Frisch nennt seine Szenen wohl in der Tradition Bertolt Brechts \"Bilder\". Die Fabel des Stückes vollzieht sich in zwölf Bildern ganz unterschiedlicher Länge und Struktur. So besteht das erste Bild genaugenommen aus vier Szenen, die Exposition des Stückes:
1. Barblin, Pater
2. Lehrer, Tischler; Lehrer, Wirt
3. Andri, Barblin
4. Wirt, Soldat; Andri, Soldat
Der Zuschauer wird im Verlaufe dieser vier Szenen des ersten Bildes mit der gesamten Thematik und den wichtigsten Figuren konfrontiert:
. das schneeweiße Andorra, das eben in Wirklichkeit blutrot ist, wobei dem Zuschauer die Symbolik der Farben offenkundig wird;
. die Bedrohung durch das Nachbarland;
. Tod, Hinrichtung (Pfahl), bzw. Hinweis auf das katastrophale Ende;
. die Geringschätzung der Juden aufgrund haltloser Vorurteile;
. die Liebenden Andri und Barblin.
Das zweite Bild vervollständigt den thematischen Reigen: die Suche nach demIch bzw. nach der eigenen Identität. Einige dieser Bilder wirken skizzenhaft, z.B. das 5. Bild, in dem der betrunkene Lehrer sein Dilemma andeutet, oder das 11. Bild, in dem das Dilemma der Geschwisterliebe noch einmal offenbar wird. Andere Bilder leben von ihrem dramatischen Spannungsbogen. Das sind vor allem das 4., das 6.
und das 7. Bild, die Andris Verhaltensänderung zum Märtyrer entwickeln. Zwischen den Bildern stehen die Vordergrundszenen, in der Regel sind das die Szenen der Andorraner vor der Zeugenschranke. Ausgenommen aus dieser Schematisierung sind die Bilderfolgen 5/6 (keine Vordergrundszene), 8/9 (Senora, Lehrer) und 10/11 (patrouillierende Soldaten). Grundlage des Stückes ist Frischs Parabel im ersten Tagebuch: \"Der andorranische Jude\". Es liegt auf der Hand, aufgrund des berichtenden wie aufzählenden Charakters dieser Parabel eine Liste der Vorurteile zu erstellen, sie in Beziehung zu dem angeblichen Juden zu bringen, der sich als Andorraner entpuppt, wodurch diese Vorurteile auf die Andorraner zurückfallen (Spiegel).
Die Schlüsselaussage ist \"tun ihm nichts\", was Frisch postwendend kommentiert: \"also auch nichts Gutes\". Das Tun der Andorraner, dessen Ergebnis das fertige Bildnis des Juden ist, ist nicht \"Aktion\", also Handeln im eigentlichen Sinn, sondern Denken, Sagen, Geisteshaltung. Deshalb kann man den Andorranern auch direkt nichts vorwerfen, läßt man einmal streng moralische Kategorien außer acht. Die Reaktion ist im Grunde nichts anderes als die Suche nach seiner Identität, die damit endet, daß er das Bild übernimmt, das die Andorraner für das Bild des Juden halten. Das dieses Bild logischerweise als Spiegel wirken muß, dann nämlich, als der Jude sich als Andorraner erweist, bedarf eigentlich keiner Erläuterung. Viel bezeichnender ist, daß Frisch selbst
dem Klischeedenken verfällt, wenn er die Andorraner die Züge des \"Judas\" erkennen läßt.
Die Folge der zwölf Bilder läßt sich in zwei Sequenzen aufteilen: Im Verlaufe der ersten sechs Bilder versucht Andri, seine Lebensgeschichte zu verwirklichen. Eine Lebensgrundlage (Tischlerlehre) schaffen und eine Familie gründen (Heirat mit Barblin). Die Vorstellung von dieser Zukunft, die sich in nichts von dem unterscheidet, was man gemeinhin als normal bezeichnet, versetzt Andri in höchste Glücksempfindungen. Dieses Glück verhindern die Andorraner, auch sein Vater. Die ersten sechs Bilder demonstrieren diesen Vorgang. Sie zeigen, wie der Jude Andri mit den Vorurteilen konfrontiert wird, wie die Andorraner ihm begegnen. Dabei fällt
das 5. Bild sicher heraus, denn hier deutet der Lehrer konkret an, was man schon weiß: Andri ist sein Sohn.
Die Begegnungen zwischen Andri und den Andorranern bestimmen die Andorraner
mit ebenso subtiler wie offener Gewalt. Sie mißbrauchen ihre Machtposition schamlos, denn die meisten haben ein persönliches Interesse, daß diese Begegnung zu ihren Gunsten ausgeht:
. Der Soldat will Barblin haben.
