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deutsch artikel (Interpretation und charakterisierung)

Was können wir tun, damit der sinn des alterns eingelöst wird, damit unser altern glückt?


1. Drama
2. Liebe

I. Wir müssen Altern verstehen als letzten Aufruf zur Vollendung unserer Freiheitsgeschichte Ethische Suchbewegungen


Der österreichische Schriftsteller Albert Paris Gütersloh (+ 1973) schreibt in seinem Buch \"Der innere Erdteil\": \"Wenn der Mensch schon sterben muß, so soll er auch sterben wollen.\" Alternde sollen das unweigerlich Verfügte in der Dimension der Freiheit vollziehen. Sie sollen sich in die Freiheit einüben, indem sie der Endlichkeit grundsätzlich und konkret zustimmen. 25 Jahre bleiben wir heute durchschnittlich über die berufliche Arbeitszeit hinaus am Leben. Das Problem besteht darin, daß diese uns gewährte Zeit in der Regel nicht mehr durch unsere beruflichen Verbindlichkeiten strukturiert wird. Es geschieht nur noch\" was wir uns aus freier Spontaneität auferlegen. Der Zürcher Philosoph Hermann Lübbe sagt es so:


\"Die Herausforderung lautet, aus der Freiheit, als die uns der Gewinn an Lebenszeit zufällt, Lebenssinn zu generieren, nämlich durch Zustimmung zu sinnvollem Tun. \" Altem ist also gerade nicht nur allmählicher Zerfall unserer Zeitgestalt; es ist nicht nur passives Erwarten des Endes - sei es mit lethargisch verschränkten Armen oder in fortgesetzter panischer Aufgeregtheit und Umtriebigkeit. Altern soll vielmehr gelassen-souveräne Einlösung der noch verbliebenen und immer neu gewährten Lebensmöglichkeiten werden. Es ist die Zeit der unter dem Ernst des Endens mit höchster Dringlichkeit aufgerufenen \"Macht der eigenen Entscheidung \", der Möglichkeit endgültiger \"Selbstbestimmung zu sinnvollem Tun\".


II. Vollendung der Freiheitsgeschichte bedeutet Entscheidung zwischen Verweigerung und Annahme des Alterns


Fähigkeit zur Entscheidung gibt es unter Menschen in verschiedenen Graden. Wem nur ein Talent - moralischen Begabung gegeben ist, kann nicht handeln wie einer mit 5 Talenten. Überdies können den einen wie den anderen im Alter leibliche Schmerzen oder seelische Verwirrtheiten und Depressionen treffen, die jeden Akt der Freiheit unmöglich machen. Im Maße des ihm Möglichen muß freilich jeder Mensch darauf bedacht sein, daß er sich der Vollendung seiner ganz persönlichen Freiheitsgeschichte nicht fahrlässig oder gar bewußt verweigert. Er verweigert sich, wenn er sich lust- und kraftlos der Resignation überläßt oder wenn er in panischer Angst nur noch alles zusammenrafft, was ihm an Angeboten des Selbstgenusses noch verbleibt - unentwegtes Reisen, alkoholische Ausschweifungen, ruhelose Geschäftigkeit, erotische Wichtigtuereien. Simone de Beauvoir hat in ihrem großen Werk über das Altern nicht enden wollende Listen von Formen solcher Sinnverfehlung zusammengeschrieben. Sie führen allesamt nicht ins Freie, sondern in Verzweiflung, Depression und gar in Neigungen zur Selbstvernichtung.


Der Weg ins Freie öffnet sich nur in der Annahme des Alterns als letzter Möglichkeit zur Vollendung der Freiheitsgeschichte. Es ist die Aufgabe der Ethik, auch der theologischen Ethik, im offenen Diskurs Orientierungshilfen zu erarbeiten und einigermaßen konkrete Programme glückenden Altern unaufdringlich in das gesellschaftliche Gespräch einzubringen.


Die folgenden Überlegungen versuchen Altern zu verstehen als neue Identität mit sich selbst und als neues Engagement aus der gewonnenen Distanz und Gelassenheit.


