Als Vorläufer der modernen europäischen Dichtung gelten drei französische Lyriker, Baudelaire, Rimbaud und Mallarmé, die auch auf deutsche Dichter wie Stefan George (der Mallarmé in Paris persönlich kennenlernte), Georg Trakl (der schon früh Baudelaire liest und später Verse aus einer Rimbaud-Übersetzung unverändert in die eigene Dichtung einfließen läßt) und Gottfried Benn entscheidenden Einfluß hatten.
Im 19. Jahrhundert kommt es zu einer grundlegenden Veränderung der Poesie, die ab diesem Zeitpunkt nicht mehr das idealisierende Bilden geläufiger Stoffe oder Situationen als ihre Aufgabe sieht. Die Poesie gerät in Opposition zu einer "mit ökonomischer Lebenssicherung beschäftigten Gesellschaft", wird zur "Klage über die wissenschaftliche Weltenträtselung und über die Poesielosigkeit der Öffentlichkeit" . Dadurch entsteht ein scharfer Bruch mit der Tradition; dichterische Originalität rechtfertigt sich aus der Abnormität des Dichters; Lyrik wird als reinste und höchste Erscheinung der Dichtung bestimmt, "die ihrerseits in Opposition trat zur übrigen Literatur und sich zur Freiheit ermächtigte, grenzenlos und rücksichtslos alles zu sagen, was ihr eine gebieterische Phantasie, eine ins Unbewußte ausgeweitete Innerlichkeit und das Spiel mit einer leeren Transzendenz eingaben."
Damit ergibt sich die Aufgabe, neue Kategorien zu suchen, mit denen die neue Lyrik zu beschreiben ist; während früher positive Kategorien (etwa in den Gedichtrezensionen Goethes oder Schillers) zur Beurteilung von Gedichten verwendet worden sind (negative nur zum Zweck der Verurteilung eines Textes), wird die neue Poesie fast durchgehend mit negativen Kategorien beschrieben - "negativ" nicht abwertend, sondern definitorisch angewendet. Schon Novalis benutzt negative Kategorien nicht tadelnd, sondern beschreibend, Lautréamont entwirft schließlich 1870 ein Bild der nach ihm kommenden Literatur mit Begriffen wie: Ängste, Wirrnisse, Entwürdigungen, Grimasse, Herrschaft der Ausnahme und des Absonderlichen, Dunkelheit, wühlende Phantasie, das Finstere und Düstere, Zerreißen in äußerste Gegensätze, Hang zum Nichts.
Die theoretische Vorbereitung dieser Entwicklung findet sich bereits im 18. Jahrhundert bei Rousseau und Diderot. Rousseau verkörpert in seiner autistischen Haltung die "erste radikale Form des modernen Traditionsbruchs" , die zugleich ein Bruch mit der Umwelt ist. Er empfindet einen Riß zwischen sich und der Gesellschaft, eine Unversöhnlichkeit zwischen Ich und Welt. Weiters vollzieht Rousseau in einigen seiner Schriften die Beseitigung des Unterschieds zwischen Phantasie und Wirklichkeit; er prägt den Begriff der "schöpferischen Phantasie", die dem Subjekt erlaubt, das Nichtexistierende zu schaffen und es über das Existierende zu stellen: "Die Phantasie wird absolut." Auch Diderot betont die unabhängige Stellung der Phantasie, die nicht mehr an sachlicher und logischer Zulässigkeit gemessen werden soll, und verweist in seinen Schriften auf das häufige - vielleicht notwendige - Zusammentreffen von Immoralität und Genialität, womit er die seit der Antike geläufige Gleichordnung der ästhetischen Kräfte mit den erkennenden und ethischen aufhebt. Die Dichtung ist für Diderot nicht mehr Gegenstandsaussage, sondern "emotionale Bewegung mittels freier Metaphernschöpfung" , womit sich bereits eine eindeutige Überordnung der Sprachmagie über den Sprachgehalt ankündigt. Weiters entwickelt Diderot eine Theorie des Verstehens, nach der es Verstehen im Idealfall nur als Selbstverstehen gibt, während der Kontakt zwischen Dichtung und Leser - wegen der Unzulänglichkeit der Sprache - kein Verstehen ermöglicht, sondern nur magische Suggestion.
