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englisch artikel (Interpretation und charakterisierung)

Der "junge" - träume gegen die realität



In dem von Alfred Andersch verfassten Nachkriegsroman "Sansibar oder der letzte Grund" geht es um 5 Personen, deren aller Anliegen es ist, das unter nationalsozialistischer Herrschaft befindliche Deutschland des Jahres 1937 schnellstmöglich zu verlassen und deren Wege sich zufällig in dem verschlafenen Küstenstädtchen Rerik in Mecklenburg-Vorpommern kreuzen.
Unter ihnen ist auch der namenlose "Junge", ein 15jähriger, fernwehgeplagter und vaterloser Jugendlicher, dessen Figur unter die Überschrift "Träume gegen die Realität" fallen könnte.
Sein einziges Hobby ist das Lesen von Abenteuergeschichten wie "Huckleberry Finn", was sein Fernweh schürt und einer der Gründe ist, warum er Rerik verlassen will.
Im Gegensatz zu den anderen im Buch vorkommenden Personen, die allesamt einer direkten Bedrohung durch die Nationalsozialisten ausgesetzt sind, manifestiert sich das Streben des Jungen in drei ohne Erklärung nichtig erscheinenden und nur schwer zu verstehenden Gründen.
Als ersten Grund des Jungen nennt Andersch die Tatsache, dass "in Rerik nichts los" sei. Erahnt man die Weltanschauung des Jungen und seine Sicht und sein Empfinden der Realität, erschließt sich diese Aussage beinahe von selbst: Der Junge kann mit der Erwachsenenwelt nichts anfangen. Er fühlt sich von deren Ruhe, Geregelt- und Genormtheit eingeengt, träumt von einem Leben voller Abwechslung und Abenteuer, wie dem Huckleberry Finns, des Hauptcharakters seines Lieblingsromans. Im Gegensatz zu dem Leben Finns, einem wohnsitzlosen Vogelfreien, unterliegt sein eigenes Leben der ständigen, zwanghaften Wiederholung seiner ihn grenzenlos unterfordernden Tätigkeit auf dem Schiff des Fischers Knudsen. Er sieht seine Arbeit als sinnlos und überflüssig an, weshalb er nach eigener Aussage die Küstenfischerei lieber gegen eine Stelle auf einem großen Frachter eintauschen würde. Dies ist ihm aufgrund seiner Minderjährigkeit jedoch nur möglich, wenn er eine Einverständniserklärung seiner Mutter erhält, deren Verweigerung sein Realitätsbild auch auf sie und Reriks restliche Einwohner überträgt:
Er hält Reriks Einwohner allesamt für phlegmatisch, gleichgültig, abgestumpft; Menschen eben, die tagein, tagaus ihre Tätigkeit erledigen, maschinengleich, ohne zu leben, ohne seiner Vorstellung von Leben gleichzukommen, die in erster Linie Freiheit, aber auch Selbstbestimmung und Unabhängigkeit bedeutet.
Insbesondere von seiner Mutter fühlt er sich unverstanden, rebelliert gegen ihre Normen und Werte, hinterfragt und stellt in Frage, wie alle Jugendlichen. In seinem Vorgesetzten Knudsen sieht er den typischen Reriker: langweilig, mürrisch, starr, wortkarg, gefühlsarm, desillusioniert und somit seiner Meinung nach tot. Dieser ist wie seine Mutter jedoch eine der herausragenden Persönlichkeiten Reriks, die sich noch am ehesten als zwei der wenigen Individuen aus dem Kollektiv der Rerik-Bewohner herauskristallisieren.
Um dieser für ihn unerträglichen Realität zu entfliehen, flüchtet er sich in die Traumwelt seiner Bücher, in der er Abwechslung und Zerstreuung von der Tristesse seines Alltags zu finden sucht. Er identifiziert sich mit Helden wie Huckleberry Finn und bewundert und beneidet sie ob ihrer Freiheit, tun zu können, was ihnen beliebt.
Der Junge erwartet, solange er sich in Rerik aufhält, das für ihn längst zu einem Symbol seiner Realitätsempfindung geworden ist, da es das einzige ist, was er real erlebt hat und alle Aspekte seiner Ansichten aufweist, keine Möglichkeit einer Verbesserung seiner Situation; er erhofft sich vielmehr die Erfüllung seiner Träume des Flüchten-Wollens, die sein Vater auch hatte, deren zeitweise Verwirklichung ihn aber im Endeffekt das Leben kosteten:
Den zweiten Grund für ein schnellstmögliches Verlassen Reriks hat der Junge in dem Gedanken gefunden, dass er Rerik und seinen Bewohnern vorwirft, seinen Vater getötet zu haben, wenn nicht direkt, so doch zumindest indirekt.
Sein Vater, den er als 5jähriger verlor, starb "in den Stiefeln", das heißt in oder während der Ausübung seiner Tätigkeit als Küstenfischer. Normalerweise ist ein Tod während des Küstenfischens kaum möglich, drehen die Kutter bei verhältnismäßig geringen Windstärken schon ab und verirren sich überhaupt sehr selten auf offene See. Aber gerade das ist es, was der Junge allen Erwachsenen am meisten anlastet: ihre kaum bis gar nicht vorhandene Risikofreude.
Sein Vater war der Ansicht des Jungen nach ganz anders: Von seinem Tod ist nur bekannt, dass er nach Einholen eines Fanges oft noch heraus auf offene See gefahren ist, um allein mit sich und der Natur zu sein; die Dorfbewohner meinen zwar, dass er sich den Mut dazu mit Alkohol verschafft hat und setzen bösartige Gerüchte in die Welt, von denen sich selbst die Mutter des Jungen hat überzeugen lassen, wohingegen der Junge sich sicher ist, dass der Vater im Grunde nur dem Alkohol anheim fiel, weil er nicht etwa laut bewusster Gerüchte ein Säufer gewesen sein soll, sondern da er im Grunde nach demselben strebte wie der Junge selbst: die Flucht aus Rerik, gleichbedeutend mit der Flucht vor und aus der Realität.
Für den Jungen ist klar: Der Vater hat all das verwirklicht, all das praktisch umgesetzt, was auch er selbst sich erträumt: fähig zur Flucht zu sein. Das ist auch der Grund, warum er den Vater nicht nur als großes Vorbild, sondern sogar als Idol empfindet, ja, ihn beinahe vergöttert: Er ist uneingeschränkt mit allen Taten des Vaters einverstanden und lehnt jede Minderung, jede Reduktion der Flucht des Vaters auf einen simplen, schmutzigen, unwürdigen und unehrenhaften Unfall im Rausch kategorisch ab. Er sieht in seinem Vater einen Helden, der den tragischen Heldentod gestorben ist, doch aber vorher ungeachtet aller seinen Traum erfüllt hat.
Die Tatsache, dass Reriks Bewohner seine Ansichten nicht teilen, sie sogar ins Gegenteil verkehren und seinem Vater nicht einmal - wie üblich - eine Gedenktafel in der Kirche widmen wollen, verstärkt seine Abneigung und sein Unverständnis den Bewohnern Reriks gegenüber ebenso wie den Glauben an seinen Vater, in dem er fast so etwas wie einen Märtyrer zu sehen scheint.
Als dritten und letzten Grund gibt der Junge an, "es gibt Sansibar - Sansibar hinter dem Meer." Die pure Existenz irgendeines weit entfernten Landes als Grund für das Verlassen der Heimat anzusehen, fällt zugegebenermaßen etwas schwer, so man nicht erkannt hat, dass doch der kleine Staat Sansibar vor der Ostküste Afrikas im Indischen Ozean mit seinen gerade einmal 380000 Einwohnern gewaltige, weltveränderlich große symbolische Bedeutung für den Jungen erlangt, obwohl er geographisch, politisch, militärisch, kurz in allen Sparten eher unbedeutend ist.
Sansibar ist das Symbol für alle Träume des Jungen. Es ist weit weg von Rerik, was gleichbedeutend mit "weit weg von der Realität" ist, da Rerik wiederum symbolisch für die verhasste Wirklichkeit und Tatsächlichkeit steht. Weit weg von der Enge Reriks zu sein ist für den Jungen wichtiger als alles andere: Es ist gleichbedeutend mit der Freiheit, tun und lassen zu können, was ihm selbst beliebt, ohne jemandes Einverständnis einholen zu müssen, mit Unabhängigkeit, der Loslösung von anderen, nicht mehr angewiesen zu sein auf andere, es bedeutet Abenteuer, das Unbekannte, Ungewisse, dass Reriks phlegmatisch-verstockte Bewohner so zu fürchten scheinen, da Ungewissheit auch zwingenderweise mit Risiko verbunden ist, das den Jungen hingegen mehr reizt als alles andere; es geht ihm um das Erleben, das Fühlen des Neuen, Unverbrauchten, dessen, was sich nicht seiner Vorstellung von der realen Welt angeglichen hat; Sansibar bedeutet In-der-Welt-Herumkommen und Abwechslung statt Routine, Langeweile und Tristesee, Aktionismus statt Stagnation, freies Atmen statt Ersticken, Freiheit statt Gefangenschaft, die Rerik und die Realität für ihn bedeutet, kurzum, Leben statt Tod.