III. Annahme des Alterns als neue Identität mit sich selbst


Ohne auf die zahlreichen Definitionsversuche von Freud bis Erikson und Habermas einzugehen, verstehen wir unter Identität den menschlichen Reifezustand, den man früher einer in sich ruhenden Persönlichkeit zugeschrieben hat, also einem Menschen, der seine ganze lebensgeschichtliche Entwicklung, Umwege und Irrwege eingerechnet, in einem umfassenden Sinnverständnis integriert, und zwar so, daß auch die noch ausstehende Lebenszeit daran teilhaben kann. Wir meinen also das einmalige und unverwechselbare Selbstsein eines Menschen, sein entschiedenes Bei-sich-selbst-Sein und Mit-sich-selbstgleich-Sein, und zwar durch alle Wandlungen hindurch; denn die Wandlungen sind es, die seine lebensgeschichtliche Entfaltung in Bewegung halten und zu ständiger produktiver Neuorientierung herausfordern. Kardinal Newman sagt es mit Nachdruck:


\"Der ist am meisten mit sich selbst identisch, der sich am meisten gewandelt hat.\"


Die Treue zur eigenen Identität ist ständig bedroht. Die innere Bedrohung setzt ein, wenn beim Blick in den Spiegel die ersten grauen Haare und die ersten gelben Flecke im Gesicht bemerkt werden. Man wird sich fremd in seiner sich verändernden Leiblichkeit. Von außen ist die Identität beim Alternden bedroht, wenn man ihm keinen \"Kredit auf Zukunft\" mehr einräumt,\' wenn man ihn nur noch zu den \"Rand- und Residual Existenzen der menschlichen Gesellschaft\" rechnet. (J. Amery konkretisiert es in seinem erschütternden Buch \"Über das Altern - Revolte und Resignation\" an beklemmenden Beispielen.)


Ohne das Einvernehmen mit der Endlichkeit gibt es für den alternden Menschen keine Identität. Es ist aber eine neue und andere Identität, die ihm aus seinen Erfahrungen zuwächst und die ihm seine Fremdheit gegenüber den Jungen stärker erfahren läßt als die Unterschiede der Jahre und der äußeren Selbstdarstellung. Die Zeit schreitet unerbittlich voran und bildet neue Lebensmuster aus. Der Alternde kann sie nur zur Kenntnis nehmen, er kann sich kritisch-produktiv mit ihnen auseinandersetzen und sich von ihnen anregen lassen, solange er sich von alledem nicht ins endgültige Abseits eines trotzigen Rückzugs abdrängen läßt. Aber er wird auf die Dauer kein allgemein anerkannter Zeitgenosse bleiben können. Die Zeit geht an ihm vorüber oder durch ihn hindurch, jedenfalls läßt sie ihn zurück, und plötzlich merkt er, daß er fast nur noch von hinten her auf sie zuspricht. -


Wir wollen versuchen, etliche wichtige Elemente altersspezifischer Identität namhaft zu machen.



(1). Ein ganzheitliches Lebenskonzept


Auch der alternde Mensch bleibt vielfältigen Impulsen ausgesetzt. Er muß darnach trachten, die zerstörerischen abzuwehren, die ihm lebensdienlichen aber zu bejahen und in einem umgreifenden Lebenskonzept zu integrieren, damit er frei atmen kann. Er darf nicht durch einen \"Randdruck vom Ende\" her moralisch unter Druck gesetzt werden. Er sollte vielmehr zu souveränem Umgang mit der noch ausstehenden Lebenszeit ermutigt werden. Wenn er mit sich ins Reine kommen soll, braucht er einen inneren Halt, einen Rahmen, in dem er sein immer noch von Zerstreuung bedrohtes Dasein im Maß des Möglichen konzentrieren kann. Nur so kann er ein letztes, vor seinem Gewissen gültiges Wort zu seinem Leben sprechen und dieses Wort über die immer noch gewährte Zeit hin einlösen. Allzuviele resignieren vor solchem Anspruch oder weisen ihn in zynischer Überheblichkeit als Fremdbestimmung zurück oder geben sich einfach damit zufrieden, gänzlich unreflektiert die endlich gewonnene \"Freiheit\" auszuleben.