Diese neuen Bestimmungen der Phantasie und der Dichtung verstärken sich in der Romantik, wobei diesbezüglich die dichtungstheoretischen Reflexionen Novalis' von besonderer Bedeutung sind. Novalis bestimmt die Lyrik als das "Poetische schlechthin"; das lyrische Subjekt deutet er als "neutrale Gestimmtheit", als eine "Ganzheit des Innern, die sich zu keiner präzisen Empfindung zusammenzieht." Lyrik ist für ihn "Schutzwehr gegen das gewöhnliche Leben", stofflich ist sie durch eine Vermischung des Heterogenen gekennzeichnet, ihre Phantasie genießt die Freiheit, "alle Bilder durcheinanderzuwerfen". Wesentlich ist auch die Gleichsetzung der Poesie mit der Magie, wobei poetische Magie "Vereinigung der Phantasie und der Denkkraft" ist. Durch die Verbindung mit der Magie gelangt er zum Begriff der Beschwörung: "Jedes Wort ist Beschwörung". Der Poet hat die Macht, die Bezauberten dazu zu zwingen, "eine Sache so zu sehen, zu glauben, zu fühlen, wie ich will" (diktatorische Phantasie). Die Sprache ist weiters eine "Selbstsprache" ohne Mitteilungszweck, sie bildet eine Welt für sich, die notwendigerweise dunkel ist; der Dichter achtet mehr auf Ton- und Spannungsabfolgen, die nicht mehr auf die Bedeutung der Worte angewiesen sind. Von der Dichtung werden nicht mehr Richtigkeit, Deutlichkeit, Reinheit, Vollständigkeit und Ordnung erwartet, sondern Harmonie und Euphonie: "Der Sprachmagie wird also erlaubt, im Dienste der Verzauberung die Welt zu Fragmenten zu zerschlagen. Dunkelheit und Inkohärenz werden Voraussetzungen der lyrischen Suggestion."
"Neutrale Innerlichkeit statt Gemüt, Phantasie statt Wirklichkeit, Welttrümmer statt Welteinheit, Vermischung des Heterogenen, Chaos, Faszination durch Dunkelheit und Sprachmagie, aber auch ein in Analogie zur Mathematik gesetztes kühles Operieren, das Vertrautes entfremdet: dies ist genau die Struktur, innerhalb deren die Dichtungstheorie Baudelaires, die Lyrik Rimbauds, Mallarmés und der Heutigen stehen werden."
Novalis und Friedrich Schlegel, der von der Trennung des Schönen vom Wahren und Sittlichen, von der poetischen Notwendigkeit des Chaos spricht, regen Leitgedanken der französischen Romantik an, die das bisher Geschilderte an Baudelaire weiter vermittelt.
Baudelaires (1821-1867) Problem ist die Frage nach der Poesie in der kommerzialisierten und technisierten Zivilisation. Als Besonderheit des modernen Künstlers sah er die Fähigkeit, "in der Wüste der Großstadt nicht nur den Verfall des Menschen zu sehen, sondern auch eine bisher unentdeckte geheimnishafte Schönheit zu wittern." Dichtung und Kunst versteht Baudelaire als "gestaltschaffende Verarbeitung des Zeitschicksals" .
Wesentlich für das Schaffen Baudelaires ist der Einfluß E. A. Poes, mit dem die Entpersönlichung der modernen Lyrik beginnt; nicht mehr die Empfindungsfähigkeit des Herzens ist für die Dichtung von Vorteil, sondern die Phantasie, verstanden als intellektuell gelenktes Operieren.
Mit seinem eigenen Werk, den Fleurs du Mal, beweist Baudelaire einen gesteigerten Formwillen, der sich in der äußeren und inneren Ordnung der Gedichte zeigt. Die negativen Inhalte der Gedichte stehen im Gegensatz zu ihrer Form, die Form trennt sich vom Gehalt. Es kommt zu einem Übergewicht des Formwillens über den Willen zum bloßen Ausdruck, weshalb es nicht verwundert, daß Baudelaire, wie Novalis und auch Poe, in seinen theoretischen Schriften den Begriff der Mathematik verwendet - "Schönheit ist das Erzeugnis von Vernunft und Calcul."
