Die Revolution von 1848 und das Staatsgrundgesetz von 1867 ermöglichte den Juden den Eintritt in das liberale Großbürgertum.
Am 25. April 1848 hatte die Regierung eine neue gemäßigte liberale Verfassung veröffentlicht, in welcher zwar die Gleichheit aller Bürger ohne Unterschied der Konfession verfügt wurde, doch gleichzeitig verordnet wurde, daß die Aufhebung der Beschränkungen für die Juden dem einzuberufenden Reichstag vorbehalten bleiben sollte. Die Aufhebung der Ansiedlerbeschränkungen im Jahr 1848 bildete die Voraussetzung für die jüdische Zuwanderung nach Wien. Marsha Rozenblit unterscheidet drei Wellen galizisch- jüdischer Zuwanderung nach Wien. Die ersten Migranten kamen bereits in den 1859er bis 1870er Jahren. Diese verhältnismäßig geringe Zahl hatte es sich zum Ziel gemacht, die wirtschaftlich, sozialen und bildungsmäßigen Möglichkeiten in der Hauptstadt zu nutzen. Dennoch dominierten weiterhin böhmische, mährische und ungarische Juden in Wien.
Die Massenemigration von galizischen Juden nach Wien setzte um die Jahrhundertwende ein.
Diese Menschen waren oft noch stark an das traditionelle jüdische Leben gebunden. Großteils hatte sie der wachsende politische und wirtschaftliche Druck in ihrer Provinz zum Verlassen der Heimat bewogen, auf der Suche nach einem Ausweg abseits der herrschenden Traditionen. Auffallend ist der verhältnismäßig hohe Anteil jüdischer Frauen, die im Sinne der Familienwanderung die Strapazen der Migration auf sich nahmen. Die dritte "Migrationswelle" setzte im Zuge der Fluchtbewegungen des 1.Weltkrieges ein. Damals kamen auch Strenggläubige nach Wien, die unter anderen Umständen niemals aus ihrer gewohnten Umgebung ausgebrochen wären, da sie aus Gemeinden stammten, in denen die religiösen Autoritäten noch großen Einfluss besaßen.
In der Bukowina, wo die Juden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine der dominierenden Kräfte im Wirtschafts- und Kulturleben bildeten, entschlossen sich zahlreiche jüdische Handelstreibende aufgrund von ökonomischen Krisen in den 1870er und 1880er Jahren zur Auswanderung, vor allem in die USA. Hingegen nutzten junge Bukowiner Juden die Chance, in der Metropole Wien studieren zu können. Schließlich löste das Vordringen der russischen Truppen im 1.Weltkrieg eine ähnliche Fluchtbewegung wie unter den galizischen Juden aus. Generell verband sich bei den Juden im Osten der Monarchie der Wunsch nach sozialer Besserstellung mit den mythisch assoziierten Begriffen "Amerika" und "Wien".
Wien galt als Metropole der Bildung und geistigen Hochkultur sowie als "Wiege des Liberalismus", der die Emanzipation ermöglicht hatte.
Kaiser Franz Joseph wurde zum Symbol für die judenfreundliche Politik der Habsburger stilisiert. Darüber hinaus hingen die Juden Galiziens zum Teil der Vorstellung an, dass selbst die einfachste Handelstätigkeit in Wien Ansehen und Reichtum bringen konnte. Trotz antisemitischer Agitationen und der Ablehnung mancher "Wiener" Juden strömten weiterhin viele Zuwanderer aus dem Osten nach Wien, in der Hoffnung, in ökonomischer und sozialer Hinsicht neue Chancen vorzufinden, ohne gleich alle Zelte hinter sich abrechen zu müssen, wie dies bei der Emigration in die USA der Fall gewesen wäre. Daneben beeinflussten natürlich auch Verwandte und Bekannte, die man in Wien oder New York hatte und bei denen man vorübergehend Aufnahme finden konnte, die Wanderungsentscheidung. Mit dem Ausbruch des 1.Weltkrieges gab es nicht mehr viel zu überlegen. Das rasche Vordringen russischer Truppen versetzte die jüdische Bevölkerung Galiziens und der Bukowina in panischen Schrecken. Völlig erschöpft von der Flucht, trafen viele von ihnen, oft nur mit den notwendigsten Habseligkeiten versehen, in Wien ein.
|