. Der Tischler verspricht sich mehr Umsatz mit Andri im Verkauf.
. Der Wirt ersteht billig Land und erhält einen Sündenbock für sein Verbrechen.
. Der Jemand will seine Ruhe haben und steht dabei für all jene, die diese Gewalt tolerieren oder nicht sehen wollen, sich dumm stellen oder ganz einfach zu gleichgültig sind.
Die Mauer, die die Andorraner so errichten, wird für Andri mehr und mehr unüberwindbar. Diese Begegnungen führen dazu, daß Andri sich beobachtet fühlt und argwöhnisch darüber reflektiert, inwiefern die ihm nachgesagten Eigenschaften und Verhaltensweisen zutreffen.
Die Bilder acht bis zwölf zeigen Andris Reaktion und schließlich sein Ende im zwölften Bild. Die Reaktion ist gegen die Andorraner, gegen Can und Barblin, doch im Grunde gegen sich gerichtet, und sie wird getragen vom Haß gegen seine Umwelt; gegen Can und gegen sich. Nur so ist seine Provokation im 8. Bild verständlich, auch seine Weigerung, die Annahme der neuen Identität wieder zurückzunehmen oder sein Heil in der Flucht zu suchen. Äußerer Anlaß dieser Reaktion ist die Weigerung Cans, ihm Barblin zur Frau zu geben (4. Bild) und dann vor allem die Szene vor Barblins Kammer im 6. Bild, als der Soldat aus der Türe tritt. Die Wende dieser Entwicklung von
der Selbstbeobachtung und Auflehnung gegen das für ihn bereitgestellte Bild des Juden zur Übernahme der ihm aufgezwungenen Identität vollzieht sich im Verlaufe des 7. Bildes: \"Ich versteh schon, daß mich niemand mag. Ich mag mich selbst nicht, wenn ich an mich selbst denke\" (S. 61).
Das 9. Bild bringt ein retardierendes Moment, die Begegnung Andris mit der Senora, der Schwarzen aus dem Nachbarland, seiner Mutter, die ihm schließlich einen wertvollen Ring schenkt. Es scheint, daß die Mutter die sich anbahnende Katastrophe noch aufhalten könnte. Darauf deutet auch Andris euphorische Stimmung zu Beginn des zweiten Gesprächs mit dem Pater hin. Letztlich bewirkt das Auftauchen der leiblichen Mutter das Gegenteil: Im \"Hort der Freiheit und der Menschenrechte\", wo man auf das \"Gastrecht pocht\", auch bei unangenehmen Ausländern, wird der Gast mit einem Stein erschlagen. Vielleicht war das auslösende Moment zu dieser Tat die
Bereitschaft der Senora, in aller Öffentlichkeit für den Schwächeren, den Juden einzutreten, sie, eine Schwarze von drüben, denen man in Andorra Greueltaten gegenüber Juden nachsagt.
\"Er trug sein Anderssein sogar mit einer Art von Trotz, von Stolz und lauernder Feindschaft dahinter\" (Tagebuch 1946 - 1949, S. 29). Dies zeigt sich auch in Andri, als ihm der Pater seine wahre Identität vermitteln möchte: \"Jetzt ist es an Euch, Hochwürden, euren Juden anzunehmen\" (S. 86). Sehen wir ihn im 7. Bild nach und nach stumm werden, so ist es jetzt der Pater, der verstummt, während Andri redet. Aber Andri nimmt nicht nur sein ihm aufgezwungenes Anderssein an, er nimmt auch sein Schicksal, seine Hoffnungslosigkeit, sein Ende an: \"Meine Trauer erhebt mich über euch alle, und so werde ich stürzen. Meine Augen sind groß von Schwermut, mein Blut weiß alles, und ich möchte tot sein. Aber mir graut vor dem Sterben. Es
gibt keine Gnade -\" (S. 87). Hören wir ihn im ersten Bild im Hochgefühl seiner sich ihm abzeichnenden Zukunftsperspektive sagen: \"Die Sonne scheint grün in den Bäumen heut\", so muß er jetzt resigniert feststellen, daß diese Hoffnung für ihn ein bedeutungsloses Bild geworden ist: \"Gnade ist ein ewiges Gerücht, die Sonne scheint grün in den Bäumen, auch wenn sie mich holen\" (S. 88).
