"Der Liebhaber" wurde verfasst von Marguerite Duras. Die Autorin, die im April 1914 in Giadinh geborene Tochter eines Mathematikprofessors, verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Indochina in einer französischen Kolonie und besuchte ein Gymnasium in Saigon. Ab 1932 studierte sie Mathematik und Rechts- und Staatswissenschaften in Paris und war dann einige Jahre lang als Sekretärin im französischen Kolonialministerium tätig. Von 1943 an lebte sie als freie Schriftstellerin und war nur mehr zeitweise als Journalistin tätig. Sie schrieb insgesamt 40 Romane, die zum Teil auch als Theaterstücke aufgeführt wurden, und für die sie einige namhafte Preise erlangte. "Der Liebhaber" wurde nach der Veröffentlichung 1984, nachdem er eine Auflage von fast drei Millionen Exemplaren in über 40 Sprachen erreicht hatte, mit dem bedeutendsten französischen Literaturpreis ausgezeichnet, dem "Prix Concourt". Die Geschichte wurde einige Jahre danach auch verfilmt. Im März 1996 verstarb Marguerite Duras in Paris.
Das Buch ist ein Stück Autobiographie der Autorin, die im Alter von nun schon 70 Jahren an ihre Jugend zurückdenkt und an die unsterbliche Liebe, die damals begonnen hatte. Beim Betrachten ihres eigenen Spiegelbildes, das schon gealtert und vom Alkohol zerstört ist, kehrt sie in die 30er Jahre von Indochina zurück.
Die Stimmung damals ist düster. Ihr Vater ist längst tot, und ihre Mutter ist vom Wahnsinn bedroht. Trotzdem bringt sie ihre drei Kinder, Marguerite und ihre zwei Brüder, relativ gut als Direktorin an einer französischen Mädchenschule in Sadec durch. Der ältere Bruder kümmert sich so gut wie nie um seine Schwester, er wirft einen Schatten der Brutalität auf die Familie, ist Drogenabhängig, treibt sich fast ausschließlich in den Opiumhöhlen von Sadec herum und macht Schulden. Die Mutter hält trotzdem sehr viel von ihrem Ältesten, sie versucht oft ihn umzustimmen und zu einem besseren Menschen zu machen, doch es ist offensichtlich dass ihr das nie gelingen wird, sie aber will das nicht einsehen. Von ihrer Tochter wünscht sie sich nur, dass diese einmal Mathematik studiert, damit sie einmal einen angesehenen Beruf erlangt, doch das Mädchen spricht schon seit ihrer Kindheit immer davon, dass sie einmal schreiben will, um so ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Die Mutter hält das aber für eine bloße Spinnerei.
Der kleinere Bruder hat eine etwas bessere Beziehung zur Schwester, er unterstützt sie oft im Streit gegen den größeren oder gegen die Mutter.
Unter diesen Umständen, in einer stummen Familienhölle, in der sich die Mitglieder nur auf Fotographien wirklich gegenseitig in die Augen sehen können, wächst sie also auf.