Der Begriff der Modernität bedeutet für Baudelaire zweierlei. In negativer Hinsicht meint er die "Welt der pflanzenlosen Großstädte mit ihrer Häßlichkeit, [...] ihren Einsamkeiten im Menschengewimmel" und die Epoche der Technik und des Fortschritts, den er als "progressive Abnahme der Seele, progressive Herrschaft der Materie" definiert. Gleichzeitig fasziniert ihn die Modernität aber, da das Armselige, Verfallene, Böse, Nächtliche und Künstliche Reizstoffe bietet, Geheimnisse, die poetisch wahrgenommen werden wollen.
Im Zuge seiner Überlegungen gelangt Baudelaire auch zu einem neuen Begriff der Schönheit; schön ist, was rein und bizarr ist, er wünscht aber auch ausdrücklich die Häßlichkeit, denn: "Aus dem Häßlichen weckt der Dichter neuen Zauber."
Der schon von Rousseau empfundene Riß zwischen Autor und Publikum wird von Baudelaire noch verstärkt. Er spricht vom "aristokratischen Vergnügen zu mißfallen" und rühmt sich, den Leser zu irritieren und nicht mehr von ihm verstanden zu werden.
Auch Baudelaire entwickelt eine Theorie der Sprachmagie, erkennt eine Verwandtschaft zwischen Poesie und Magie. Wie schon Novalis rückt er Begriffe wie Mathematik und Magie zueinander, in dem spezifisch modernen Bedürfnis, Dichtung ebenso zu intellektualisieren wie an archarische Praktiken anzuschließen. Die theoretischen Erörterungen des französischen Dichters deuten bereits auf eine Lyrik voraus, die zugunsten der magischen Klangkräfte zunehmend auf sachliche, logische, affektive und auch grammatische Ordnung verzichtet und den Gehalt aus den Impulsen des Wortes gewinnt, Gehalte abnormen Sinnes, an der Grenze oder jenseits der Grenze des Verstehbaren.
Durch den "Ekel am Wirklichen", den Baudelaire empfindet, erstrebt seine Lyrik nicht Kopie, sondern Verwandlung und Entrealisierung des Wirklichen. Die Natur (alles Vegetative) wird degradiert zum Chaos und Unreinen, während Anorganisches als Symbol des absoluten Geistes verwendet und mit dem Kunsthaften gleichgesetzt wird.
Die Phantasie gilt dem Dichter als Königin der menschlichen Fähigkeiten, da sie das Wirkliche in seine Teile zerlegt und zertrennt, es deformiert. Die Deformation soll daher am Beginn des künstlerischen Aktes stehen, der eine "neue Welt" aus dieser Zerstörung bildet, die keine real geordnete Welt mehr sein kann. Baudelaire befürwortet damit ein Wegstreben aus der beengten Wirklichkeit, eine Entrealisierung in der Kunst. Die damals aufkommende Photographie verurteilt er ebenso wie die Naturwissenschaften, da diese wissenschaftliche Weltdurchdringung von ihm als Weltverengung und als Verlust des Geheimnisses empfunden wird. Der Dichter antwortet darauf - wie später der Symbolismus - mit extremer Machtausweitung der Phantasie.
Arthur Rimbaud (1854-1891), dessen Werk u.a. von Stefan George, Paul Celan und Karl Krolow ins Deutsche übertragen worden ist, verwirklicht in seiner Dichtung die theoretischen Entwürfe Baudelaires. Der Kern seines Dichtens ist kaum noch thematischer Art, ab einem gewissen Zeitpunkt gibt es keine nachvollziehbaren Sinngefüge mehr; im Gegensatz zu Mallarmé gelangt Rimbaud dabei nicht zu einem Zertrümmern syntaktischer Ordnungen, sondern spannt die chaotischen Gehalte in sehr einfache Sätze. Dieses irreale Chaos wird von vielen Zeitgenossen als Erlösung von der beengenden Realität empfunden, was zum Teil die enorme Wirkung Rimbauds erklärt.
