2.1 Aufbau und Handlung
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In Martin Walsers erstem Roman Ehen in Philippsburg ist von Kafkas Einfluss kaum etwas übriggeblieben. Der Roman ist realistisch, nicht phantastisch, und ist ein aus vier unterschiedlichen Teilen zusammengefügtes Panorama einer großen deutschen Stadt nach dem Krieg und dem Eintritt des Wirtschaftswunders. Walser intensivierte in ihm die zeitkritischen Ansätze und die satirischen Aspekte seiner frühen Erzählungen und zieht eine Bilanz der frühen politischen und gesellschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland.
Es geht in den Ehen in Philippsburg besonders um die "Entlarvung von Druck und Anpassungszwängen, die [...] sich negativ und deformierend auf alle auswirken" , besonders aber auf die, die nicht gewillt sind, ihre Prinzipien und ihre Identität aufzugeben.
Die Handlung lässt sich wie folgt kurz zusammenfassen:
Im ersten Teil, "Bekanntschaften", kommt der ehemalige Student und nunmehrige Journalist Hans Beumann nach Philippsburg und versucht, dort Fuß zu fassen. Er, der junge, naive Ankömmling aus dem Dorf Kümmertshausen, sucht vergeblich Arbeit bei einem Verleger, trifft aber am Tag darauf zufällig seine ehemalige Studienkollegin Anne Volkmann, die Tochter eines wohlhabenden Rundfunkfabrikanten. Die ganze Familie findet Gefallen an ihm, der Vater bietet ihm eine Stelle als Redakteur der Firmenzeitschrift an und Anne wird seine Assistentin. Die tägliche Nähe bei der Arbeit führt, obwohl Beumann Anne gegenüber eher gemischte Gefühle empfindet, zu einer sexuellen Beziehung. Der erste Teil endet mit einer Abtreibung, der sich Anne in der Folge unterzieht.
Im zweiten Teil, "Ein Tod muß Folgen haben", wird von dem erfolgreichen Gynäkologen Dr. Benrath, Partygänger und deswegen Stütze der Philippsburger Gesellschaft, erzählt. Benrath führt ein Doppelleben, er betrügt seine sensible Frau Birga mit der Inhaberin eines Antiquitätenladens, Cécile. Immer wieder beteuern beide, die Affäre abbrechen zu müssen, aber es kommt nicht dazu. Schließlich begeht Birga Selbstmord. Sozial ruiniert verlässt Benrath Cécile und stiehlt sich aus der Verantwortung, indem er aus Philippsburg flieht.
"Verlobung bei Regen" heißt der dritte Teil; im Mittelpunkt steht Dr. Alwin, Rechtsanwalt und angehender Politiker. Auch er hat einige Affären hinter sich, über die er allerdings nicht spricht; lieber stellt er seine "perfekte Ehe" zur Schau. Wir treffen Beumann und die Volkmanns wieder, da die Alwins zu Hans und Annes Verlobungsfeier geladen sind. Den ganzen Abend unterhält sich Alwin neben Größen aus den Medien, die ihm für seine politische Karriere nützlich sein könnten, mit Cécile. Er nimmt sie nach der Feier im Auto mit, sieht sie die ganze Zeit im Rückspiegel an und verursacht durch seine Unkonzentriertheit einen Autounfall. Aus Angst um seine politische Zukunft schiebt er die ganze Schuld auf den verunglückten Motorradfahrer, aber er weiß, dass seine Hoffnungen auf eine Affäre mit Cécile nun keine Chancen mehr haben.
Mit dem vierten Teil, "Eine Spielzeit auf Probe", kehrt der Erzähler zu Hans Beumann zurück. Zunächst aber geht es um Berthold Klaff, der bei der selben Vermieterin wie Beumann in Untermiete lebte und gerade Selbstmord begangen hatte. Seine gesamten Bücher und persönlichen Aufzeichnungen hinterlässt er Beumann. Es sind allesamt kritische Bemerkungen und Beobachtungen zur Kunst, Gesellschaft, Politik und der ganzen Welt. Seine Kritik sowie seine Weigerung, sich anzupassen, stehen in starkem Gegensatz zu Beumanns erfolgreicher Assimilation. Diese wird nämlich im vierten Teil vollendet; Beumann erhält quasi die "letzten Weihen" der Philippsburger Gesellschaft, er wird in den exklusiven "Sebastian-Klub" eingeführt. Der Streit mit Hermann, einem Arbeiter der städtischen Straßenreinigung, der im Toto gewonnen hatte, und nun seinen Gewinn zum Leidwesen der anderen "Sebastianer" lautstark im Klub verprasst, zeigt, dass Beumann "angekommen ist" und nun zur Philippsburger Oberschicht gehört. Dazu gehört natürlich auch eine außereheliche Affäre, die er sogleich mit Marga, einer schönen Bardame, anfängt.