An jenem Morgen, mit 15einhalb Jahren, macht sie sich nach den Ferien, die sie bei ihrer Mutter in Sadec verbracht hat, auf den Weg nach Saigon, wo sie ein Gymnasium besucht und während der Woche in einem Mädchenpensionat wohnt. Auf jenen Reisen zwischen Sadec und Saigon, muss sie den riesigen Fluss Mekong mit der Fähre überqueren. Es scheint vorerst eine Fahrt wie jede andere zu sein. Sie lehnt sich an das Geländer, um den gewaltigen Fluss zu beobachten. Doch dieses mal bemerkt sie, dass auch sie beobachtet wird. Nicht von irgendwelchen vorbeigehenden Leuten, die sie wegen ihrer Aufmachung ansehen, die einer Kinderprostituierten gleicht, mit ihren hohen Abendschuhen, dem abgenutzten Kleid aus Rohseide und dem breitkrempigen Hut, unter dem das kindlich unschuldige, aber doch sehr anziehende gepuderte Gesicht mit dem kirschrot geschminkten Lippen hervorblickt, nein, sie bemerkt dass sie von einem älteren Mann, einem Chinesen, beobachtet wird, der in einer Limousine sitzt, anscheinend ein reicher Geschäftsmann aus Cholen. Er steigt aus, kommt schüchtern auf sie zu und spricht sie an. Sie spürt seine Unsicherheit und dass sie ihm sehr gefällt. Er lädt sie ein, sie in seiner Limousine mitzunehmen, und obwohl sie bereits von diesem Augenblick an weiß, dass sich ihr Leben dadurch verändern wird, nimmt sie die Einladung an. Sie weiß, warum ein doppelt so alter Chinese ein weißes Mädchen anspricht, sie mitnimmt, doch in diesem Augenblick entscheidet sie sich, ihr Leben zu verändern, sie will eine von jenen sein, die scheinbar selbstständig ihr eigenes Leben führen, von Zeit zu Zeit an der Seite eines reichen Mannes, der für sie bezahlt.
Sie sagt ihm von Anfang an, er solle sie so behandeln, wie er all die anderen Frauen auch behandle, die er mit in seine Wohnung nimmt, sie will nicht zulassen dass sie mehr für ihn empfindet. Doch schon bald wird klar, dass er sie wirklich liebt, er sagt, sie sei seine einzig wahre Liebe, doch sie antwortet nie darauf, sondern lässt sich so behandeln wie sie es von ihm gebeten hat. Sie sagt, es wäre ihr lieber, wenn er sie nicht liebte. Sie glaubt, dass er sie sowieso nicht verstehen würde. Er leidet sehr darunter, verführt sie dennoch, weiht sie ein in die sexuelle Lust und sie genießen es gemeinsam, und er muss sie trotzdem dafür bezahlen. Von nun an wartet er jeden Tag vor ihrer Schule um sie abzuholen, die Nachmittage verbringen sie gemeinsam, sie reden auch oft miteinander, über ihre verarmte Familie oder über seinen Vater, der ihn eines Tages mit einer Chinesin verheiraten will, doch jedes Mal lieben sie sich auch und finden so immer näher zueinander, auch wenn sie es sich nicht eingestehen will. Mit dieser Beziehung entfernt sie sich von ihrer Familie, sie weiß dass niemand etwas davon erfahren darf, ihr Ruf in der Kolonie wäre zerstört und nie würde irgend ein Mann sie heiraten, das kleine weiße Mädchen und der ältere Chinese, eine Schande. Als ihre Mutter dann doch vom Liebhaber ihrer Tochter erfährt, toleriert sie ihn nur wegen des Geldes. Oft führt der Chinese die Familie zum Essen aus, er bezahlt sogar Schulden des älteren Bruders, er will sich auf diese Weise wenigstens ein wenig Anerkennung von ihrer Familie verschaffen, doch wenn sie dann alle beisammen sitzen, spricht nicht einmal seine Geliebte mit ihm, aus Scham vor den anderen. Erst wenn sie wieder allein in seiner Wohnung sind, ist alles wie beim Alten, sie verlieren sich fast in ihrer Lust, erleben wundervolle Tage und Nächte miteinander, nach denen er sie immer wieder bezahlt, und sich somit das zweifelhafte Einverständnis ihrer Familienmitglieder sichert.
Auch seine Familie akzeptiert dieses Verhältnis nicht, sein Vater hat sogar schon diejenige ausgesucht, die er heiraten soll, natürlich eine aus der Oberschicht, gemäß seines Standes.