Rimbaud beansprucht für den Dichter den Rang eines Sehers, dessen Ziel lautet: "ankommen im Unbekannten" . Dieses Ziel, das Friedrich treffend als "leere Transzendenz" bezeichnet, wird nicht näher bestimmt, sondern nur mit negativen Begriffen umschrieben (das Nicht-Geläufige, das Nicht-Wirkliche, das schlechthin andere). Das taugliche Subjekt ist dabei nicht mehr das empirische Ich, es wird entmächtigt durch kollektive Tiefenschichten. Diese Selbstentmächtigung muß durch einen operativen Akt erreicht werden, der von Wille und Intelligenz geleitet wird. Eine operative Verhäßlichung der Seele und Selbstverstümmelung wird angestrebt, um in jenem Unbekannten anzukommen. Der Dichter wird "der große Kranke, der große Verbrecher, der große Verfemte - und der Höchste aller Wissenden" . Die Abnormität des Dichters wird zu einem vorsätzlichen Draußenstehen, wird zur Norm. Durch diese Operationen kommt eine Dichtung zustande, die keinen Wert mehr auf Form legt.
Bei Rimbaud führt der Deformationstrieb zur Abstoßung alles Vergangenen, zu Ausbrüchen gegen Tradition und Schönheit; er sondert sich von der Vergangenheit ebenso wie vom Publikum ab. Das Gefühl der Heimatlosigkeit in der herkömmlichen Welt des Dinglichen, Seelischen und Vernünftigen bestimmt seine Lyrik. Der Zwang zum "Unbekannten", das "heilige Verlangen", drängt in imaginäre Weiten - diese "Leidenschaft zur Transzendenz" bewirkt die ziellose Zerstörung der Realität.
Mit der Trennung des dichterischen Subjekts vom empirischen Ich wird die Dichtung selbst enthumanisiert, sie wird monologisch. Statt unterscheidbaren Gefühlen findet sich in den Gedichten ein "neutrales Vibrieren", wahrnehmbar ist nur noch ein "Taumel des Unbestimmten im Bild wie in der Emotion" . Menschen gehen nur noch als herkunftslose Fremdlinge oder als Fratzen in die Dichtung ein; anatomische Fachausdrücke in ihrer Beschreibung bewirken eine harte Versachlichung.
Das Wesen Rimbaudscher Bildinhalte kennzeichnet Friedrich mit dem Begriff der "sinnlichen Irrealität": "Der deformierte Wirklichkeitsstoff spricht sehr häufig in Wortgruppen, von denen jeder Bestandteil sinnliche Qualität hat. Jedoch vereinigen derartige Gruppen sachlich Unvereinbares auf so abnorme Weise, daß aus den sinnlichen Qualitäten ein irreales Gebilde entsteht." Ein weiterer Begriff aus diesem Umfeld ist der der "diktatorischen Phantasie": "Die reale Welt bricht auseinander unter dem Machtanspruch eines Subjekts, das seine Inhalte nicht mehr empfangen, sondern selber herstellen will." Die diktatorische Phantasie erzeugt ein verzerrtes, unvertrautes Bild der Welt und kann bis zur Absurdität führen.
Stéphane Mallarmé (1842-1898) geht einen etwas anderen Weg als Rimbaud, der in eine absolute Dunkelheit des Dichtens führt, was er ontologisch begründet. Es handelt sich um ein Denken, das um das absolute Sein (gleichgesetzt dem Nichts) und um dessen Verhältnis zur Sprache kreist; Dichtung versteht er als den einzigen Ort, an dem das Absolute und die Sprache einander begegnen können. Eine kurze, vereinfachende Erklärung von Mallarmés ontologischem Schema könnte so lauten: "Dinge, sofern sie reale Gegenwart haben, sind unrein, nicht absolut; erst im Vernichtetwerden ermöglichen sie die Geburt ihrer reinen Wesenskräfte in der Sprache. Eine solche Sprache kann, verglichen mit der Normalsprache, nur eine Als-ob-Sprache sein, eine transzendierende Sprache, die sich vor jeder Sinn-Eindeutigkeit hütet."