2.2 Philippsburg und seine Bevölkerung
"Philippsburg ist ein Seldwylda oder Abdera. Es liegt überall und nirgends".
Es ist das Modell einer großen deutsche Stadt zur Zeit Wirtschaftswunders und hebt sich von manch anderer Großstadt vielleicht nur dadurch ab, dass es das Zentrum eines mächtigen Massenmedienkomplexes ist. Auch die vielen großen und wenigen kleinen Leute sind bloße Musterexemplare der modernen Gesellschaft. Denn "Gesellschaft" bedeutet in Walsers Roman, dem engeren Sinne des Wortes folgend, "tonangebende Gesellschaft". Und den Ton geben in Philippsburg mehrere mittlere Fabrikanten, ein Rechtsanwalt, ein Gynäkologe, die leitenden Herren vom Rundfunk, der Chefredakteur der großen Wochenzeitung und die Inhaberin eines exquisiten Antiquitätenladens an. Die Porträts der zahlreichen Figuren entstehen aus der gesellschaftlichen Aktion. Ihren gesellschaftlichen Rang weisen die Leute nämlich durch Parties aus. Je reger die Teilnahme an ihnen, desto höher das gesellschaftliche Ansehen.
Untereinander sind all die Gruppen der Philippsburger Gesellschaft eng vernetzt und gemeinsam verfolgen sie ihre "heuchlerischen und eigennützigen Interessen". Es stört sie nicht im geringsten, welche Opfer ihre Einstellungen und Handlungen fordern. Das in dieser Hinsicht vielleicht krasseste Beispiel ist der Rechtsanwalt Dr. Alwin, der, aus kleinbürgerlichem Milieu stammend, in die "Gesellschaft" eingeheiratet hat. Er ist im Begriff, eine neue Partei zu gründen, die CSLPD (Christlich-sozial-liberale Partei Deutschlands), eine Partei, die für alles und nichts steht und die den politischen Opportunismus versinnbildlicht. Alwin will nämlich seine Macht nicht zum Wohle der Menschen einsetzen, sondern die Politik nur zu seinem persönlichen Erfolg missbrauchen.
Diese Einstellung, nämlich die persönliche Stellung zu missbrauchen und den schrecklichen Egoismus hinter einer scheinheiligen Fassade des Mittelmaßes zu verstecken, zieht sich quer durch die Bank. Des Mittelmaßes, ja. Denn je weniger die Bewohner von Philippsburg es wahrhaben wollen, desto mehr akzentuieren sie "das Provinzielle, Muffige, todtraurig Zurückgebliebene, verstockt Kleinliche". Das alte Thema von der doppelten Ehemoral wird plötzlich wieder aktuell, der Zwiespalt zwischen der bürgerlich-konventionellen Zweckehe und "freien" Verhältnissen wird zweimal durchgespielt, einmal mit tragischem, einmal mit kläglich-komischem Ende. Die Frau des Gynäkologen Dr. Benrath nimmt sich das Leben, er setzt sich daraufhin ab und Dr. Alwin verursacht auf Grund seiner Schwärmerei einen Verkehrsunfall, der seiner weiteren politischen Karriere wohl nicht sehr zuträglich sein wird.
Frank Pilipp attestiert der Philippsburger Gesellschaft "a dualistic view of social reality, polarizing the haves and the have-nots, the mighty and the weak, the free and the unfree". Auch Karl Korn schlägt in diese Kerbe und geht noch weiter, wenn er meint, sie "ziert sich durch Manieren, kulturelle Interessen und Phrasen - und läßt es an dem fehlen, was soziale Führung rechtfertigen könnte, an Großzügigkeit, Stil und Ehre". Der Durchschnitt, so Korn, sei "biederes Provinzspießertum".
Passendes Gegenbild dazu ist wohl nur der Nonkonformist Berthold Klaff, einer der "have-nots" und "weaks", Untermieter bei der selben Vermieterin wie Hans Beumann und kürzlich entlassener Theaterportier. Spielt sich Beumann von seinem anfänglichen Außenseiterposten allmählich in die erste Liga der Gesellschaft vor, bleibt Klaff Außenseiter, verachtet die Kultur, die Menschenliebe im Allgemeinen und seine Frau im Besonderen. Er verkörpert Eigenschaften von Beumann, die dieser im Zuge seines Anpassungsprozesses unterdrücken muss. Klaff ist nicht bereit, sein Ich aufzugeben, sein intellektuelles Vermögen gegen Geld zu verkaufen. Mit dieser Kompromisslosigkeit deutet er auf die einzige Alternative zum "Selbstauflösungsprozess" Beumanns. Er ist ja die einzige Figur, die ihr Ich behalten hat.
