Im Jahre 1530- in der Zeit der Bauernkriege- stößt der Reformator Luther, der selbst in politische Schwierigkeiten mit den Mächtigen geraten war- auf diese literarische Form. Er hat großen Respekt vor Aesop und stellt die Fabel auf eine Stufe mit der Bibel. Er schätzt an der Gattung, dass sie alle, vor allem die Kinder, zu einer realistischen Sicht auf die Dinge der Welt bringt. Luther, der selbst Fabelschreiber war, weist auf drei Dinge hin: erstens den Entstehungsprozess, zweitens die Konstruktion und drittens die Intention der Fabel. Der Entstehungsprozess verläuft vom Erleben oder Erleiden eines Schicksals über die Reflexion dieses bis hin zur Erkenntnis der Wahrheit. Diese Wahrheit wird in eine Tiergeschichte übersetzt, da man so die Leute nicht direkt angreift, sie aber bei Interpretation auf Fehler hinweist. Luther nennt dies "Unter einer Lügenfarbe kleiden". Die Wahrheit wird nicht verborgen, aber auch nicht betont. Damit hat man auf die Wahrheit keinen Hass, sondern erkennt sie nur- und das ist das Ziel- DAS ERKENNEN DER WAHRHEIT. Nebenbei wird die Enträtselung zu einem intelektuellen Vergnügen.
Die Erzählung der Fabel mit Hilfe der Tierwelt ist die poetische Seite der Gattung. Die Fabel zielt darauf hin, das Urteil des Lesers zu provozieren, wozu ein Denkansatz erforderlich ist. Diesen Denkansatz bezeichnet Luthers Theorie als dialektisch. D.h.: große gegen kleine Tiere, ungerechte gegen gerechte, mächtige gegen schwächere, reiche gegen arme, brutale gegen friedfertige etc.
Alle Dichter von Aesop bis Lessing haben das Ziel die Grundprobleme der sozialen Welt aufzudecken. Unter allen Fabeln gibt es eine, die diese Grundproblematik am deutlichsten darlegt: Aesops Fabel "Die Teilung der Beute". Sie spiegelt die Macht- und Besitzverhältnisse der Gesellschaft wieder. Ihre Bestialität ist zurückzuführen auf ein Prinzip, das in der Teilung der Beute deutlich gemacht wird. Es entsteht ein brutales Gerangel um die Beute. Die Problematik liegt darin, dass wir zur Selektion, also zur Teilung, gezwungen sind. Unter dem vollzog sich auch in der Gesellschaft eine Selektion in Priviligierte und solche, die es nicht sind. Texte des Evgangeliums oder Fabeln sind eine Botschaft für Gerechtigkeit und Gleichheit. Diese Botschaft ist den Reichen feindlich gesinnt. Luther verstand es allerdings anders. Er war im Grunde ein Konservativer, ein "Fürstenideologe". Er ist somit ein Gegensatz zu Aesops Intention.
Die Pointe, die es in jeder Fabel gibt, hält die Denkstruktur und Poesie jeder Fabel zusammen.
Leidenschaften sollten in Fabeln vermieden werde, da nichts unsere Erkenntnis so verdunkelt wie diese. Deshalb wird man auch kaum über die Lebensgeschichte eines Tieres erfahren, da man sonst zu viel Sympathie für ein Tier aufbringen würde. Die Tiere sollten keine individuelle Psyche aufweisen, damit sie nicht, wie es bei einer normalen Romanlektüre schon der Fall ist, unvergesslich mit uns eingehen. Damit wir uns einfacher gesagt nicht zu sehr in sie hineinversetzen.
Lessing hat besonders stark auf die sozialkritische Erkenntnis hingewiesen. Er forderte, dass sie ernsthaft, knapp, gezielt und pointiert sein müsse. Die Fabel würde durch verbalen Aufputz ihren Wert als "Waffe" verlieren.
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