"Jetzt! Jetzt schreibe ich und bin gleichzeitig. Tatsächlich, ich stosse einen Jubelschrei aus, und während ich juble, notiere ich, dass ich es tue. Ahh! (...) Vorbei. Was ich von nun an schreibe, wird sein. Falls es so sein wird."
Sowohl "Kongo" als auch im "Siphon" finden wir zwei verschieden Zeit-, respektive
Raumebenen. Kuno schreibt seine Vergangenheit, seine Geschichte vor dem Kongo, auf seinem Laptop nieder, als er schon im Kongo weilt. Der Erzähler im "Siphon" reist von unserer Gegenwart in die Vergangenheit, sein Kinder-Ich von der Vergangenheit in unsere Gegenwart; die Erzählung ist in zwei Teilen geschrieben: Das Gegenwarts-Ich in der Vergangenheit und das Kinder-Ich in der Gegenwart.
"Von hoch oben, aus einer rosa Morgenluft, von einem Fesselballon aus ist der Aargau sanft, hügelig, blass, blühend, und wenn wir in der Korbgondel, in der wir sitzen, eine Lupe haben oder besser ein Fernrohr, sehen wir durch den Dunst, der die grünen Matten entlangkriecht, Kornähren, Mohnblumen, Kirschbäume, Bäche in schnurgeraden Betonkanälen. (...)Sanft ringeln sich Wege um Grasbuckel auf ein Dorf zu, mit einer grossen Kirche, mit Schindeldächern, mit Betondachterrassen, auf denen Bäume in Töpfen stehen und Liegestühle und Partyschaukeln. Blaue Schwimmbassins sind in Gärten. Der Pilot zieht am Gashahn. Das Gas zischt in die Luft. Wir sehen nun alles mit blossen Auge, taufeuchtes Gras und Hasen und Bäume und Autos, die auf einer Überlandstrasse vorbeifahren. Aus einem Kamin kommt roter Rauch. Wir frösteln. Rauschend senkt sich der Ballon zwischen Apfelbäume. Nasse Zweige schlagen uns ins Gesicht. Wir torkeln aus dem Korb. Wie Seemänner stehen wir schwankend im Gras, der Pilot, die dicke Frau und ich."
(Urs Widmer: Schweizer Geschichte, Diogenes Verlag, Zürich, 1978)
Urs Widmer vermag es, Details hervorzuheben, banalste Dinge von einer anderen, wunderschönen, spannenden Seite zu zeigen. Er ist ein sehr genauer Beobachter, verwendet Metaphern, kombiniert Dinge, Tiere, Pflanzen miteinander wie kein anderer, eben genauso wie er es sieht, hört, fühlt. Er schreibt, wie oben beschrieben, JETZT! und nicht nachher. Oder Vorher, oder gar nicht. Die Liebesszene zwischen Anselm und seiner Frau Aline, sowie deren Liebhaber zeigt, auf welche Art und Weise er eine Situation zu abstrahieren vermag, wie er uns vor den Kopf stösst, unseren Moralbegriff ein wenig kitzelt, auf die Schippe nimmt:
"Der Liebhaber schlug Anselm mit beiden Händen auf den Hintern, während der seine Frau beutelte, und Anselm feuerte seinen Freund an, als dessen Kopf zwischen Alines Schenkeln steckte. "Zeig's ihr, Willy!" - "Klaus!" gurgelte der Liebhaber. "Ich heisse Klaus." "
("Im Kongo", S. 36)
Urs Widmers Sprache mag zwar einfach sein, doch von einer unglaublichen Vielfalt und Tiefe - wenn man sich die Mühe und Zeit nimmt, danach zu suchen.
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