Das hier angemahnte Lebenskonzept zielt nicht auf ein allgemeines sittliches Ideal, sondern auf das, was Thomas von Aquin mit der Formel von der \"veritas vitae\" gemeint hat: auf das wirkliche Gelingen der dem einzelnen aufgegebenen persönlichen Lebensgestalt. Diese seine Lebensgestalt kann der einzelne auch in Worte fassen, die sie ihm immer wieder vergegenwärtigen. Es können ganz allgemeine Worte sein, wie die des Apostels Paulus, der \"allen alles werden\" wollte; im Ernstfall werden solche vorgeformten Worte durch die konkrete Lebenswirklichkeit ohnehin ganz individuell ausgelegt. Es können hohe und sehr persönliche\' Worte sein, wie die des gelehrten Schriftstellers Ewald Wasmuth , der in Tübingen seine letzten Jahre nach der Befreiung aus einem Konzentrationslager verbrachte. In sein Buch \"Johannes oder der Mensch im Kosmos\" hat er \"die Wahrheit seines Lebens\" als Widmung hineingeschrieben:


\"Ich glaube an das Geheimnis des Stillen und des Schwachen. Ich glaube an die Kiesel aus der Schleuder Davids. Ich glaube an die Wurzeln des Steinbrech, die - so zart sie sind - die Felsen sprengen. Ich glaube an das Unausrechenbare der nur dem Guten dienenden und nichts außer ihm suchenden Handlung".


Wer Ewald Wasmuth gekannt hat, der weiß, wie sehr sein ganzer Lebensstil dieser Wahrheit entsprochen hat.


Auch \'Die unwürdige Greisin\' Bert Brechts wird immer wieder als Beispiel dafür genannt, wie ein alter Mensch durch ein neues Lebenskonzept endlich seine Identität mit sich selbst findet. Mit 72 Jahren wird sie endlich Witwe und kann zum ersten Mal im Leben tun, was sie will. Und sie nimmt sich in der Tat Zeit Mut und \"Freiheit\", alles zu tun, was ihr beliebt. Sie verschafft sich - zum späteren Entsetzen der Erben - eine Hypothek auf ihr Haus und bringt die letzten Jahre ihres Lebens unter dem Kopfschütteln ihrer Umgebung zu. Sie geht ins Kino und in anrüchige Lokale, ißt in teuren Restaurants und fährt mit einem Pferdegespann durch die Gegend, treibt sich gar noch mit einem beträchtlich jüngeren Flickschuster herum, trinkt mit ihm Rotwein und spielt mit dubiosen Personen Karten. Sie kümmert sich allerdings auch um ein debiles Mädchen.


Literaturinterpreten feiern ihren Mut, ihre lebenslange Entfremdung zu überwinden. Man kann gewiß der späten Protestlerin Originalität, Unbefangenheit und Liebenswürdigkeit nicht absprechen. Und überdies - welches pralle Leben, jahrzehntelang niedergehalten, vermag, plötzlich freigelassen, in ein paar Jahren zu edlen Formen finden. Aber es ist auch nicht die pure moralische Überheblichkeit zu fragen, ob Brechts Greisin vielleicht doch nur von einer Entfremdung in eine andere hinübergewechselt ist, die sich von der ersten nur dadurch unterscheidet, daß ihr Endfremdungscharakter durch eine bloße Halluzination von Freiheit verhüllt geblieben ist. Aber man darf nicht sicher sein, ob hinter dem so Fragenden der liebe Gott nicht ein wenig mit den Augen zwinkert. -


Wir werden es jedenfalls offen lassen, ob es zur Gewinnung eines umfassenden Lebenskonzepts so schwieriger ethischer Denkarbeit bedarf, wie sie hier zugemutet wird. Mancher braucht nur seinen Instinkt oder seine Intuition walten zu lassen. Andere, zu denen vielleicht auch wir selbst gehören, werden sich mit Anleihen aus dem mehr oder weniger tragenden und formenden allgemein menschlichen oder religiösen Ethos begnügen müssen und darum auch bescheiden und dankbar begnügen dürfen.


(2) Förderliche soziale Einbindung


Identität mit sich selbst erschöpft sich nicht in gewonnenem Selbstsein. Sie kann nicht bestehen und schon gar nicht gewonnen werden ohne verschiedenartige Zuwendungen zu anderen Menschen. Spätestens im Übergang zum Alter sollte wir darum eine Art Bestandsaufnahme unserer sozialen Bindungen versuchen.


Vielleicht sind unterwegs irgendwo zerbrochene Beziehungen liegen geblieben, deren Wunden längst so abgeheilt sind, daß sie nunmehr auch ausdrücklich befriedet werden könnten. Da und dort sind wichtige Beziehungen im Laufe der Zeit so ausgedörrt, daß sie nur durch beherztes Zugehen auf andere Menschen, die vielleicht schon der bisherige Umgang dafür empfiehlt, wieder Erquickung und Leben gewinnen. Vielleicht werden Freundschaften nicht hinreichend gepflegt und bewußt kultiviert. Da und dort wird erst beim Auszug der Kinder aus dem Haus deutlich, wie sehr eine Ehe verkümmert ist. Manche streben dann leicht und rasch in die unvergessene Dynamik der Anfänge zurück und vertrauen, durch keine Erfahrung belehrt, aufs neue blind der puren Automatik physischer oder psychischer Impulse.