2.3 Hans Beumann - eine typische Walserfigur?
In diesen Sumpf der Philippsburger Gesellschaft gerät nun die Hauptfigur, der junge Journalist Hans Beumann aus Kümmertshausen, was schon sehr stark eine ländliche, kleinbürgerliche Herkunft impliziert. Er stammt aus unterprivilegierten sozialen Verhältnissen, ist ungeübt im Umgang mit der Mittelschicht. Er ist aber bereit, entsprechende Verhaltensweisen zu lernen. Beumann "fühlt sich linkisch, ist es wohl auch" , kann aber Empfehlungen vorweisen und erreicht somit das Ziel seiner Klasse, "aufzusteigen in die oberste Sphären derer, die etwas zu gelten glauben". Er kommt natürlich bei seinem Versuch, den Chefredakteur der Weltschau zu sprechen, nicht über die Vorzimmerdamen hinaus, sehr wohl aber über Anne, die Tochter des Fabrikanten Volkmann. Binnen weniger Monate avanciert er zum erfolgreichen Philippsburger Bürger und Fabrikantenschwiegersohn, wird vom "faule[n] Kulturbetrieb" zurechtgebogen. Beumanns Handeln ist einerseits durch Unsicherheit im Umgang mit den gesellschaftlichen Konventionen geprägt, andererseits durch den Wunsch, sich in dieser Gesellschaft Akzeptanz zu verschaffen.
Seine Aufnahme in die Philippsburger Gesellschaft ist gleichsam eine Entjungferung seiner bäuerlich-natürlichen Art, die der scheinheilig-konditionierten schließlich unterliegen muss. Speziell dieser Konflikt macht Beumann zu einer zerrissenen Figur. Aber auch seine persönliche Situation, in der er zwischen seiner Verlobten Anne und seiner Geliebten Marga hin- und herschwankt, sein Alter zwischen Unreife und Erwachsensein und seine Wohnsituation, nämlich unten im Arbeiterviertel zu wohnen, während er mit der Familie in dem oben am Berg liegenden Villenviertel verkehrt, vertiefen diese Zerrissenheit.
Walser schildert die Entwicklung Beumanns als einen "Prozeß mißlingender Individuation". Es gelingt ihm zwar, die ihm fremden Verhaltensweisen zu lernen, die das tägliche Leben regelnden Konventionen hindern ihn aber daran, in Übereinstimmung mit seinen Vorstellungen zu handeln. So entwickelt er sich zu einem funktionstüchtigen Mitglied der Philippsburger Gesellschaft, treibt aber schlussendlich nutzlos und ohnmächtig zwischen den Fronten.
Zwischen den gesellschaftlichen Extremen verliert er seine Orientierung und schließlich auch seine Identität. Gegen Ende des Romans, im Zuge seiner Aufnahme in den exklusiven Nachtklub "Sebastian", gewissermaßen den Olymp der Philippsburger "guten Gesellschaft", schlägt er Hermann, den Arbeiter der städtischen Straßenreinigung nieder und verleugnet damit endgültig seine Herkunft. Er entwickelte sich wie all die anderen systematisch zum erfolgsbesessenen Egoisten um den Preis seiner Identität.
Mit dieser Entwicklung der Hauptfigur stellt Martin Walser die bis ins achtzehnte Jahrhundert zurückreichende Tradition des Bildungsromans auf den Kopf. Findet dort der Held auf seinem Reifeweg aus einem anfänglichen Zustand der Verworrenheit und Widersprüchlichkeit zur inneren Harmonie und Ausgeglichenheit, ist Walsers "Anti-Held" am Schluss in zwei Hälften zerrissen
All das macht Beumann zu einer typischen Walserfigur. Sie alle haben Probleme mit ihrem wenig gefestigten sozialen Status und können auf wichtige politische und gesellschaftliche Entscheidungen nur geringen Einfluss ausüben. Ob es sich nun um Hans Beumann, Sabine und Helmut Halm oder die Zürns handelt, sie sind durchschnittliche Angehörige der Mittelschicht und kämpfen um sozialen Aufstieg oder wehren sich gegen den drohenden Abstieg. Sie stehen in einer Welt, der sie sich nur unterwerfen können oder an der sie zu Grunde gehen müssen. Hans Beumann, der "intellektuelle Verräter" unterwirft sich, Gegenfiguren wie Berthold Klaff gehen zu Grunde.