Es ist das Wichtigste, nicht nur im Leben des Jungen aus Anderschs Roman, ein Ziel zu haben, welches hier konkret mit der Flucht aus der Enge gezeigt wird; hat man kein Ziel, keinen Traum, so bleibt das Leben sinnlos, versinkt in dem Grau der Gleichgültigkeit, des Vergessens und Ohne-Sinn-Seins, was auch meiner persönlichen Vorstellung vom Tod näher kommt als der vom Leben.
So oder so ähnlich muss auch der Junge empfinden, der im Endeffekt, als Quintessenz seine Träume und die stellvertretend dafür stehenden und sie formulierenden Gründe benötigt, um die Realität zu bewältigen, um nicht an reiner, im Grunde unbegründeter, aber doch oft genug erfahrbarer Existenzangst zu zerbrechen.
Der Junge glaubt zwar, seine träume irgendwann verwirklichen zu können - ob ihm dies gelingen mag, liegt außerhalb meiner Beurteilungsfähigkeit, sei also dahingestellt - aber unabhängig davon, ob man sich tief in seinem Innersten schon längst darüber bewusst geworden ist, ob man jemals im Leben fähig sein wird, ob es einem vergönnt sein wird, seinen wichtigsten, seinen Lebenstraum zu erfüllen oder nicht - völlig unabhängig davon - solange man sich so glücklich schätzen kann, einen Lebenstraum zu haben, Ziele und Träume zu haben, und wie Anderschs "Junge" aus "Sansibar oder der letzte Grund" auch daran arbeitet, ihn zu erfüllen, bedingungslos, unbeirrbar und - ganz wichtig - solange man sich selbst treu bleibt und nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln in der Lage ist, solange man seine Ziele fest im Auge behält und von diesen und sich selbst in einem gesunden Maße überzeugt ist, solange hat auch das Leben einen Sinn.
Und das ist schließlich das einzige, was zählt - selbst fähig zu sein, seinem Leben einen Sinn zu geben.

 
 

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