Alterskrisen menschlicher Beziehungen bringen weithin nur zutage, daß zwei Menschen von der Lebensmitte an mit den unvermeidbaren Gewöhungseffekten nicht kreativ umgegangen sind.

Es kann nur Gewinn bringen, wenn auch gestandene Eheleute sich eingestehen, daß selbst im optimalen Fall die gegenseitige Erfüllung an Grenzen stößt. Niemand sollte sich zu gut sein, durch die Öffnung für anregende freundschaftliche Beziehungen seinem Leben neue Impulse zu vermitteln. Es gibt freilich auch altgewordene Ehen von faszinierender Anziehung und Ausstrahlung. Dies im einzelnen darzustellen, fehlt es hier freilich nicht nur an Zeit, sondern auch an Kompetenz.


Aber es soll wenigstens gesagt werden, daß theologische Ethik hier eine Gutmachung schuldet. Sie muß zu einer Einstellung und zu einem Handeln ermutigen, zu dem sie früher bestenfalls geschwiegen hat. Sie muß auch - selbst auf die Gefahr des Mißverständnisses hin - darauf verzichten, die Ehe nur von der Familie her zu begründen, schon deswegen, weil Ehe in der Regel ohne Familie beginnt und die Partner nach ihrer familiären Entfaltungsphase häufig noch einmal um den Aufbau einer neuen, eben einer altersspezifischen Identität bemüht sein müssen.


(3) Individuell angemessene Kultur der äußeren Selbstdarstellung


Unsere Leibhaftigkeit als die äußere Form, in der wir in der Welt gegenwärtig sind, ist keine Nebensache unseres Daseins. Die gilt nicht nur für unsere frühe Lebenszeit. Wenn wir älter werden, gewinnen wir den Eindruck und er wird nicht falsch sein -, daß die Erfahrung der Endlichkeit uns vorallem über die Realien schwindender Ansehnlichkeit und zunehmender Gebrechlichkeit unseres Leibes bewußt wird. Weil unser Leib aber das Medium unserer äußeren Selbstdarstellung ist, verkommen mit seiner schuldhaften Vernachlässigung seiner Pflege auch unser personales Selbst, unserer Würde vor anderen und die kultivierte Kommunikation mit ihnen. Pflege des Leibes betrifft nicht nur Reinlichkeit, sondern auch Gesundheit und, weil Leiblichkeit nicht mit der Haut endet, auch Kleidung und Wohnung und das ganze alltägliche Lebensumfeld. (J. Améry zeigt die daraus entstehenden Probleme in einem bezaubernden Kapitel am Beispiel des schwierigen Umgangs alter Damen mit der Mode.)

Wir wollen das Gemeinte paradigmatisch aufzeigen am Wohnen. Das Wohnen ist für unser Wohlbefinden und für unsere Identität mit uns selbst von größerer Bedeutung, als der flüchtige Blick wahrzunehmen vermag.


Unsere Wohnung ist der Ort unserer Geborgenheit und unseres Schutzes gegen elementare Naturereignisse ebenso wie gegen die mannigfachen Formen mitmenschlicher Zudringlichkeit und Aggressivität. Sie sichert uns gegen das lärmende Getue und gegen die Neugierde der Welt, die immer wieder in Intimität und Identität der persönlichen Lebensgewohnheiten einzudringen droht.


Die Wohnung ist weiterhin ein Realsymbol der Beständigkeit, in die das Umgetriebensein aus materieller Not oder einfach aufgrund der Anarchie des Herzens oder des Geistes sich immer wieder hineinreiten kann. Wohnung ist auch das Zeichen des Besitzenden, der sie so gestaltet, daß sie ohne seine sinnstiftende Präsenz leer und stumpf wirkt. Und schließlich ist sie Ort der Gastlichkeit, wo man Fremde beherbergt und Freunde aufnimmt, mit ihnen scherzt und trauert, wie es das Leben bringt, wo man in lockeren Gesprächen oder in gezieltem gemeinsamem Bemühen um Bildung und Orientierung für das Leben über \"Gott und die Welt\" spricht. - Dies alles muß man im Auge behalten, wenn man an die Probleme alter Menschen denkt. Viele werden gezwungen, in eine kleinere Wohnung umzuziehen, die Einladung einer Tochter oder eines Sohnes in ihr Haus anzunehmen oder in ein Alten- und Pflegeheim überzusiedeln. Bei allem Gewinn, den dies bringen mag, es haftet an einem solchen Wechsel der Charakter der Endgültigkeit, des Eintritts in die unerbittlich letzte Lebensphase.