2.4 Behandelte Themenbereiche
An erster Stelle ist wohl der Egoismus zu nennen, und die damit verbundene Sozialkritik. Für Anthony Waine sind die Ehen in Philippsburg überhaupt eine "abschreckende Studie über den männlichen Egoismus". Das Buch zeige, wie er sich manifestiert und welche Folgen er haben kann. Neben der Entwicklung Beumanns zum "erfolgsbesessenen Egoisten" erfüllen für Waine besonders die beiden zentralen Kapitel, "Ein Tod muß Folgen haben" und "Verlobung im Regen" diese Funktion. Sie sind nämlich fast ausschließlich im Ich der Männer Benrath und Alwin angesiedelt, wodurch der Leser ihre allerpersönlichsten Gedankengänge und Motive kennenlernt. Doch führt das "ungebändigte Ausleben des eigenen Ichs" zu tödlichen Konsequenzen, die wiederum eine nachhaltige Wirkung auf das Leben der Männer ausüben. Auch Berthold Klaff, der Nonkonformist, ist egoistisch und in dieser Hinsicht um nichts besser als die "hohen Herren". Aber das einzige Opfer seines Egoismus bleibt er selbst.
Zwei weitere Themenbereiche sind mit dem männlichen Egoismus eng verknüpft, Sexualität und Tod. Speziell die Sexualität außerhalb der Ehe wird in den Mittelpunkt gerückt. So meint etwa Anthony Waine, der Titel Ehen in Philippsburg sei etwas irreführend, da der Leser fast nur etwas über außereheliche Verhältnisse erfährt. Was Waine aber außer acht gelassen hat, ist, dass sehr eindrucksvoll die Folge der außerehelichen Sexualität auf die Ehe dargestellt wird. Ist diese Sexualität nämlich, wie schon angedeutet, Ausdruck des Egoismus, so ist der Tod dessen Folge, die entweder, wie im Falle Benraths, die Ehe eindeutig beeinflusst oder, wie im Falle Alwins, auf diese wenigstens ziemlich stark abfärbt. Abgesehen von den, ziemlich offensichtlichen, Zentralkapiteln über Benrath und Alwin, zeigt aber auch Hans Beumann bereits nach den ersten hundert Seiten bedenkliche Anzeichen. Dass Anne ihr uneheliches Kind, hervorgegangen aus ihrem sexuellen Verhältnis, unter größten Qualen abtreiben muss, vereint die Bereiche Sexualität und Tod wieder unter dem Gesichtspunkt des Egoismus. Beumann gibt ja selber zu, "das hat sie alles mir zuliebe getan".
Ein weiterer Themenbereich wird weniger plakativ behandelt, ist aber trotzdem sehr wichtig. Die Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit nämlich. Obwohl seit dem Kriegsende erst zehn Jahre vergangen sind, scheint es, also ob zumindest die Gesellschaftsschicht, die in den Ehen in Philippsburg im Mittelpunkt steht, im Land des Wirtschaftswunders "darüber hinweg" sei. Der Schein trügt jedoch, es ist deutlich eine "untergründige Präsenz der faschistischen Vergangenheit" spürbar, wenn Berta, die Frau des Betriebsbesitzers Frantzke, zum Beispiel plant, einen Musikpreis für den Komponisten zu stiften, der "am reinsten jenen Geist spüren lasse, der deutscher Wesensart Geltung in der ganzen Welt verschafft habe".
Machtmissbrauch; ein weiterer behandelter Themenbereich, der schon unter 2.2 besprochen wurde. Aber nicht nur die Politik, auch die Kultur wird missbraucht. Sie hat durch ihren Verbund mit Geld und Macht viel von ihrem "positive[n], aufklärerische[n] Potential" eingebüßt. Sie wird zur Werbung, wird kommerzialisiert. Das zeigt sich besonders in einer Aussage des Rundfunkfabrikanten Volkmann, für den Rundfunkprogramme ein volkswirtschaftlicher Faktor sind. "Sie hatten so auszufallen, daß immer mehr Leute sich Apparate wünschten und immer bessere Apparate, denn nur so konnten die Umsätze gesteigert [...] werden". Und so sollte auch die neugegründete "programm-press", deren Redakteur Beumann wird, ein "Sprachrohr für die eigene [Volkmanns, Anm.] Meinung" sein. Die schon angesprochene Vernetzung der Philippsburger Gesellschaft zur Steigerung des persönlichen Einflusses und Wohlstandes wird auch bei der Kultur deutlich, wenn es heißt, Harry Büsgen, der Zeitungsverleger, sei ein Verbündeter, "weil er in seinen Programmzeitschriften für die Verbreitung der UKW-Geräte und die Erweiterung der UKW-Programme eintrete; dafür werde er aber auch mit ersprießlichen Werbeaufträgen der Gerätefirmen für die Zeitungen [...] belohnt".
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