Was nun folgt, ist nur noch die Konsequenz dessen, was sich schon angebahnt hat. Der Mord an der Senora, der die Schwarzen auf den Plan ruft, ist Auslöser von jenem Ende, das sich Andri prophezeit, das aber gleichermaßen die Andorraner zu Verdammten stempelt. Angesichts des schreienden Unrechts seines Endes haben sich nichts anderes im Sinn, als ihre Vorurteile weiterhin auszuspielen, \"Judengeld\", um ihre erbärmliche Haut zu retten.
Andris Tragik ist in dem Umstand zu sehen, daß er bei der Suche nach seinem Ich eine Identität annimmt, annehmen muß, die seine Isolation festigt, die um so hassenswerter wird, je mehr er sie anzunehmen bereit ist.
Das strukturale Grundelement dieses Stückes ist also diese oben analysierte Begegnung zwischen den Andorranern und dem angeblichen Juden Andri. Eine Begegnung, die auf der Seite der Andorraner zunächst einmal durch ihre Geisteshaltung, durch ihr Sagen und Denken, auch durch ihre Verneinung gekennzeichnet ist. Letztlich wird die Begegnung auch bestimmt durch Formen subtiler Gewalt, durch verschiedenste Formen von Gewaltanwendung, vom Ausspielen vorhandener Machtstrukturen bis hin zur Anwendung roher Gewalt. Diese von den Andorranern bestimmte Begegnung hat Andris Reaktion zur Folge, die eine Korrektur des Bildnisses nicht mehr möglich macht. \"Ich wollte ja nachher mit ihm reden, aber da war er schon so, daß man halt nicht mehr reden konnte mit ihm\" (S. 36), sagt der Tischlergeselle vor der Zeugenschranke und verdeutlicht damit den schon im Zusammenhang mit dem Pater hervorgehobenen Sachverhalt. Die tragische Konsequenz desselben kulminiert im 9. Bild, läßt aber gleichzeitig erkennen, wie hoffnungslos und weitreichend die Schuldverstrickung der Andorraner gediehen ist: \"Und alle, alle, nicht nur mich. Sehen Sie die Soldaten. Lauter Verdammte. Sehen
Sie sich selbst. (...) Sie werden beten. Für mich und für sich. Ihr Gebet hilft nicht einmal Ihnen, Sie werden trotzdem ein Verräter\" (S. 88).
So zeigen sich Parallelen, aber auch gravierende Unterschiede zwischen der Vorlage aus dem Tagebuch und dem Bühnenstück. Die Andorraner des Modells sind die tatsächlichen Akteure. Andris Aktion ist Reaktion im eigentlichen Sinne des Wortes. Was bleibt ihm auch anderes zu tun? Das strukturale Grundmerkmal der schicksalhaften Begegnung ist geprägt von dieser Aktion und Reaktion, wobei bezeichnenderweise die Aktionen der Andorraner nach dem Mord und der Machtübernahme durch die Schwarzen kaum noch auszumachen sind. Das Handeln, die Handlung erhält nach deren Auftauchen eine mechanische Eigendynamik, welche Eingriffe von außen nicht mehr zulassen.
\"Du sollst dir kein Bildnis machen\"
Es kommt nicht von ungefähr, daß sich Max Frisch 1948 in seinem Tagebuch eine Inhaltsnotiz zu einer Szene von Dürrenmatts \"Der Blinde\" macht, in der ein Blinder die Zerstörung seines Herzogtums nicht wahrgenommen hat und deshalb glaubt, er lebe immer noch in seiner Burg. In Wirklichkeit sitzt er inmitten von Ruinen, umgeben von üblem Volk - Söldner, Räuber, Zuhälter und Dirnen, welche mit ihm ihren Spaß treiben und sich von ihm empfangen lassen als Herzöge, Feldherren oder Äbtissinnen. Die Vorstellungen, welche die Menschen von sich oder ihrer Umwelt haben oder sich machen, durchzieht thematisch Frischs Werk wie ein roter Faden. Diese Thematik ist eng mit Frischs Vorstellungen von der Wirklichkeit, wie sie der Mensch erlebt und
deutet, verknüpft:
. \"Wirklich nennen wir nicht, was geschieht, sondern wirklich nennen wir, was ich an einem Geschehen erlebe, und dieses Erleben, wie wir wissen, kümmert sich nicht um die Zeit: es ist möglich, daß wir ein Geschehen immer wieder erleben\" (Tagebuch).