Wir sehen also: Was immer dem alternden Menschen in den verschiedenen Bereichen seines äußeren Lebensstils auferlegt wird, er muß darauf bedacht sein, seine altersspezifische Identität zu finden.


IV Annahme des Alterns als neues Engagement

Obwohl auch dazu vieles zu sagen wäre, können wir uns hier leichter kurz fassen, weil es sich hier um vertrautere Dinge unseres Lebens handelt. Ein Großteil derer, die heute in unserem Land zwischen 58 und 65 Jahren in den Ruhestand treten, erfreut sich gesicherter materieller Verhältnisse sowie beachtlicher Gesundheit und Leistungsfähigkeit. Sie geraten allesamt leicht in Konflikt mit jenen moralischen Rigoristen, die in jeder Aktivität alter Menschen nur den Versuch sehen, vor den unerfüllten Anforderungen altersspezifischer Identitätsfindung sich selbst aus dem Wege zu gehen und in die Zerstreuung zu flüchten.



(1) Das anthropologische Fundament des Handelns



Dies muß durchaus nicht zutreffen. Schon mittelalterliche Ethik hat das Handeln beträchtlich aufzuwerten versucht. Seit Thomas von Aquin herrschte die Überzeugung, daß die Gesamtheit des geschaffenen Seins mit einer vitalen Intentionalität auf Entfaltung und Erfüllung ausgestattet ist. (Omne ens agen-do perficitur.) Alle Dinge sind nicht nur dazu da, daß sie sind, sondern daß sie alle Möglichkeiten entfalten und sich darin erfüllen.


\"In allem Geschaffenen wohnt ein unaustilgbarer Drang sich zu entfalten, eine naturgegebene Hinneigung, seine Anlagen im Handeln auszunutzen und durchzubilden". (E. Welty)


Goethe hat dies in seinen \"Maximen und Reflexionen\" auf das Altern angewandt:



\"Wenn man alt ist, muß man mehr tun, als da man jung war. Alt-werden heißt, selbst ein neues Geschäft antreten; alle Verhältnisse verändern sich, und man muß entweder zu handeln aufhören oder mit Willen und Bewußtsein das neue Rollenfach übernehmen\".


Tatsächlich findet man in der Literatur immer wieder Hinweise auf ungewöhnliche Leistungen alter Menschen. Heute sind gewiß im Alter ungleich stärkere Tätigkeitspotentiale vorhanden als früher.


Es ist im übrigen menschenverachtender Rigorismus zu verlangen, daß das Handeln ständig in ausdrücklicher ethischer Reflexion und gar in ausdrücklichem spirituellem Vollzug thematisiert wird. Es gibt eine Beziehung zum menschlichen Leben, in der Ethos und Spiritualität so selbstverständlich verinnerlicht sind, daß sie auf weite Strecken ohne angestrengte Ausdrücklichkeit auskommen. -


Dazu ein eindrucksvolles Beispiel:

Es gibt im Kaukasus ein Orchester, dessen rund 30 Mitglieder sämtlich über 100 Jahre alt sind. Sie arbeiten noch auf dem Feld, bauen Tabak an, reiten Pferde zu oder treiben sonst etwas, halten aber regelmäßig Proben und geben Konzerte. Pablo Casals (1973) hat von Astan Schlarba, dem Präsidenten des Orchesters, einen Brief bekommen, in dem der alte Spaßvogel mit ihm einen Scherz treibt. Es heiß da:

\"Lieber Maestro, ich habe die Freude, Sie im Auftrag des Georgisch Kaukasischen Orchesters einzuladen eines unserer Konzerte zu dirigieren. Sie werden der erste Musiker Ihres Alters sein, dem die Auszeichnung zuteil wird, unser Orchester zu leiten. Niemals in der Geschichte dieses Orchesters haben wir es einem Manne gestattet uns zu dirigieren, der weniger als 100 Jahre alt war. Aber wir haben von Ihrem Dirigententalent gehört und meinen in Ihrem Falle, unbeschadet Ihrer Jugend, eine Ausnahme machen zu wollen. Hochachtungsvoll Astan Schlarba, Präsident, 123 (!) Jahre alt.


