Um auch nur ansatzweise verstehen zu können, was in den Autoren des Jungen Wien vorgegangen sein mag, ist ein Blick aus einer größeren Perspektive notwendig, ein Blick auf die Konfliktfaktoren der Zeit. In unserem Zusammenhang ist nun wichtig, zu erörtern wie einzelne und Gruppen, besonders des gehobenen Bürgertums, der sozialen Schichte des Jungen Wien, auf konkrete Erfahrungen dieser Zeit voll konfliktproduzierender Widersprüchlichkeit seelisch reagierten und welche dieser Reaktionen literarisch verarbeitet wurden. Auch auf das Phänomen, warum eine bestimmte Gruppe, wie etwa das Junge Wien, innerhalb des sozialen Großraums, in dem sie steht, in entschiedener Weise eigene Wege geht, muss eingegangen werden. Es soll gezeigt werden, dass die Dichtung des Jungen Wien trotz ihres privaten Charakters in einem klar erkennbaren zeitgeschichtlichen Zusammenhang steht.
Die Verbindung von starker Staatsautorität, Entwicklung bürgerlicher Rechte und wirtschaftlicher Expansion ist für die ersten 25 Jahre nach der Revolution von 1848 charakteristisch. Konzentration und Untergang der Schwächeren waren häufig die Folgen der "konjunkturellen Überhitzung" , die im 1873 in einer Depression mündete, die nur langsam überwunden werden konnte. Das Nationalitätenproblem hatte innenpolitisch Vorrang und erschwerte die Konzentration auf wirtschaftliche Fragen. Der Staat wirkte überdies in einer Weise auf das Wirtschaftsleben ein, die einer schnellen Besserung der Konjunktur hinderlich war. Erst 1896 wurden Zeichen eines allgemeinen Konjunkturaufschwungs sichtbar.
Der österreichische Liberalismus, zunächst eine Geistesrichtung, später auch eine Partei, setzte einen gesellschaftlichen Ordnungstypus durch, in dem der Mensch als freier Einzelner seine persönliche Freiheitsrechte durch den Staat garantiert bekam. Das Revolutionsjahr 1848 brachte zwar machtvolle liberale Bestrebungen ins Spiel, doch versiegte der freiheitliche Elan bald. Die Unterdrückung vieler liberaler Regungen im Wirtschaftsbereich erschwerte die Arbeit des politisch organisierten Liberalismus und mit der Ausbreitung der Massenparteien, die durch Wahlrechtsreformen gefördert wurden, verlor der Liberalismus als politische Kraft zunehmend an Bedeutung.
Liberales Denken und liberale Lebensführung wandten sich zunehmend den außerpolitisch-privaten Bereichen zu. Einerseits verlor der Liberalismus wichtige Positionen in Wirtschaft und Parteipolitik, andererseits hatten einzelne Liberale weiterhin wichtige Schlüsselpositionen der Gesellschaft inne. Das gehobene Bürgertum, dem sie vorwiegend angehörten, verfügte trotz der stagnierenden Wirtschaft weiterhin über reichliche Mittel. Es war Träger des "goldene[n] Zeitalter[s] der Sicherheit" , in dem sich zunehmend die Vorstellung der Naturgesetzhaftigkeit und Gottgewolltheit der sozialen Ordnung durchsetzte.
Besonders prägnant zeigt sich die Einstellung des Bürgertums an der vermehrten Bautätigkeit der "Ringstraßenzeit" und an ihrem Epochenstil "Historismus". Er findet seine Anwendung und Illustration in der Serie von Gebäuden, die die Wiener Ringstraße säumen. So ist die Universität im italienischen Renaissancestil erbaut, der das Ideal des Humanismus beschwört, das Rathaus im gotischen Stil, Symbol der freien und wirtschaftlich blühenden Städte, und das Parlament im hellenistischen Stil, als Versprechen eines rational organisierten politischen Lebens. Diese Aufladung von Gebäuden mit Symbolen klingt zwar recht eindrucksvoll, in Wahrheit allerdings enthüllt der Siegeszug des Historismus eine Krise der Traditionen und einen Mangel an geschichtlicher Kontinuität. In der Überlagerung der Stile und Traditionsfragmente wird jede Tradition künstlich. Die ältesten sozialen Schichten, der Adel und das Bauerntum, brauchen keinen Historismus, um ihren Sinn für Geschichte zu bekräftigen. Die bürgerlichen Schichten hingegen, die keinen ihm eigenen historischen Stil kennen, kultivieren beim Bau ihrer Palais an der Ringstraße den "neobarocken Stil" oder den "italienischen Renaissancestil".