Trotz der Wahnsinnsanfälle ihrer Mutter, in denen sie sie als Hure beschimpft und sie sogar schlägt, und der Heiratspläne seines Vaters hält die Beziehung eineinhalb Jahre lang. Solange kann er die Hochzeit mit der Chinesin hinauszögern und solang hat sie die Stütze ihres kleinen Bruders, der sie so oft vor den Schlägen ihrer Mutter zu schützen versucht. Sie versuchen sich voneinander zu trennen, doch sie können einfach nicht aufhören sich zu lieben, obwohl sie ihm nie sagen würde, dass sie es wirklich tut. Sie verbringt die Nächte weiterhin bei ihm, und er verwöhnt sie, wo er nur kann.
Dann steht die Hochzeit fast unmittelbar bevor. Sie sagt, dass sie nun eigentlich der Meinung seines Vaters sei, dass sie sowieso irgendwann weggegangen wäre, und so trennen sie sich.
Ihre Mutter schickt sie nach Frankreich, mit einem Liniendampfschiff soll sie in eine für sie neue Welt aufbrechen. Bei der Abreise steht sie am Geländer, und so wie sie damals bei jener Überfahrt den Fluss beobachtet hatte, beobachtet sie nun die Menschenmenge. Bei diesem Abschied weint sie, ohne Tränen zu zeigen, denn es gehört sich nicht, um diese Art von Liebhabern zu weinen. Sie erblickt seinen Wagen, er steht da etwas abseits, allein. Sie kann ihren Liebhaber zwar nicht erkennen, doch sie weiß, dass er da ist. Sie weiß, dass er zu ihr herübersieht, wie damals, auf der Fähre. Das Schiff legt ab, irgendwann sieht sie ihn nicht mehr, der Hafen verschwindet und bald auch das Festland.
In der Nacht hört sie auf dem Schiff ein Musikstück auf dem Klavier, dass sie an die vergangene Zeit erinnert, sie sieht es wie einen Befehl Gottes, dessen Inhalt man nicht kennt.
Viele Jahre später lebt sie als Schriftstellerin in Paris, nachdem sie das Mathematikstudium abgeschlossen hat, das sich ihre Mutter so sehr für sie gewünscht hat, sitzt in ihrem Zimmer, Jahre nach dem Krieg, nach Ehen und Scheidungen und vielen geschriebenen Büchern. Selten hat sie von ihrer Familie gehört, schließlich vom Tod ihres jüngeren Bruders erfahren und seitdem mit den anderen keinen Kontakt mehr gehabt.
Nun hat er sie angerufen, sagt, weil er mit seiner Frau in die Stadt gekommen ist. Er wollte nur ihre Stimme hören, war verschüchtert, wie früher. Er weiß, dass sie begonnen hat, Bücher zu schreiben, und vom Tod ihres Bruders, er war traurig gewesen um ihretwillen. Und dann sagt er es. Er sagt ihr, dass er sie immer noch liebe, dass er nie aufhören werde, sie zu lieben, dass er sie lieben werde bis zu seinem Tod.
Der Roman ist teilweise aus der Perspektive der Schriftstellerin in der Ich-Form erzählt, und teilweise aus der Sicht einer dritten Person, vor allem in den erotischen Szenen, um damit Abstand von ihrer Betroffenheit und ihren eigenen Gefühlen zu gewinnen. Das Buch ist aus knappen bildhaften, fast bruchstückartigen Textsequenzen aufgebaut, die geschickt die verschiedenen Erzählperspektiven und Zeitebenen miteinander verbinden. Stilistisch ein großartiger Versuch, das Mosaik des Erlebten und der Gefühle zusammenzusetzen. Der Roman ist ein Bericht vom Verfallen und Verlassen - den Folgen des Begehrens, aber auch von dessen Schönheit. Ein sehr stilles, sinnliches Buch, das das Erlebte wunderbar in Worte fasst. Die Geschichte verbreitet eine mystische Stimmung, und ich kann das Buch jedem weiterempfehlen, der von einer zauberhaften Erzählung gefesselt werden möchte, denn es ist in seiner Art und Sentimentalität einfach einzigartig und zeigt auf wundervolle Weise, was Liebe ist und heißt.
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