Genauer betrachtet, bedeutet diese These nichts anderes, als daß unsere - oder zumindest Frischs - Erfahrungen und Erlebnisse erst die Vorfälle bewirken, aus denen sie zu folgen scheinen. Oder anders ausgedrückt: Das, was wir für die Wirklichkeit halten, kann erst zur Wirklichkeit, zur Wahrheit werden, wenn sie unseren Vorstellungen von ihr standhält. Hier und genau hier liegt die Problematik der Andorraner, von Andri, von Andorra begründet:
Die Andorraner ziehen ihre Folgerungen aus Andris Sosein nicht aus ihren Erlebnissen und ihrer Begegnung mit Andri. Ihre Vorstellungen von der Wirklichkeit bestimmen diese Begegnung. Nicht anderes ist das Verhalten des Tischlers im 3. Bild beispielsweise zu erklären. Verhielte es sich anders, müßte er sich irgendwann von Andris Beteuerungen oder gar Beweisen überzeugen lassen, denn der Geselle hat mit keinem Wort gesagt, daß er den aus dem Leim gegangenen Stuhl nicht gemacht habe.
Auch der Stückeschreiber eines technischen Zeitalters, wie sich Bertolt Brecht bezeichnet, der seinen Galilei an die Macht und die Verführbarkeit der Beweise glauben läßt, stellt in seinem gleichnamigen Stück eine Welt dar, in der nicht ist, was nicht sein darf, was letztlich seine Titelfigur zum Scheitern zwingt. Wenn Dürrenmatt seine Werke als das Produkt \"erdachter Geschichten\" bezeichnet - als Gegenwelten zur wirklichen Welt, erdacht, weil er im Gegensatz zu Frisch nichts erlebt habe -, so sind
Frischs Werke als Produkt seiner Erlebnisse Metaphern der wirklichen Welt. Belegen läßt sich dies mit seine Äußerungen im Interview mit Horst Bienek (Werktstattgespräche):
. \"Offenbar gibt es kein anderes Mittel, um Erfahrungen darzustellen, als das Erzählen von Geschichten: als wären es die Geschichten, aus denen unsere Erfahrungen hervorgegangen sind. Es ist umgekehrt. Die Erfahrung erfindet sich ihren Anlaß.\"
Im Falle Andorras ist das eine dramatische Metapher, welche durch Erlebnisse nicht nur gedeutet, sondern auch neu gedichtet worden ist, von der Wirklichkeit abgehoben, in die sie dann als neugeformte Realität zurückfällt. In Frischs Roman \"Stiller\", \"die Geschichte eines Menschen (...), der seiner Existenz entfliehen will\" (Horst Bienek,
Werkstattgespräche mit Schriftstellern) sagt der jugen Jesuit im Sanatorium von Davos zu Julika:
. \"... Daß es das Zeichen von Nicht-Liebe sei, also Sünde, von seinem Nächsten oder überhaupt von einem Menschen ein fertiges Bild zu machen, zu sagen: So und so bist du, und fertig\", worauf Julika, so belehrt, wiederum Stiller vorwerfen kann: \"Wenn man einen Menschen liebt, so läßt man ihm jede Möglichkeit offen und ist trotzt aller Erinnerungen einfach bereit, zu staunen, immer wieder zu staunen, wie
anders er ist, wie verschiedenartig und nicht einfach so, nicht ein fertiges Bildnis, wie du es dir machst von deiner Julika.\" (Max Frisch: Stiller. Suhrkamp Taschenbuch 105. Frankfurt (M) 1974, S.116 und S. 150)
Deutet man diese Stelle im Hinblick auf das eingangs erwähnte Tagebuch-Zitat, so folgert daraus, daß die Wirklichkeit eines Menschen gar nicht gesehen werden kann. Die Einschränkung des Jesuiten bzw. von Julika findet sich sowohl in Frischs Vorlage zu Andorra im Tagebuch: \"Ausgenommen, wenn wir lieben\", als auch in dem Essay auf S. 26 des Tagebuchs \"Du sollst dir kein Bildnis machen\". Die Wirklichkeit kann nicht gesehen werden, weil ein Widerspruch besteht zwischen der möglichen wahren und der tatsächlich gelebten Existenz des Menschen. Das Problem liegt vor allem in der
Veränderung der menschlichen Natur, einer sicher schrittweisen Veränderung, deren Ergebnis wir allenfalls wahrzunehmen bereit sind, aber nicht die Veränderung selbst, den Prozeß.
Andorra ist die tragische Metapher dieser Grunderfahrung Max Frischs. Sie führt dem immer mehr und mehr betroffenen Zuschauer vor, welches Bild sich das Individuum von sich selber macht, dann welches Bild es sich von seinen Mitmenschen, von seinem Vaterland, von den Nachbarn macht und schließlich, wie das Bild des einzelnen von seinen Zeitgenossen geprägt ist und wird. Die Wirklichkeit, die Wahrheit wird dabei eher zufällig getroffen.
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