstattung von Mädchen und Jungen unterscheidet. Es spricht jedoch einiges dafür, dass es solche Differenzen gibt. Deshalb ist es sicher zu einfach gedacht, wenn behauptet wird, Kinder würden nicht als Mädchen und Jungen geboren, sondern dazu "gemacht".
Richtig daran ist, dass Mädchen und Jungen gar nicht anders können, als die Erfahrung zu machen, dass es einen Unterschied macht, ob man eine Frau oder ein Mann ist. Sie erkennen allmählich, welche ständig wiederkehrenden Muster das Verhalten der Menschen in ihrer Umgebung aufweist. Diese Muster ahmen sie nach. Gleichzeitig lernen sie zu entschlüsseln, welche kollektiven Vorstellungen und Meinungen zu diesen Mustern geführt haben. So erwerben sie immer mehr kollektive Vorstellungen und Meinungen über die typische Frau bzw. den typischen Mann, bis sie die Geschlechtsrollenvorstellungen vollständig verinnerlicht haben. Entwicklungspsychologische Untersuchungen legen den Schluss nahe, dass dieser Prozess in zwei Entwicklungsstufen unterteilt werden kann.
(1) Kleinkinder haben die Geschlechtsrollenstereotype noch nicht wirklich verinnerlicht. Zumindest sind sie sich noch unsicher. Außerdem sind sie in der Regel noch nicht in der Lage, die Vorstellungen und Meinungen, über die sie vielleicht doch schon verfügen, in Sprache auszudrücken. Immerhin können Zweijährige schon angeben, dass Menschen weiblich oder männlich sind. Auch ist ihnen gemeinhin klar, ob sie selbst ein Mädchen oder Junge sind.
(2) Im Kindergartenalter haben Kinder dann schon einige Aspekte der kollektiven Geschlechtsrollenstereotype verinnerlicht. In einer Befragung von Dreijährigen wurde zum Beispiel Folgendes gesagt: Mädchen spielen mit Puppen, helfen der Mutter, reden viel, schlagen sich nie und brauchen Hilfe. Demgegenüber helfen Jungen dem Vater, wollen andere schlagen, sind ungezogen und bringen andere Kinder zum Weinen. Aus anderen Untersuchungen wissen wir, dass die Fünf- und Sechsjährigen noch differenzierter angeben können, wodurch sich Mädchen und Jungen auszeichnen. Dabei wird deutlich, dass sie sich ganz mit den Geschlechtsrollenstereotypen identifizieren.
2.2 Verhalten
In diesen Untersuchungen hat sich ergeben, dass sich Mädchen und Jungen tatsächlich unterschiedlich verhalten. Allerdings betreffen die Unterschiede nur ganz bestimmte Aspekte des Sozialverhaltens und des Spielens. So, wenn Mädchen stärker bemüht sind, sich mit anderen zu verständigen bzw. ihnen zu helfen. Während Jungen eher aggressiver und Selbstbehauptender agieren. Aber auch, wenn Mädchen lieber feinmotorischen Aktivitäten (z.B. Malen, Basteln) nachgehen, während Jungen grobmotorische Aktivitäten (z.B. Toben, Bauen) vorziehen.
3.1 Frühkindliche Erziehung: eine Domäne der Frauen?
Wenn man bedenkt, dass die Geschlechtsrollenstereotype im Rahmen der Sozialisationsprozesse von Generation zu Generation weitergegeben werden, dann stellt sich die Frage, wie weit diese Weitergabe auch im Rahmen der Erziehungsprozesse stattfindet. Wenn dem so ist - und es gibt nichts, was dagegen spräche - dann erhält ein Faktor besondere Bedeutung; die Tatsache nämlich, dass die Erziehung junger Kinder in erster Linie durch Frauen stattfindet. Das gilt für das Kleinkind, das vor allem von der Mutter (oder anderen weiblichen Bezugspersonen) umsorgt wird. Gleiches trifft aber auch für das Kindergartenkind zu, weil nicht zu übersehen ist, dass in dieser Institution Erzieherinnen dominieren. Sogar das Grundschulkind macht die Erfahrung, dass es vor allem von Lehrerinnen unterrichtet wird.