Trotzdem hatte man das Gefühl, auf der Höhe der Zeit zu stehen, am Geistigen teilzuhaben und in vieler Hinsicht frei verfügen zu können. Der notwendige Verzicht auf Einfluss und politische Macht wurde durch eine Überbewertung des Kulturellen und der überwiegend fast ausschließlichen Orientierung daran wettgemacht. Mehr und mehr verbreiterte sich die Kluft zwischen einer "politischen Öffentlichkeit", in der Macht ausgeübt wurde, und einer "kulturellen Öffentlichkeit" , die Werte repräsentierte. Das Thema der Dekadenz, sehr verbreitet in der Literatur der Jahrhundertwende, hatte in der Erfahrung der Wiener einen beträchtlichen Wahrheitsgehalt.
Die allgemein subjektivistische Grundlage bürgerlichen Selbstverständnisses lässt sich vor allem mit der beruflichen Tätigkeit des Bürgers erklären. Wer als Gewerbetreibender auf sich gestellt ist und sich zu bewähren und durchzusetzen hat, wird sich als Individuum, als Einzelner fühlen und allem, was mit seiner Persönlichkeit zu tun hat, besondere Aufmerksamkeit widmen. Zudem trug der straff organisierte absolutistische Staat, in dem der Einzelne wenig galt, seine Kälte, Anonymität und Hartherzigkeit, dazu bei, dass die Werte des Inneren zur Solidarisierungsbasis Bürgerlicher wurden. Sie wirkten verbindend und vermittelten das Gefühl sozialer Geborgenheit. Die immer konsequentere Besinnung auf subjektive Werte erwies sich aber als immer unangemessener, wirklichkeitsfremder und den zu lösenden Problemen gegenüber hilfloser.
Außenseiter waren dabei stets die Juden. Sehr viele Juden schlossen sich auf Grund ihrer Tätigkeit in der Wirtschaft dem Kreis des gehobenen Bürgertums an. Nutzten sie anfangs noch den bürgerlichen Selbstbestätigungsbereich zur eigenen Etablierung, bildete sich in Wien rasch eine jüdische Elite, der fast alle Jugendfreunde Hugo von Hofmannsthals angehörten. Aber die Situation der Juden in Wien, denen Kaiser Franz Josephs ihre Existenz und Freiheit größtmöglich sicherte, hatte sich 1897 mit der Ernennung des christlichsozialen Antisemiten Karl Lueger zum Bürgermeister von Wien völlig geändert. Die Dichter um den jungen Hofmannsthal, denen wohl nichts ferner gelegen hatte, als die neuerfundene konfessionelle und rassistische Problematik, wurden sich ihrer nun schmerzlich bewusst. Das waren gewiss keine Themen für den jungen Hofmannsthal. Und doch spürte er die Verfinsterung der Wiener Atmosphäre.
Neben wirtschaftlichen, politischen und sozialen Problemen spielten nationale eine immer größere Rolle. Mit der Gründung des deutschen Reichs 1871 hatte sich das Heilige Römische Reich unter der Führung Österreichs endgültig aufgelöst. Österreichs Position wurde geschwächt, Resignation und Lethargie breiteten sich aus und man bemühte sich nun, eine betonter nationalösterreichische Politik zu verfolgen. Auch den Autoren der Jahrhundertwende blieb nach dem Scheitern der Schaffung eines österreichischen Naturalismus in Analogie zum deutschen nichts anderes übrig, als sich verstärkt um das Eigene zu bemühen, um das Seelische und Sensitive, um Stimmungen und Empfindungen.