Pablo Casals bemerkt dazu

"die Leistungsfähigkeit dieser Leute möge auf ihrer Konstitution, der Gunst des Klimas u.a. beruhen, aber doch wohl in hohem Maße einfach auf der Tatsache, daß sie noch arbeiten".


Und dann schreibt der Maestro von sich selbst:


\"Meine Arbeit ist mein Leben. Sich zur Ruhe setzen heißt für mich soviel wie sich zum Sterben anschicken ... Arbeit und das Interesse für Dinge, die Interesse verdienen, sind die besten Heilmittel gegen das Alter. Ich selbst habe die letzten 80 Jahre jeden Morgen auf die gleiche Weise begonnen, nicht etwa mechanisch, aus bloßer Routine, sondern weil es wesentlich ist für meinen Alltag. Ich gehe ans Klavier und spiele zwei Präludien von Bach. Anders kann ich es mir nicht vorstellen.

Es ist so etwas. wie ein Haussegen für mich; aber es bedeutet mir noch mehr: die immer neue Wiederentdeckung einer Welt, der anzugehören ich mich freue. Durchdrungen von dem Bewußtsein, hier dem Wunder des Lebens selbst zu begegnen, erlebe ich staunend das schier Unglaubliche, ein Mensch zu sein".


Es muß offensichtlich nicht sein, daß seelisches oder geistiges Altern mit dem biologischen Altern voll synchronisiert sind. Die lebensgeschichtliche Entwicklung kann auch gegenläufige Dynamiken beinhalten. Der eine bewältigt die darin liegende Spannung mit der scheinbar leichten Hand des erotisch oder charismatisch Hoch-Begabten, der andere muß sie auf seine Maße zurücknehmen und kann sie darin doch menschlich genau so, wenn auch weniger ansehnlich, bestehen.



(2) Konkrete Bereiche des Handelns für alte Menschen


Am leichtesten finden sich Beschäftigungen für künstlerisch, wissenschaftlich oder anderweitig kulturell tätige Menschen. Andere sind zufrieden mit dem Züchten von Brieftauben, dem Sammeln von Briefmarken oder der Pflege des Gartens. Wieder andere suchen ihre Erfüllung im Dienst am Mitmenschen bis hin zur Pflege von Kranken und zur Begleitung von Sterbenden. Wir wollen nicht noch weiteres nennen. Aber es sei noch gesagt: Wenn Handeln und vernünftige Zerstreuung ins Leere fuhren, wenn kein Gebet mehr greift, dann kann Mitmenschlichkeit, das heutige Wort für Nächstenliebe, zum wahren Therapeutikum werden.



Leo Tostoi sagt:


\"Gegen Zustände von Traurigkeit und Wehmut gibt es nur ein Mittel, jemanden zu dienen in einer ganz einfachen Weise, wie es sich gerade trifft.\"


Und wir fügen noch hinzu: Wenn einem die eigene Phantasie partout nicht auf die Sprünge hilft, mag es förderlich sein, an die in trüben Stunden eines altmodischen Religionsunterrichts auswendig gelernten \"Werke der Barmherzigkeit\" zu denken - an die sieben leiblichen Werke:


Hungrige speisen, Durstige tränken, Nackte bekleiden, Gefangene erlösen, Fremde beherbergen, Kranke besuchen, Tote begraben, -


und an die sieben geistigen oder geistlichen Werke:


Unwissende lehren, Sünder zurechtweisen, Zweifelden recht raten, Trauernde trösten, Beleidigern gerne verzeihen, Unangenehme geduldig ertragen, für Lebende und Tote Gott bitten. -


Man braucht nichts zu wissen von den Positionen, mit denen die Gerontologen sich zu unserem Problem äußern, von der Disengagement Theorie und der Aktivitätstheorie, von der Kontinuitäts - und der Kulminationshypothese. Wer mit sich selbst identisch ist, hat Distanz und Gelassenheit genug, um den Raum des freien Handelns im Maß des ihm Möglichen und des ihm wahrhaft Lebensdienlichen lebenslang behutsam, aber entschlossen auszuweiten.

 
 

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