Ein Grundakt Mallarméschen Dichtens besteht also im Verweisen den Dinglichen in die Abwesenheit (dem entspricht das Wegstreben aus der Realität bei Baudelaire und Rimbaud). Diese Entrealisierung erscheint bei Mallarmé nicht mehr nur als Folge zeitgeschichtlicher Gründe, sondern als Folge einer ontologisch verstandenen Unstimmigkeit zwischen Realität und Sprache. Diesem Wegstreben aus der Realität entspricht das Hinstreben zu einer Idealität, die der Dichter "le néant" nennt, das Nichts. Dieser Begriff des Nichts ist identisch mit seinem Begriff des Absoluten, sie bezeichnen beide eine Idealität, in der alle "Zufälle" des Empirischen ausgelöscht sind. Das Absolute ist durch seine Loslösung vom Gewohnten, Natürlichen, Lebendigen, durch seine Loslösung von Zeit, Ort und Ding das Nichts: "das reine Sein und das reine Nichts werden identisch" .
Die ontologische Kernfrage Mallarmés betrifft das Verhältnis zwischen dem Nichts und der Sprache. Durch die Entrealisierung (das Abrücken des Dinglichen, alles Wirklichen überhaupt, in die Abwesenheit) erteilt die Sprache dem Ding die Abwesenheit, "die es kategorial dem Absoluten (dem Nichts) angleicht und welche die reinste (von aller Dinglichkeit freie) Anwesenheit im Wort ermöglicht. Was sachlich vernichtet ist durch die Sprache, die sein Wegsein aussagt, erhält in der gleichen Sprache, durch seine Benennung, seine geistige Existenz."
Durch das gesamte Denkgefüge geht allerdings ein Riß, der Riß zwischen Sprache und Idealität, zwischen Wollen und Können, zwischen Streben und Ziel. Es handelt sich um ein doppeltes Mißlingen: eines der Sprache gegenüber dem Absoluten (subjektives Mißlingen) und eines des Absoluten gegenüber der Sprache (objektives Mißlingen). Beide Pole, Sprache wie absolutes Sein, unterliegen dem Gesetz des Mißlingens.
Bei Mallarmé verstärken sich die schon vorher beobachteten Tendenzen der modernen Lyrik; er radikalisiert etwa die Enthumanisierung in seiner Lyrik, indem er nicht nur die private Person, sondern auch die normale Menschlichkeit ausscheidet. Das dichterische Subjekt wird zu einer überpersönlichen Neutralität. Damit einher geht auch die Abriegelung gegen die vegetative Natur. Selbst Liebes- und Todessituationen werden enthumanisiert, indem sie durch oft mehrere geistige Sinnschichten überwölbt werden. Die unauflösbare Mehrdeutigkeit verwehrt absichtlich ein Zurücklenken in natürliches Menschentum.
In der Poesie sieht Mallarmé die einzige Möglichkeit, die Zufälligkeit, Enge und Unwürde des Realen vollständig zu tilgen. Auch er versteht Dichtung als Widerstand gegen die kommerzialisierte Öffentlichkeit und gegen die wissenschaftliche Austreibung des Weltgeheimnisses. Paradoxerweise überwacht er jedoch selbst sein hochspezialisiertes Dichten mit der Verantwortung eines Technikers - eines Technikers der Intellektualität und der Sprachmagie; er spricht von seinem "Laboratorium", von der "Geometrie der Sätze".
Im Gegensatz zu Rimbaud wahrt Mallarmé die Konvention metrischer, reimtechnischer, strophischer Gesetze. Diese Formenstrenge kontrastiert allerdings zu den verschwebenden Gehalten - der Dichter schreibt: "Je weiter wir unsere Gehalte ausdehnen, und je mehr wir sie verdünnen, desto mehr müssen wir sie binden in deutlich markierten, anfaßbaren, unvergeßlichen Versen" - und später: "Nachdem ich das Nichts gefunden hatte, fand ich die Schönheit." Seine Dichtung, die alle Realität vernichtet, ruft also um so stärker nach der geformten Schönheit der Sprache. Auch Gottfried Benn wird später von der formfordernden Gewalt des Nichts sprechen.