Bei vielen Vertretern des Jungen Wien verlief der Prozess der Identitätsbildung weitgehend im Bildungsraum und Erfahrungsbereich der Gesellschaft, der sie angehörten. Die institutionelle Bildung des Gymnasiums und der Universität wurde stets von der individuellen, privaten Erziehung überwölbt. Kultur wurde gegen Zivilisation ausgespielt, das heißt Bildung, Kunst und Lebensart gegen die neuen Errungenschaften der Technik und gegen die Organisationsformen von Staat, Wirtschaft und Politik. Frei von Dienstverhältnissen, im Privaten, war der Raum für Entfaltung, für die Pflege von Bildung, Kunst und Lebensart. Es herrschte die Gewissheit vor, dass Bildung, Kunst und Lebensart den Menschen nicht nur in besonderer Weise qualifizieren, sondern dass sie mehr als alles andere seiner höheren Bestimmung entsprechen.
Bei vergleichbaren Voraussetzungen bezüglich des Elternhauses, der Schule und der Tradition werden Anstöße von außen offenbar auf eine sehr ähnliche Weise verarbeitet und integriert. So standen viele Söhne des gehobenen Bürgertums nicht nur in einer analogen Sozialstruktur, die durch die gleichen zeitgeschichtlichen Faktoren begründet war, sondern man hielt auch an gemeinsamen Traditionen fest und pflegte gemeinsame Bildungsideale, Wertmaßstäbe und Verhaltensmuster.
Erfahrungen dieser Art führen Menschen zueinander und halten sie aneinander, in der Regel jedoch nur so lange, wie die gemeinsamen Interessen und Bedürfnisse andauern. Angesichts des elitär-selbstgefälligen und kompensatorisch-überhöhten Bildungsbewusstseins, das das Verhalten nicht weniger Angehöriger des gehobenen Bürgertums der jüngeren Generation bestimmte, übersieht man leicht, dass dieser Kreis in Wahrheit eine verschwindend kleine Minderheit darstellte, "eine kleine Insel, die - in einem Meer von Halbbildung schwimmend - sich und den anderen einzureden suchte, das Meer zu sein" .
Das besondere Interesse an Bildung, Kunst und Lebensart, das im gehobenen Bürgertum vorherrschte, scheint im Kreise des Jungen Wien stark verdichtet. Dem Literaturbetrieb gegenüber nahm die Gruppe zunächst eine Außenseiterstellung ein. Sie verstanden sich als ein Kreis Interessierter, der engen persönlichen Kontakt hatte und der durch die Gleichartigkeit der Interessen verbunden war. Die Literatur war nicht nur der überragende Gesprächsgegenstand, sondern ihre Kategorien, Wendungen und Figuren stellten auch ein Mittel der Verständigung dar. Das Gefühl, auf diese Weise an einem vielstimmigen Gespräch teilzuhaben, vermittelte die Gewissheit, im Besitz von Literatur und damit Kultur zu sein.
Dies führte aber mitunter auch zu konflikthaften Erfahrungen, die sogleich thematisiert wurden. Der unausgefüllte private Bereich, insbesondere der Liebe und der Freundschaft, stellte sich auf Grund der Tatsache, dass sich das Leben nicht nur auf den Umgang mit Kulturellem beschränken ließ, den Autoren des Jungen Wien als Versäumnis dar. Die Behandlung von Problemen, die sich aus der Unvereinbarkeit zwischen hochgestochenen Bildungsvorstellungen und den Bedürfnissen nach einem in zwischenmenschlicher Hinsicht erfüllten Leben ergab, erklärt die Besonderheit der Literatur der Jahrhundertwende; vor allem ihr Interesse am Seelischen, am Sensitiven und Psychologischen. Die Widersprüchlichkeit, die sich in zahlreichen Texten dieser Zeit zeigt, ist Ausdruck und Folge einer widersprüchlichen Sozialstruktur, in der die Träger dieser Literatur standen.
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