Wie genau sich diese "Übermacht" der Frauen in der frühen Kindheit auswirkt, lässt sich nicht sagen. Es sind einfach zu viele Faktoren im Spiel. So wissen wir, dass sich Mütter anders gegenüber ihren Kindern verhalten als Väter. Gleichzeitig gehen Mütter und Väter mit Söhnen anders um als mit Töchtern. Außerdem verhalten sich Mütter und Väter, wenn sie ihr Kind allein erziehen, anders als Mütter und Väter, die ihr Kind gemeinsam erziehen. Mit anderen Worten: Es handelt sich um ein höchst kompliziertes Zusammenspiel.
Obwohl wir all das noch nicht gut genug durchschauen können, lässt sich doch Folgendes sagen: Männer haben eine wichtige Rolle bei der Erziehung junger Kinder zu erfüllen. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einmal unterstreichen Untersuchungen, dass Familien, in denen sich der Mann nicht angemessen an den Familienaufgaben beteiligt, stärker von Konflikten zwischen den Partnern betroffen sind. Solche elterlichen Konflikte sind aber ein Risikofaktor für die Entwicklung eines Kindes. Daneben wissen wir aus Forschungen, dass Väter und Kindergartenerzieher entscheidend dazu beitragen, dass Kindergartenkinder ein positives Selbstkonzept entwickeln, weil sie sie in besonderem Maße zu Aktivität und Leistung herausfordern.
3.2 Familienerziehung
Dieser Unterschied ist u.a. für die Entwicklung des Selbstvertrauens entscheidend. Wenn nämlich Mädchen an der "kürzeren Leine" geführt werden, während Jungen ermutigt werden, "Schritte in die Welt" zu wagen, so heißt das nichts anderes, als dass Mädchen weniger Möglichkeiten zugestanden bekommen, sich auch einmal "etwas zu trauen". Genau das ist aber eine wichtige Erfahrungsbasis für die Entwicklung des Selbstvertrauens. Was das langfristig für die Kinder bedeuten kann, zeigen Ergebnisse der Schulforschung, wonach Jungen noch an Selbstvertrauen zulegen, während dies bei Mädchen nicht der Fall ist. Und zwar: Obwohl sie in der Schule erfolgreicher sind. Damit ist eines unübersehbar: Mädchen und Jungen sind in ganz unterschiedliche Erziehungsumwelten eingewoben, die wie "Entwicklungskorsetts" wirken, weil je nach der Geschlechtszugehörigkeit des Kindes bestimmte Entwicklungsaspekte des Kindes gefördert, andere aber "eingeschnürt" werden.
Außerdem haben Beobachtungen von Freispiel- und Stuhlkreisgesprächen ergeben, dass Erzieherinnen die Kinder - entgegen ihren Absichten - gemäß den Geschlechtsrollenstereotypen behandeln. Wie schon in Bezug auf die Familienerziehung festgestellt: Mädchen werden eher ermutigt, sich zurückzuhalten, während Jungen öfter bestärkt werden, ihren Impulsen zu folgen. Das Vertrackte daran ist, dass diese Erziehungsstrategien keineswegs "ins Auge springen". Vielmehr handelt es sich um Verhaltensmuster, die sich erst im Rahmen feiner Analysen erschließen.
4 Geschlechtsflexibles Verhalten - Möglichkeiten und Grenzen
Damals lautete die Parole: Darüber reden und ansonsten alles auf den Kopf stellen. Die Mädchen erfuhren, dass sie mit Puppen spielen, weil das von Mädchen erwartet wird. Die Jungen wurden nicht mehr im Unklaren darüber gelassen, dass sie bauen, weil ein typischer Junge eben baut. Daraufhin bekamen die Jungen Puppen geschenkt, und die Mädchen wurden in die Bauecke geschickt. Nur: Das klappte leider nicht. Die Mädchen schielten bald schon sehnsüchtig von der Bau- in die Puppenecke - und umgekehrt. So einfach geht es also auf keinen Fall.
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