Die Dunkelheit seiner Lyrik sieht Mallarmé nicht als dichterische Willkür, sondern ontologische Notwendigkeit. Er leitet sein dunkles Dichten aus jener Dunkelheit ab, die im Urgrund aller Dinge liegt. Durch die Enthumanisierung wird das Dreieck Autor-Werk-Leser zerstört und trennt das Werk von beiden menschlichen Bezügen; das Werk ist unpersönlich, es steht allein. Weiters ist die Symbolik Mallarmés autark; die meisten Symbole sind von ihm selbst gesetzt und können nur aus ihm selbst begriffen werden.
Seine Sprache ist nur noch Äußerung ihrer selbst; sein Dichten ist nicht verstehbar, sondern suggestiv. Mallarmé wünscht einen Leser, "der offen ist für das vielfältige Verstehen" , er soll selbst weiterproduzieren, soll weniger enträtseln, als vielmehr selbst in das Rätselhafte kommen, wo er Entzifferungen ahnt, aber nicht verfrüht beendet. Valéry, ein Schüler Mallarmés, schreibt später: "Meine Verse haben den Sinn, den man ihnen gibt." Mallarmé verwendet selbst den Begriff der Suggestion: "Ein Ding nennen, heißt dreiviertel des Genusses an einer Dichtung verderben; das Genießen besteht im allmählichen Erraten; das Ding suggerieren, hier liegt das Ziel." In der suggestiven Wirkung des Gedichts wird so die einzige Brücke zum Leser gewahrt.
In diesem Zusammenhang steht auch der Begriff der poésie pure. Nennt Mallarmé ein Ding rein (pure), so meint er dessen Wesensreinheit, sein Freisein von störenden Beimischungen. Die Voraussetzung dichterischer Reinheit ist also die Entdinglichung; so wird die Dichtung frei zum Waltenlassen der Sprachmagie. Der Begriff der poésie pure behält aber auch über Mallarmé hinaus seine "Geltung für alle Lyrik, die nicht primär Empfindung und Reaktion auf Weltinhalte sein will, sondern Spiel der Sprache und der Phantasie."
Für seine Überzeugung von einer Entsprechung zwischen Dichtung und Magie spricht Mallarmés starkes Interesse an okkultistischer Literatur. "Er stand in Briefwechsel mit V. E. Michelet, der die unter dem Namen des Hermes Trismegistos gehenden spätantiken Geheimlehren verbreitete, dafür den Namen ,Hermetismus' gebrauchte und ihre Übertragung auf die Dichtung empfahl. (Noch heute bedeutet in Frankreich ,hermétisme' vorwiegend Okkultismus, Alchimie usw.) Mallarmé hatte dieser Übertragung zugestimmt." Der Dichter schreibt selbst: "Es besteht zwischen den alten Praktiken und der in der Poesie wirkenden Zauberei eine geheime Verwandtschaft." Dichten heißt deshalb: "in ausdrücklich gewolltem Dunkel die verschwiegenen Dinge beschwören, mittels anspielender, nie direkter Worte." Schon bei Rimbaud, der von einer "Alchimie des Wortes" spricht, wird vermutet, daß er die "Hermetischen Bücher" des Hermes Trismegistos gekannt hat. Die Annäherung der Dichtung an Magie und Alchimie ist seit dem 18. Jahrhundert allgemein üblich geworden, man sieht im dichterischen Akt eine Entsprechung zum magischen und alchimistischen Operieren.
Der Begriff der "Hermetischen Lyrik" geht auf diese Schriften des Hermes Trismegistos zurück: "Nach okkultischen Offenbarungsschriften aus dem 3. nachchristlichen Jahrhundert, dem Corpus Hermeticum, das dem Gott Hermes Trismegistos zugeschrieben wurde, nennt man zunächst die dunkle, geheimnisvolle und vieldeutige Literatur der französischen Symbolisten ,hermetisch', dann auch Gedichte des späten Rilke, Gedichte von Trakl, Benn, Bobrowski, Celan usw."
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