Das Buch \" Der Hueter der Erinnerung\" von Lois Lowry ist ein Zukunftsroman, der eine Welt darstellt, die auf den ersten Blick perfekt erscheint.
Alle Menschen, die in ihr leben fühlen sich wohl, sie sind gut behuetet und alles ist perfekt organisiert.
Doch das \"gut organisierte\" kann anders gesehen werden: Als absolute Kontrolle.
Jedes Leben wird von Grund auf kontrolliert:
Menschen leben in Gemeinschaften, das heißt in abgeschotteten Gebieten, die sie nicht verlassen duerfen. Aber selbstverstaendlich würden sie das auch niemals versuchen.
Jedes Jahr werden in dieser Gemeinschaft 50 Kinder von sog. \"Gebaererinnen\" geboren.
Ab diesem Zeitpunkt ist das Leben der Kinder komplett organisiert. Zum Beispiel das von Jonas, der Hauptfigur.
Bis zum nächsten Dezember waechst er in Saeuglingsstationen auf. Hier wird in regelmäßigen Abstaenden sein Gewicht und seine Entwicklung geprüft. Er muss sich in einem bestimmten Alter aufsetzen koennen, Gegenstaende greifen koennen usw. .
In diesem Dezember wird er einer Familie zugeteilt. Seine leibliche Mutter bekommt er niemals zu sehen.
Jedes Jahr im Dezember \"rueckt\" er eine Stufe weiter auf. Jedes Jahr bekommen er neue \"Privilegien\". Jede dieser \"Privilegien\" hat ihre eigene Bedeutung. Kinder im Alter von 4 Jahren bekommen Jacken, die Knoepfe an der Rueckseite haben. Dies soll beispielsweise die \"soziale Interdependenz\" foerdern.
Im Alter von sieben Jahren bekommen sie endlich Jacken, die Knoepfe an der Vorderseite haben, das bedeutet Unabhaengigkeit.
Mit 8 bekommen die Jacken auch Tasche, was dafür steht, dass die Kinder mittlerweile eigene kleine Besitztuemer mit sich herum tragen duerfen.
Außerdem beginnen die Kinder mit 8 Jahren damit, Praktikumsstunden abzuleisten.
Sie testen nachmittags in verschiedenen Berufsfeldern, in welchem Bereich sie am besten arbeiten koennen. Anhand der Erfahrungen, die sie hierbei sammeln entscheidet sich, wenn sie zwoelf sind, eine große Abteilung ihrer Zukunft:
Ihr Beruf wird von dem Komitee anhand der Eigenschaften bestimmt, die sie in den letzten Jahren gezeigt haben. Jeder Beruf ist perfekt auf die jeweilige Person abgestimmt.
Nach ein paar Jahren kann man einen Antrag auf einen Ehepartner stellen. Dieser wird einem vom Komitee zugeteilt, nach den Eigenschaften, die die jeweiligen Personen zeigen.
Bewaehrt sich die Ehe, koennen die \"Partner\" einen Antrag auf ein Kind stellen. So bekommen sie einen Jungen und ein Maedchen zu geteilt.
Bis zu einem gewissen Alter leben und arbeiten sie so.
Dann werden sie in ein Altenzentrum eingeliefert. Hier verbringen sie wiederum eine vorgeschriebene Zeit in einer Umgebung, die genau auf ihre Beduerfnisse zugeschnitten ist.
Dann bekommen sie eine \"Abschiedsfeier\" und werden nach Anderswo geschickt, \"freigegeben\".
So ist das Leben festgelegt, von Geburt an.
Jonas Beruf wird zum neuen \"Hueter der Erinnerung\" bestimmt. Der Hueter der Erinnerung ist ein Mann, der alle Erinnerungen bewahrt an die Zeit vor der \"Gleichheit\", als die Dinge noch verschieden waren und auch die Menschen noch verschieden waren. Erinnerungen an Krieg, an Krankheit, Hunger, Ungerechtigkeit. An all die Unannehmlichkeiten unseres heutigen Lebens.
Das ist wichtig für die Gemeinschaft, denn es würde nur Unruhe zwischen den Menschen herrschen, wenn sie Gefuehle wie Angst kennen würden. Wenn sie ueberhaut Gefuehle kennen wuerden, denn diese werden durch das Einnehmen einer kleinen Pille jeden morgen unterdrückt. So kann alle Unannehmlichkeit vermieden werden.
Doch der Hueter der Erinnerung bewahrt auch noch andere Erinnerungen.
An Farben, Musik und vor allem an Gefühle.
Jonas erkennt immer mehr, dass niemand in seiner Welt tatsaechlich Gefühle hat, dass man zwar sagt \"Ich bin wuetend\" oder traurig oder sonst was, aber dass das ist Wahrheit nicht stimmt. Wahre Trauer koennen sie nicht erleben, denn die Gefuehle gehen nicht in die Tiefe.
Jonas erhaelt Erinnerungen an alle Teile der alten, risikoreichen Welt. Jonas weiß, dass es dumm ist, sich nach dieser Art von Leben zu sehnen.
Wie chaotisch doch das Leben waere, wenn jeder sich seinen Beruf oder gar Ehepartner selbst auswaehlen duerfte! Welch Chaos gaebe es nur, wenn jeder seine eigenen Entscheidungen treffen duerfte. Und dann denkt Jonas genau darueber nach. Eigentlich bedeutet sein Leben, dass er keine Entscheidungen treffen darf.
Jeden Tag traegt er das gleiche, das gleiche wie all seine Altersgenossen. Sein Leben ist vorbestimmt. Lohnt es sich ueberhaupt, dieses Leben zu leben?
Jonas Zweifel wachsen von Tag zu Tag. Doch als er herausfindet, was es bedeutet \"freigegeben\" zu werden, naemlich nichts anderes als Mord und als kurz darauf sein kleiner Ziehbruder, der für eine Weile die Naechte in ihrem Haus verbracht hat, freigegeben, umgebracht, werden soll, sieht er nur noch eine Chance: Flucht aus der Gemeinschaft aus dem Leben, das er bisher gewoehnt war.
Jonas begibt sich auf seinen Weg durch die Waelder in der Umgebung. Von Suchhubschraubern verfolgt muss er regelmaeßig um sich und seinen Bruder bangen.
Gleichzeitig weiß er, dass all die Erinnerungen, die er aufgenommen hat, wieder zurück zur Gemeinschaft \"gehen\". Jeder von ihnen hat nun einen Teil der Erinnerungen, die Jonas aufgenommen hat.
Am Ende des Buches faehrt Jonas mit einem Schlitten einen Berg hinunter, im unbestimmten Wissen, dort unten erwartet zu werden.
Ich denke, das Buch zielt vor allem darauf ab, dem Leser bewußt zu machen, wie wertvoll die eigene Entscheidungsfreiheit und Individualität ist, ohne dabei platt zu wirken.
Über einige Abschnitte hinweg passiert relativ wenig, das Buch hat keinen Spannungshöhepunkt in der Mitte sondern wirklich zum Ende hin.
Hierbei könnten ungeduldige Leser oder solche, die kein Interesse an moralischen Fragen und Zukunftsvisionen haben, recht schnell aus dem \"Lesegleichgewicht\" geraten und das Buch zur Seite legen.
Ich finde es dennoch wirklich lesenswert.
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